Man on Wire


© Magnolia Pictures

Man on Wire (Man on Wire – Der Drahtseilakt, UK/USA 2008, 94 min)

Mitwirkende: Philippe Petit, Jean-Louis Blondeau, Annie Allix, Barry Greenhouse, Jean François Heckel, Alan Welner, David Forman
Musik: J. Ralph
Kamera: Igor Martinovic
Regie: James Marsh

Trailer

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Manche Geschichten sind zu irrsinnig, als dass sie sich jemand ausdenken könnte. So auch die von Man on Wire: Der Drahtseilartist Philippe Petit entdeckt in einer Zeitschrift im Wartezimmer seines Zahnarztes einen Bericht über die Bauarbeiten am World Trade Center in New York, das einmal das höchste Gebäude der Welt sein soll. Sobald er die Skizzen gesehen hat, ist ihm klar: Wenn die Türme stehen, spanne ich ein Drahtseil zwischen ihnen und laufe drüber. 450 Meter über der Erde, auf dem Dach der Welt. Wozu sind Türme sonst da?

Der Film ist eine Mischung aus Spielszenen und Originalaufnahmen aus den 70er Jahren, die die Gruppe um Petit von sich selbst angefertigt hat. Wie Petit das Gehen auf dem Seil beherrscht, wie er sich sogar darauf hinlegen kann, knien, wippen, winken. Und was er da gerade auf einer grünen Wiese in Frankreich macht, knapp drei Meter über dem Boden, wiederholt er später, am 7. August 1974, eines Morgens in New York. Unwesentlich höher, aber mit der gleichen Konzentration – und dem gleichen seligen Gesichtsausdruck. Den durfte seine Umwelt bereits vor dem weltberühmten Akt in Amerika kennenlernen: Erstmals spannten seine Freunde und er heimlich ein Seil zwischen den Türmen der Notre Dame, auf dem er minutenlang spazierenging, bis er sich anstandslos von der Polizei abführen ließ. Der Film erzählt auch von seiner Motivation: Gibt es einen schöneren Anblick als jemand, der zwischen zwei Türmen entlangläuft?

Genau dieses Motiv zieht sich auch durch die unglaublich spannend aufbereitete Story rund um das World Trade Center. Petit erzählt sie uns selbst, daher wissen wir einerseits, dass er es geschafft hat, seinen Traum umzusetzen, und wir wissen auch, dass er da lebend wieder runtergekommen ist. Trotzdem hält man dauernd den Atem an, weil das Ganze wie ein Krimi inszeniert ist. Vor allem bei den Szenen kurz vor dem coup, wie die Gruppe ihr Vorhaben nennt, in denen sich die Wachleute nachts vergewissern, dass auch niemand mehr im fast vollendeten Trade Center ist, während die vier Männer – zwei im Nord-, zwei im Südturm – sich mehr oder weniger geschickt eingeschleust und sich nun versteckt haben, um einen Pfeil von einem Turm zum anderen zu schießen, an dem eine Angelleine hängt. An der ein Seil hängt. An dem das Drahtseil hängt. Und schließlich müssen noch vier weitere Seile gespannt werden, die das Hauptseil davor bewahren, sich in sich selbst zu drehen. Wie wird das Wetter? Wie fühlt sich Petit nach der stundenlangen Schufterei, im Dunkeln und möglichst leise ein 60 Meter langes Seil zwischen zwei Türme zu spannen, einen knappen halben Kilometer über der Erde? Und hier kommt wieder das Motiv, und ich habe im Kino gesessen und angefangen zu weinen, vor Glück, vor Rührung, vor Anspannung, als ich einen der Freunde über Philippe sprechen hörte: wie er die ersten vorsichtigen Schritte machte … und wie dann auf einmal der Moment da war, an dem klar war, das Seil ist sicher, das Wetter ist gut, alles ist in Ordnung, und Philippe geht draußen einfach mal 45 Minuten auf einem Seil spazieren, legt sich hin, spricht mit einer Möwe, winkt den winzigkleinen Menschen weit da unten zu und weiß: Alles ist gut. Gibt es einen schöneren Anblick als jemand, der zwischen zwei Türmen entlangläuft?

Der Film macht diesen absolut einzigartigen Moment sehr greifbar, holt etwas, das vor 35 Jahren passiert ist, nochmal ganz nah heran, und obwohl man weiß, was passiert ist, schüttelt man nur staunend den Kopf über diesen Mann, der einfach etwas Einmaliges schaffen wollte. Das Staunen und die Freude mit Petit ist allerdings nicht das einzige, was der Film transportiert. Er zeigt auch, wie sehr sich die Gruppe dem Traum eines Einzelnen unterordnen musste und wie sich die Dynamik zwischen den Beteiligten ändert.

Dass der erwähnte einzigartige Moment nicht wiederholbar ist, liegt natürlich nicht nur an Petit, sondern auch an der Tatsache, dass die Zwillingstürme nicht mehr stehen. Seltsamerweise vergisst man das irgendwann; anfangs gibt es Originalmaterial von den Bauarbeiten zu sehen, und es hat sich sehr schmerzhaft angefühlt, die charakteristischen Fassadenteile zu sehen, wie sie neu und stolz in die Höhe gehievt werden, weil wir inzwischen wissen, wie sie wieder zur Erde zurückgekehrt sind. Und die Grube, in der das Fundament gelegt wird, sieht Ground Zero von 2001 gespenstisch ähnlich. Aber diese Gedanken schieben sich irgendwann in den Hinterkopf und man folgt wieder dem irrsinnigen Plan, auf dem Dach der Welt zu tanzen. Vielleicht vergisst man es auch irgendwann, weil inzwischen ein anderer Ort das Dach der Welt geworden ist. Was man aber nicht vergisst, ist der Anblick des lächelnden Mannes im Nebel, schlicht in schwarz gekleidet auf dem Seil über der Tiefe. Und seine Motivation: jeden Tag als Chance zu begreifen. Jeden Tag am Abgrund zu leben. Jeden Tag Schönheit zu schaffen. Und jeden Tag einen unvergesslichen Moment zu finden. Petit hat seinen auf dem Drahtseil gefunden. Man on Wire hat ihn mir geschenkt.