Tagebuch, Sonntag, 6. Mai 2018 – Lesetag (Bloms „Die zerrissenen Jahre“)
Keine Lust auf Sport gehabt, keine Lust auf Kochen gehabt. Ausgeschlafen, über den Tag Reste der Bohnensuppe vom Samstag verspeist (saure Sahne rules!), zwischendurch Schokolade. Einen Liter Cold Brew weggeext. Ansonsten gelesen: das Internet, die Reste der wöchentlichen FAZ (Wirtschaft, Sport) und endlich Philipp Bloms Die zerrissenen Jahre: 1918–1938 beendet. „Endlich“ nicht, weil das Buch so doof ist, ganz im Gegenteil, sondern weil es so lang und spannend ist und ich mir endlich mal die Zeit genommen habe, es konzentriert zu lesen und nicht nur in Bussen und Zügen oder zehn Minuten vor dem Einschlafen. (Ich werde neuerdings sehr schnell beim Lesen im Bett müde und schaffe gar nichts mehr.)
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Beim Perlentaucher stehen vier Rezensionsnotizen, auf die verweise ich euch mal schnell, die fassen nämlich alles prima zusammen. Ich zitiere aus der FAZ, denn dieser Ausschnitt macht schnell klar, warum ich das Buch so mochte, das sich chronologisch von 1918 bis 1938 vorarbeitet, sich aber trotzdem nie wie ein nacherzählter Zeitstrahl anfühlt:
„Blom beschreibt die Diktatur des Dichters und Abenteurers Gabriele D’Annunzio in der Stadt Fiume im Jahr 1919, die blutige Niederschlagung des Matrosenaufstandes in Kronstadt im Jahr 1921 und die kommunistischen Arbeiterrevolten in Deutschland, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linken Kampfbünden und der Polizei im Wien des Jahres 1927 und die Aktionen des amerikanischen Ku-Klux-Klan. Die Rassisten konnten nicht verwinden, dass Zehntausende schwarze Soldaten in Europa gewesen und den Ideen der Gleichberechtigung begegnet waren. Im Schützengraben hatte es keine Klassen- und keine Rassenunterschiede gegeben. Im Angesicht des Todes waren alle gleich. Und nun warf man den schwarzen Soldaten vor, Träger bolschewistischer Ideen und eine Gefahr für die amerikanische Demokratie zu sein.
In Deutschland erschien Oswald Spenglers “Der Untergang des Abendlandes”, dessen kulturpessimistische Sicht auf die Welt weite Verbreitung fand. In der Kunst setzten sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges neue Formen des Ausdrucks durch, die das Sehen und Lesen revolutionierten und die Welt auf den Kopf stellten. Der Kubismus und der Dadaismus wurden in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges geboren, die Dadaisten fassten die Sinnlosigkeit des Daseins in sinnlose Worte. Und auch das Kino beschritt nun neue Wege. Fritz Langs Kinofilm “Metropolis” war ein Versuch, den Menschen als Gefangenen von Technik und Material zu verstehen, die Linien der Bauhausarchitekten waren Repräsentationen einer Moderne, die mit sich versöhnt war.
In der Wissenschaft kamen Ideen ins Spiel, die für gewiss gehaltene Wahrheiten in Frage stellten: Charles Darwin und Friedrich Nietzsche wurden zu Idolen, die Eugenik, Werner Heisenbergs neue Physik revolutionierten die Sicht auf die Welt. […] Ãœberall, wo scheinbar gesicherte Erkenntnisse in Frage gestellt wurden, formierte sich Widerstand: die “deutsche Physik”, die den Relativismus als Werk jüdischer Zersetzung diskreditierte, und bibeltreue Christen in den Vereinigten Staaten, die gegen Darwins Evolutionstheorie Einspruch erhoben.“
Jedem Jahr wird ein Ereignis zugeordnet, an das sich andere anschließen, manche ort- oder zeitgebunden, andere eher assoziativ. Es fühlte sich nicht wie eine der üblichen Nacherzählungen von Geschichte an, sondern wie viele Schlaglichter, die zusammen ein großes, widersprüchliches Bild ergeben. Und das in einer lesbaren Sprache ohne viel Fachchinesisch. Nicht dass ich damit nicht inzwischen auch klarkomme, aber man merkt dem Buch schon an, dass es für den Markt geschrieben wurde und nicht für die Historikerkolleg*innen, was nicht das Schlechteste ist.
In einigen der Perlentaucher-Rezensionen wird erwähnt, dass das Buch nichts Neues erzählt, sondern Altbekanntes neu verbindet. Das mag für die Rezensierenden gelten – ich habe durchaus viel Neues mitbekommen. Das fing schon im ersten Kapitel zum Jahr 1918 an. Natürlich waren mir die Soldaten mit shell-shock bekannt oder das Aufeinandertreffen von Menschen, die im 19. Jahrhundert aufgewachsen waren und einen dementsprechendne Krieg führen wollten (mit traditionellen Ehrvorstellungen und der Idee des direkten Kampfes Mann gegen Mann usw.), aber nun mit modernster Maschinerie des 20. konfrontiert waren. Ich hatte aber noch nie so plastische Schilderungen davon gelesen, wie sich ein Schlachfeld in Frankreich angefühlt haben muss.
„Der technologische Fortschritt brachte es mit sich, dass Artilleriegeschütze ihre Geschosse, von denen einige mehr als hundert Kilo wogen, über viele Kilometer zielgenau feuern konnten und so Tod und Verstümmelung in Form von Bomben, Schrapnellen und Gas anonym und gesichtslos in die Schützengräben trugen. Für die Soldaten wurde jede Minute ein zermürbend monotones Warten auf den ferngesteuerten Tod. Auf deutscher Seite, in Schützengräben, die immer wieder den Neid der Soldaten auf der anderen Seite hervorriefen, starben zwei Drittel aller Soldaten durch Bombardierung und nicht bei Angriffen. Bei den britischen und französischen Einheiten waren es sogar drei Viertel.
Im Gegensatz dazu starben nur ein Prozent der Soldaten im Nahkampf mit Handfeuerwaffen und Bajonetten […] Die meisten Soldaten starben, ohne je einen Feind auch nur gesehen zu haben. […]
Die Soldaten auf beiden Seiten erfuhren diese mechanische Apokalypse als einen tiefen Verrat an ihrem Mut und ihrem Opferwillen. Ihr Einsatz, ihr Mut, war nichts im Vergleich zu dem industrialisierten Schlachten im Schlamm, in dem ihre Körper zum Rohstoff des Todes wurden, fast nicht zu unterscheiden von dem allgegenwärtigen graubraunen Dreck, der von Granaten und Bomben so oft aufgerührt und beschossen worden war, dass er sich in Schleim verwandelt hatte, der nach Verwesung und Exkrementen roch und Stiefel und sogar ganze Körper wie ein gärender Sumpf einfach verschluckte.“
(Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938, München 2016, S. 42/43.)
In diesem Zusammenhang: Es gibt mehrere Fotoprojekte, die sich der noch heute als unbewohnbar geltenden roten Zone in Frankreich widmen, via Vorspeisenplatte.
Ganz anderes Thema: die Wissenschaft. Auch hier sah ich Zusammenhänge, die ich vorher nicht auf dem Schirm hatte. In einem Kapitel beschäftigt sich Blom gleichzeitig mit dem unendlich großen Weltall – Hubbles Entdeckung von 1923, dass unsere Milchstraße nicht das ganze Universum ist – und den winzigen Teilchen von Atomen: Heisenbergs Unschärferelation, die gleichzeitig jahrhundertealte Gewissheiten ankratzte, nämlich dass alles festleg- und beschreibbar ist. Die Unschärferelation besagt, dass „das Herz der Natur […] radikale Unsicherheit“ sei, „Massepartikel könnten gleichzeitig zwei einander widersprechende Eigenschaften haben, sie hätten keine feste Identität, und ihr Verhalten richte sich nicht nach strikten Gesetzen, sondern nach Wahrscheinlichkeiten. Die neue Physik lehrte, dass es keine absoluten Gesetze gab, sondern lediglich statistische Erwartungen, die nur oberflächlich wie Gesetze wirkten.“ (S. 156) Dass Blom diese Erkentnisse mit der nervösen Zeit verknüpft, in der sie stattgefunden haben, kam mir zwar ein bisschen an den Haaren herbeigezogen vor, passt aber natürlich schön ins Buchkonzept. Nebenbei las ich wieder etwas von der „deutschen Physik“, von der mir F., der Physiker, schon mal berichtet hatte.
Natürlich kam auch die Kunst vor, Dada, Metropolis, die Surrealisten, Jazz, Der blaue Engel. Kannte ich alles, wurde mir hier aber im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen clever präsentiert.
Für mich spannend waren vor allem die Kapitel, die sich nicht oder nicht ausschließlich mit Deutschland beschäftigten. So hatte ich noch nie ernsthaft über Österreich nachgedacht außer bei Sissi-Filmen (sorry, Österreich) und bekam hier ein kurzes Psychogramm, bei dem Blom den Justizpalastbrand in Wien 1927 als Aufhänger nutzte:
„Die Ursprünge des Konflikts lagen im Zusammenbruch des Habsburgerreichs nach der Niederlage der Mittelmächte zehn Jahre zuvor. Bis 1918 hatte Österreich-Ungarn etwa zwanzig Prozent des europäischen Territoriums umfasst, von den tiefen Wäldern Transsylvaniens bis zur Schweizer Grenze, vom nördlichen Böhmen, unweit von Dresden, bis zur Adriaküste und nach Montenegro. Der größte Teil dieses Reiches war ländlich geprägt und stand wirtschaftlich noch mitten im 19. Jahrhundert. […]
Die Kultur des Habsburgerreichs war so facettenreich wie die unterschiedlichen Gruppen, die zu ihr beitrugen, und in jedem der kulturellen Zentren koexistierten eine Vielzahl von Sprachen, Religionen und kulturellen Praktiken, die einander durchdrangen, lebten Menschen unterschiedlicher geographischer Herkunft, historischer Identität und politischer Zugehörigkeit, die miteinander einen enormen kulturellen Reichtum schufen. […]
Als das Habsburgerreich nach Kriegsende aufgelöst wurde, standen die neuen Länder nicht nur wirtschaftlich vor enormen Herausforderungen. Besonders für Österreich war dieser Neuanfang ein Alptraum, denn es hatte im engeren Sinne noch nie ein Land namens Österreich gegeben. Der Staat erstreckte sich über die mehrheitlich deutsch sprechenden Fürstentümer und Provinzen im Westen des ehemaligen Reiches und umfasste nur zwölf Prozent von dessen früherer Landmasse. Den Zugang zu den reichen Kohle- und Stahlvorkommen Schlesiens hatte er an die ebenfalls neu geschaffene Tschechoslowakei verloren, der Brotkorb des Reiches lag jetzt in Ungarn, die Häfen am Mittelmeer in Italien und Kroatien. Übrig geblieben war die „Erste Republik“, war ein dünnbesiedeltes Land zwischen Alpen und der beginnenden Puszta mit wenig Industrie und ohne historische Identität, ein Land, dessen Hauptstadt, Wien, für ein europäisches Reich gebaut worden war, aber über kein Reich mehr herrschte.“ (S. 245–247)
Am letzten Satz wird auch das einzige Manko des Buchs klar: Ab und zu ein strengeres Korrektorat und 1000 Kommata weniger hätten dem Ding ganz gut getan.
Weitere Kapitel, die für mich aufschlussreich waren, behandelten die Wanderungsbewegung der Okies aus der amerikanischen dust bowl, die Hungersnot in der Ukraine oder den Spanischen Bürgerkrieg, in dessen Zeitraum die Bombardierung von Guernica fiel. Nebenbei lernte ich viel über das Verschwinden des britischen Klassensystems durch die Romanfigur des Reginald Jeeves (den kannte ich wirklich noch nicht) und dass Ivrit, das moderne Hebräisch, eine geplante Sprache war als Weiterentwicklung der Sakralsprache.
Wie gesagt, viel wusste ich schon, einiges aber noch nicht, und hier bekam ich alles als großes weltpolitisches Panorama aufgeschlüsselt und in neue Zusammenhänge gesetzt auf dem Silbertablett serviert. Clevere Themenwahl, lesbar geschrieben, viele Bilder. Das Buch lege ich euch gerne ans Herz.