Was schön war, Sonntag, 21. Januar 2018 – „Fruitarian“
Schon am Freitag begann ich das achte Kapitel im Ulysses, las es aber nicht fertig, das kam erst gestern, und es ist bisher mein liebstes Kapitel gewesen. Dabei grinste ich über einen Absatz, der sich mit „Du bist, was du isst“ beschäftigt. Das Buch wurde 1922 veröffentlicht, nur zu Erinnerung.
„His eyes followed the high figure in homespun, beard and bicycle, a listening woman at his side. Coming from the vegetarian. Only weggebobbles and fruit. Don’t eat a beefsteak. If you do the eyes of that cow will pursue you through all eternity. They say it’s healthier. Windandwatery though. Tried it. Keep you on the run all day. Bad as a bloater. Dreams all night. Why do they call that thing they gave me nutsteak? Nutarians. Fruitarians. To give you the idea you are eating rumpsteak. Absurd. Salty too. They cook in soda. Keep you sitting by the tap all night.
Her stockings are loose over her ankles. I detest that: so tasteless. Those literary etherial people they are all. Dreamy, cloudy, symbolistic. Esthetes they are. I wouldn’t be surprised if it was that kind of food you see produces the like waves of the brain the poetical. For example one of those policemen sweating Irish stew into their shirts you couldn’t squeeze a line of poetry out of him. Don’t know what poetry is even. Must be in a certain mood.“
Die Idee, dass man durch Ernährung einen besonderen Geisteszustand erreichen könnte. Die Idee, dass Menschen, die sich fleischhaltig ernähren, kulturell nicht so bewandert wären. Oder die heutige Variante: dass man ein besserer Mensch ist, wenn man a isst und b nicht – oder umgekehrt oder mit Ergänzung durch x. Ich musste an Ernährungsratgeber denken, die sich in den letzten Jahrzehnten gerne mal geändert haben, an Ernährungspyramiden oder -teller oder welche Diagramme man sonst noch basteln kann. Ich musste an Instagramstreams denken voller Buddhabowls, die ich gerne weiter „Schüsseln mit Zeug drin“ nenne, oder die Hashtags zu #cleaneating, die so dermaßen voller Distinktionsbedürfnis und/oder Fettpanik stecken, dass ich die Posterinnen (meist sind es Damen) in den Arm nehmen möchte. Oder sie sanft, aber bestimmt schütteln. Ich musste an meine eigene Essgeschichte denken, in der Nahrung gut 30 Jahre lang eben das nicht mehr war, sondern eine Strafe, eine Sünde, etwas Verbotenes, etwas Schlimmes, selten etwas Gutes oder Freudvolles. Und ich musste an die letzten Jahre denken, in denen ich all das über Bord werfen konnte und Genießen gelernt habe.
Ich erfreue mich an Kunstwerken, an Büchern, an Musik, an Rumlungern und Fußball, aber es ist heute, und damit hätte ich vor zehn Jahren nie gerechnet, Essen und Bewegung, die mich am glücklichsten machen. Bewegung, die mir Spaß macht und bei der es scheißegal ist, wieviele Kalorien sie verbrennt. Bewegung, bei der ich merke, was mein dicker Körper alles kann und wie gut er sich anfühlt, nicht die Bewegung, bei der ich in irgendwas reinarbeiten muss oder Schmerzen ignorieren soll, überhaupt: Arbeit am Körper, geh mir weg. Ich habe lieber Freude am Körper und wenn das bedeutet, zu gehen, radzufahren oder im Schneckentempo ein Stündchen durch die Gegend zu schlendern, dann reicht mir das.
Und Essen. Oh du mein Essen. Die erste Nase vom frisch entkorkten (oder aufgeschraubten) Wein. Käse in allen Variationen. Die ersten Erdbeeren im Sommer. Kleine Kartoffeln in Butter mit Salz. Überhaupt Salz! Das musste ich auch erst lernen, das zu dosieren und nicht nur so eine Alibiprise über alles zu hauen. Frischer Pfeffer. Ein medium gebratenes Steak, schön ausgeruht. Selbstgemachtes Pesto. Der Duft, wenn man Zwiebeln anbrät. Ein simpler Rührkuchen, so gerade abgekühlt. Selbstgebackenes Brot (wieder mit Butter und Salz, es geht überhaupt alles mit Butter und Salz). Erbsen aus der Schale pulen. Die Freude, einen elastisch-weichen Hefeteig zu kneten. Immer besser und präziser mit Messern umgehen zu können. Suppen passieren, Torten dekorieren, Gemüse dämpfen. Salate zubereiten, die nicht nur kalorienlos vor sich hindarben, sondern mit Nüssen, Beeren, verschiedenen Blättern und Kräutern, fetter Avocado und einem ordentlichen Dressing aufgepeppt werden. Senf! Tee! Whisky! Karamell! Spargel, Kürbis, grüne Bohnen. Zitronen! Weintrauben, Blaubeeren, Johannisbeeren, Himbeeren. Und natürlich Schokolade, der ewige Glücklichmacher.
Immer wenn ich in traurigen Momenten auf die alte Lüge reinfalle „Hey, wenn ich dünner wäre, wäre ich glücklicher, wenn ich disziplinierter wäre, wäre ich besser“, fällt mir auf, dass ich gar nicht unglücklich und undiszipliniert bin. Dass ich mein Studium nicht besser gemacht hätte, wenn die Zahl auf der Waage kleiner gewesen wäre, dass ich meine Beziehung nicht anders gestalten würde, wenn ich eine andere Kleidergröße hätte und dass ich nicht besser schreiben könnte, wenn ich weniger essen würde. Vermutlich eher das Gegenteil, weil ich kein anderes Thema mehr hätte als mir die verdammte Nahrung so einzuteilen, dass ich in einem bestimmten Rahmen bleibe. Ich weiß, wie es mir ging zu den Zeiten, in denen ich abgenommen habe, auch wenn das nicht Diät hieß, sondern Ernährungsumstellung blablabla. Ich habe in meinem Job funktioniert und vermutlich auch im Zwischenmenschlichen, aber wenn ich nicht gerade mit Arbeiten beschäftigt war, habe ich über Essen nachgedacht, den ganzen verdammten langen Tag, was darf ich essen, was darf ich alles nicht essen, wieviel Sport muss ich noch machen, um eine Scheibe Käse mehr aufs Brot legen zu dürfen. Ich habe nie nicht an Essen denken können und es kann mir niemand mehr erzählen, dass das nicht essgestört ist.
Heute denke ich an Essen, wenn ich hungrig bin. (Oder traurig, das geht anscheinend nicht mehr weg.) Ich esse, was ich möchte und nicht, was ich darf. Ich kann vermutlich niemandem klarmachen, was für eine unglaubliche Veränderung das neue Verhältnis zum Essen und zu meinem Körper in meinem Leben war. Aber eigentlich reicht es ja, wenn ich das weiß. Und ich kurz glücklich daran denke, wenn mich ein Buch zufällig auf das Thema stößt.