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<10. Detlev und Christiane wohnen nebenan, und genau wie ihre Eltern mit meinen Eltern befreundet sind, bin ich mit ihnen befreundet. Wir gehen alle in eine Klasse. Ich lerne lesen. Hanni und Nanni, Dolly, Putzi, Bummi, Burg Schreckenstein. Ich esse gerne das weiße Fleisch vom Sonntagshühnchen, Erbsen aus der Dose und Apfelmus. Meine Omi hat eine kleine Truhe voller Schokolade, an die darf ich ran, wenn ich nachmittags bei ihr bin, wenn Mama arbeiten geht. Ich habe gefühlt eine Million Stofftiere, und Teddy schläft immer neben mir. Meine kleine Schwester ist da, ohne dass es mich stört oder mich freut. Sie ist halt da. Eines Tages gehe ich nach der Schule mit zu Nicole, deren Mutter ich vorlüge, dass meine Omi Bescheid weiß. Als ich Stunden später nach Hause komme, versohlt mir Omi mit einem Kochlöffel den Hintern. Ich lerne fahrradfahren und rollschuhlaufen. Ich klettere gerne auf die Trauerweide hinten im Garten, weil man mich dann nicht mehr sehen kann. Mein Lieblingsbaum ist die Birke neben der Trauerweide, aber auf die kann man nicht klettern. Ich lerne Akkordeonspielen, gehe zur musikalischen Früherziehung und zum Aquarellmalen. Auf meinem „Schreibtisch“, ein alter Terrassentisch, liegt eine Rolle Tapete, die ich vollmalen darf, bis Papa die Rolle ein Stück weiterzieht, damit ich weitermalen kann. Ich breche mir den kleinen Finger der linken Hand beim Ballspielen, und schaue völlig fasziniert der Röntgenaufnahme meiner Hand zu. Selbst als die Betäubungsspritze sich der Hand nähert, bestaune ich weiter meine Knochen. Auf dem Weg zur Schule laufe ich einmal bei Rot über die Ampel, und ein LKW kann gerade noch bremsen. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon irgendwas werden wollte.

<20. Ich komme aufs Gymnasium. Ich lerne Latein statt Französisch. Ich bin weiterhin mit Christiane befreundet. Ich lerne Anja kennen und bin eifersüchtig, wenn Anja mehr mit Christiane unternimmt als mit mir. Ich sage ihr das, was sie nicht versteht. Sie schenkt mir ihren Teddybär, und ich habe wegen ihr Liebeskummer, auch wenn ich das noch nicht so bezeichnen kann. Meine Mutter setzt mich mit 12 das erste Mal auf Diät. Ich beginne, mich an meine Lebensabschnitte in Gewicht zu erinnern anstatt in Jahreszahlen oder Ereignissen. Ich werde Dritte bei den Kreismeisterschaften im Judo und höre kurz vor der Grüngurtprüfung mit dem Sport auf, weil ich unseren neuen Gruppenleiter nicht mag. Ich werde 1,67 groß und wiege 56 Kilo. Ich lerne, dass es Jungs gibt, mit denen man einfach befreundet sein kann und dass es welche gibt, mit denen ich irgendwelche Sachen machen möchte, über die mich die BRAVO informiert. Meine Omi hat weiterhin ihre Schokoladentruhe, und sie kauft mir die BRAVO und MAD-Hefte. Ich trage weiße Adidas-Turnschuhe und habe einen grünen Benetton-Beutel. Ich trage außerdem die Klamotten meiner älteren Cousine auf und finde es fürchterlich. Ich bin verliebt in Carsten, Thomas, Markus, Dominik und Peter. Meine Schwester hat eher einen Freund als ich, und ich bin neidisch und traurig. Ich kriege mit 13 das erste Mal meine Tage. Meine erste Zigarette ist eine Camel ohne Filter. Als ich 16 bin, bekomme ich im Monat 13,50 Mark Taschengeld, was nicht mal für eine LP reicht. Omi versorgt mich mit Pink Floyd und den Stray Cats. Mit 17 lerne ich einen Jungen kennen, den ich mich nur traue anzusprechen, weil er dicker ist als ich, obwohl ich überhaupt nicht dick bin. Auf einer Party knutschen wir zu Shine on you crazy diamond 14 Minuten lang und sind danach neun Jahre zusammen. Er bringt mir Lungenzüge bei und ich rauche Benson & Hedges. Ich bemale meine Federmäppchen im Unterricht, bekomme Einsen in Deutsch und Englisch und Fünfen in Biologie und Physik. Die Chemiestunden verbringe ich damit, meine ersten drei Romane zu schreiben (Ponyhof, Jugendgang, große Liebe). Ich arbeite bei zwei Schülerzeitungen mit, werde Klassensprecherin und Schülersprecherin. Für den Filmclub der Schule mache ich einen Filmvorführerschein für 8- und 16-Millimeter-Projektoren. Ich wiederhole die 9. Klasse, sprühe mir jeden Morgen eine halbe Dose Haarlack in die Haare und lasse mir die Nase piercen, weil der Basser von Kajagoogoo auch einen Nasenring hat. Ich höre mit Akkordeon auf und fange mit Geigenunterricht an. Ich zeichne nicht mehr auf Tapeten, sondern auf stapelweise altem Geschäftspapier, das Papa aus dem Büro mitbringt. Ich zeichne Millionen von Menschen in seltsamen Klamotten. Ich stelle mir vor, Sängerin in einer Band zu sein. Ich erfinde meine Band, gebe den Jungs Namen und Eigenschaften, denke mir ihre Biografien aus, zeichne sie und verliebe mich in drei von den sechsen. Ich schreibe Songs in schlechtem Englisch, glaube daran, dass der dritte Weltkrieg vor der Tür steht, streiche mein Zimmer schwarz und spanne blaue Wollfäden durch den Raum, so dass sich alle bücken müssen, die in mein Zimmer möchten. Ich mache den Führerschein und kaufe mir eine grüne Ente. Mama will mir für jedes Kilo, das ich abnehme, 100 Mark zum Führerschein spendieren. Ich nehme kein einziges Gramm ab und wiege beim Abitur 69 Kilo. Ich will Modedesignerin werden.

<30. Ich lerne, dass man ein Schneiderpraktikum machen muss, wenn man Modedesign studieren will. Ich will nicht um 7 in einer Schneiderei sein, mache aber trotzdem meine Mappen zur Bewerbung an den Hochschulen fertig. In Hamburg und Bremen werde ich abgelehnt, in Hannover fragt man mich, ob ich nicht lieber Industriedesign studieren will und lehnt mich dann ab. Ich jobbe bei McDonald’s und höre irgendwelchen Halbwüchsigen zu, wie sie meine Figur mit der großen Mülltüte vergleichen, die ich gerade zum Shredder bringe. Ich immatrikuliere mich in Bremen für Deutsch und Geschichte für das höhere Lehramt und mache im ersten Semester ein Schulpraktikum in einer 7. Klasse, die sich überraschenderweise nicht für den Zauberlehrling interessiert. Ich bleibe immatrikuliert, gehe aber nicht mehr zur Uni, sondern verbringe die Tage essenderweise vor dem Fernseher und nehme in einem Jahr 25 Kilo zu. Die Mauer fällt. Meine Oma stirbt an Krebs. Meine Omi stirbt an Krebs. Mein Opa stirbt bei einem Autounfall. Ich bin meinem Freund dreimal untreu. Ich bin eifersüchtig auf eine Schulkameradin, mit der er viel Zeit verbringt und verbiete ihm, sie zu sehen. Er bricht den Kontakt zu ihr ab. Sie schreibt mir einen wütenden Brief, in dem sie mir meine Unsicherheit an den Kopf wirft und mir sagt, dass sie nichts von ihm will. Ich rufe sie an und lade sie zum Geburtstag meines Freundes ein. Wir sind zehn Jahre lang unzertrennlich. Ich reise nach Ägypten, China, Israel und in die USA. Ich fahre drei verschiedene Fiat Unos. Ich exmatrikuliere mich in Bremen und schreibe mich in Hannover für Geschichte und Germanistik ein. Ich halte es bei den Germanisten zwei Semester aus und wechsele zu Anglistik. Ich belege am liebsten Seminare zu Frauenthemen und die, in denen Filme geguckt werden. Ich bin insgesamt 24 Semester immatrikuliert, von denen ich gefühlt in fünf wirklich studiert habe. Ich kaufe einen PC. Ich arbeite bei drei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Ich fange an, im Kino zu jobben. Ich beginne mit dem Kartenabreißen und ende als Theaterleiterassistentin. Ich arbeite ohne Vorführerschein an 35-Millimeter-Projektoren. Ich bin verliebt in Dirk und Martin. Mein Freund studiert in Leipzig, und ich hasse unsere Wochenendbeziehung. Als ich 26 bin, trennen wir uns im Guten. Eine Woche später hat er eine neue Freundin. Ich fange an, Wodka zu trinken und Sekt und Martini. Ich rauche Marlboro und nehme 15 Kilo ab. Ich ziehe von zuhause aus und lasse mir von meinen Eltern eine Eigentumswohnung kaufen, die ich komplett zumülle. Ich bewerbe mich bei den Filmhochschulen in München, Ludwigsburg und Berlin für den Studiengang Drehbuch. Ich werde in Berlin zur Prüfung eingeladen, die ich knapp verhaue. Ich lerne Karl kennen und verliebe mich in ihn. Ich verliebe mich auch in Kai, Matthias, Volker, Martin und Jochen. Ich lasse mir den Oberarm tätowieren und die Zunge piercen. Ich färbe meine Haare blau und gehe kellnern, nachdem mich alle Filmhochschulen abgelehnt haben. Ich mache den Motorradführerschein und kaufe mir eine 500er Virago. Ich merke, dass ich Kinder nicht leiden kann. Ich entdecke das Internet und verliebe mich in Devin aus South Carolina, mit dem ich monatelang E-Mail-Kontakt habe. Wir telefonieren, tauschen Bilder aus und treffen uns schließlich in Budapest, wo wir uns abgrundtief fürchterlich finden, aber prima Sex haben. Karl sagt „You’re only fat because it pisses off your Mum.“ Ich trinke viel zu viel Wein und werde immer trauriger. Ich beschimpfe meine Freunde, die Partner haben, dass mir ihr Pärchenscheiß auf den Sack geht. Meine Freunde waschen mir den Kopf und schleifen mich zur Therapie. Der Therapeut hat ein Ledersofa und redet lieber über sich als über mich. Ich lasse mir die Unterlippe piercen, das Dekollete und die Augenbraue. Ich entrümpele meine Wohnung und schleppe 30 Müllsäcke auf die Deponie. Papa fällt meine Birke im Garten. Ich ziehe nach Hamburg und mache ein Textpraktikum in einer Werbeagentur. Karl stirbt bei einem Autounfall.

<40. Ich bin Juniortexterin in einer Werbeagentur. Eines Tages gehe ich aus einem Meeting aufs Klo und kann eine halbe Stunde nicht mehr aufhören zu weinen. Ich mache einen Termin bei der Therapeutin, an deren Praxisschild ich jeden Morgen auf dem Weg zur U-Bahn vorbeilaufe. In der Therapie treffe ich meine imaginäre Band von früher wieder und fühle mich sicher. Ich stelle meine Ernährung um und fange an Sport zu treiben. Meine jahrelangen Rückenschmerzen werden immer schlimmer. Eines Tages ist mein linkes Bein nicht mehr da, und ich muss operiert werden. Danach funktioniert mein rechter Fuß nicht mehr, und ich habe viel Gefühl in der unteren Körperregion verloren. Ich bin Texterin in einer anderen Agentur, und auf der Fahrt zur Weihnachtsfeier, während um mich herum alle Spaß haben, fange ich an zu heulen. Ich besuche meine Therapeutin ein zweites Mal. Ich fange an zu bloggen. Ich nehme 25 Kilo ab und wieder zu. Ich bin verliebt in Alexander, Gerhard und Tobias. Ich weiß, dass ich nie wieder eine Beziehung haben werde und arrangiere mich damit. Sobald ich mich damit arrangiert habe, lerne ich den Kerl kennen. Ich fahre einen BMW. Ich entferne alle Piercings außer dem Nasenring und lasse meinen Nacken tätowieren. Ich verkaufe mein Motorrad. Ich entwickle mich zum Partyraucher, und drei Schachteln Zigaretten halten ein ganzes Jahr, weil ich nie auf Partys gehe. Ich gucke Filme und Serien nur noch im Original. Ich spiele kein Instrument mehr. Ich beginne dreimal damit, Französisch zu lernen. Ich zeichne nicht mehr. Ich bin Texterin. Ich bin Seniortexterin. Ich bin Head of Copy. Ich mache mich selbständig. Ich bin dick und ahne, dass ich das auch bleiben werde. Ich werde Patentante der ersten Tochter meines ersten Freundes. Ich habe in allen Lebensbereichen das Entrümpeln beibehalten. Ich bin gern zuhause. Ich kaufe zwei Macs, einen iPod und ein iPhone. Ich verreise gerne. Ich rege mich über laute Nachbarn auf. Ich trenne keinen Müll. Ich fahre nicht mehr schwarz. Ich bin wieder in die Kirche eingetreten, aus der ich mit 18 ausgetreten bin. Mein Blog war in einem Museum zu sehen, und Texte von mir sind in einem Buch veröffentlich worden (kein Ponyhof, keine Jugendgang, ein bisschen große Liebe). Ich denke oft an die Filmhochschulen und an Karl. Ich habe Christiane neulich bei unserer Silbernen Konfirmation wiedergesehen und mich mit dem Satz „Wir sehen uns in 25 Jahren“ verabschiedet.

<50 Seit heute in Arbeit.