Tagebuch Sonntag, 28. Oktober 2018 – „Ex Libris“
Gestern war für mich seit ewigen Zeiten mal wieder Kinotag. Um kurz nach 11 Uhr saß ich in den City-Kinos und schaute mir Ex Libris an, einen Dokumentarfilm über die New York Public Library (Trailer). Das Ding dauert fiese dreieinhalb Stunden, aber ich fand, das war gut verbrachte Zeit.
Bei mir hatte der Film von vornherein gewonnen, weil ich ein Fan von Bibliotheken bin. Ich kenne allerdings nur die alte Gemeindebibliothek, die ich als Kind leergelesen habe, und seit ein paar Jahren die vielen Unibibliotheken bzw. die Stabi, in denen ich zu wissenschaftlichen Zwecken sitze. Was die NYPL leistet, hat mich sehr oft überrascht. Ich wusste nicht, dass es dort Jobmessen gibt, Tanzstunden, Lesezirkel, Poetry Slams und Konzerte. Der Film kommt ohne jeden Kommentar aus, er zeigt einfach nur die überbordende Vielfalt, die die Bibliothek und ihre vielen Zweigstellen anbieten – und vor allem die Menschen, die all das benutzen. Im Trailer wird es angesprochen: „Viele Menschen glauben, Bibliotheken seien nur Lagerräume für Bücher.“ Das sind sie anscheinend nicht, obwohl ich schon sehr darüber gestolpert bin, dass man extrem selten Menschen Bücher lesen sieht, womit ich gerechnet hatte. Stattdessen sitzen Menschen vor Laptops, Tablets und Smartphones, vor Mikrofiche-Geräten, in Archiven, blättern Bilderberge durch oder digitalisieren Landkarten.
Ich gebe zu, beim fünften Schnitt zu einem der gefühlt dauernd stattfindenden Staff Meetings wurde ich ein bisschen ungeduldig, aber selbst die hatten natürlich immer eine Art Pointe für mich als Zuschauerin. Mal ging es schlicht um Budgetfragen, dann um den Umgang mit Obdachlosen, die schließlich auch zur community gehören und für die sei eine Bibliothek nun mal da, es ging um Lizenzen für eBooks, weil dort die Nachfrage viel höher sei als nach Papierbüchern und generell um die Digitalisierung. Es wurden auch einige Projekte angesprochen, die sich intern dafür einsetzten, Frauen oder Minderheiten zu fördern, wenn ich mir das richtig gemerkt habe. Das Fiese: Der Film wurde bereits 2015 gedreht, bevor er ab 2017 auf Festivals und ab 2018 auch in den Kinos gezeigt wurde. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie es dem Budget, das teilweise auch aus Bundesmitteln kommt, und diesen speziellen Projekten jetzt wohl geht, seitdem jemand Präsident ist, der gefühlt nicht mal den Teleprompter lesen kann – oder will. Einmal wurde ein Projekt der First Lady erwähnt, das sich mit mental health befasste – das dürfte jetzt vermutlich auch Geschichte sein.
Für mich spannend war die Kooperation mit der Gemeinde, um die ich mir noch nie Gedanken gemacht hatte. Es wurden Pakete für Lehrer*innen erwähnt, die von den Bibliotheken auf den Unterricht zugeschnitten wurden, so dass Kinder und Eltern damit arbeiten können (die Lehrer*innen sowieso). In einem Stadtteil wurden auf einmal viel mehr Mathebücher ausgeliehen als in anderen Teilen, weswegen jetzt überlegt wurde, aktiv auf Schulen zuzugehen, um zusammenzuarbeiten.
Generell fand ich es interessant zu sehen, welche Angebote da waren, die eher Lebenshilfe waren als Hilfe bei der Suche nach einem bestimmten Medium oder einer Information. Die Jobmesse hatte ich angesprochen, aber es gab auch Ausschnitte von Vorträgen über Hilfe für behinderte Menschen, besonders bei der Wohnungssuche. Es wurde Unterricht in Braille-Schreiben und -Lesen gezeigt. Menschen, die sich um fremdsprachige Besucher*innen kümmerten und teilweise Dinge wie USB-Sticks erklärten, während nebenan jemand einer Ahnenforscherin Anknüpfungspunkte zur Datenbank von Ellis Island vorschlägt. Es war schön zu sehen, wie nah hochspezialisiertes, akademisches Arbeiten am kindlichen Lesen- und Schreibenlernen ist, wo ein Mädchen mit einer Betreuerin an einem Lückentext überlegt, ob man nun Steine oder Fische in einer Tierhandlung kauft; beides findet in der gleichen Institution statt.
Im Abspann versuchte ich noch Namen zu entziffern, aber es gelang mir nicht bei allen. Einige Prominente bei Podiumsdiskussionen hatte ich erkannt, zum Beispiel Elvis Costello oder Te-Nehisi Coates, aber auch Patti Smith, die über Jean Genet sprach, bei dem ich sofort an Anselm Kiefer denken musste, der sich in einigen seiner Werke auf Genet bezieht, und schon fiel Kiefers Name, und nach dem Film musste ich dringend googeln, was Patti Smith 2015 für ein Buch geschrieben hat (M Train). Außerdem stellten zwei Akademiker Thesen oder Bücher vor, deren Namen ich in der IMDB nicht finden konnte, deren Bücher ich aber sofort lesen wollte. In einem Gespräch ging es um den Sklavenhandel im Senegal, in den auch der Klerus verwickelt wurde, der bisher von Sklavenhändlern verschont geblieben war. Google findet zwar nicht direkt ein Buch dazu, aber, noch besser, die Aufzeichnung des Gesprächs in der NYPL mit dem Historiker Rudolph Ware. Toll. Ein weiterer ungenannter Herr stellte ein Buch vor, in dem die Geschichte von Delis aufgearbeitet wurde und was diese für die jüdische Gemeinde von New York bedeutet haben. Immerhin das konnte ich herausfinden: Pastrami on Rye: An Overstuffed History of the Jewish Deli von Ted Merwin.
Das Rumgoogeln war zwar lehrreich, aber das wäre mein einziger Kritikpunkt am Film: Manchmal hätten ein paar Einblendungen ganz gut getan. An der Länge des Films kann ich leider nicht rummeckern, denn mir fällt keine einzige Szene ein, die ich hätte weglassen wollen. Ex Libris ist ein Hauch education porn und man klopft sich als Bildungsbürger vielleicht ein bisschen zu sehr auf die Schulter, aber ich fand den Film wirklich sehenswert. Vielleicht gerade für Leute, die sonst nicht in Bibliotheken rumsitzen. Guckt mal, was die alles können!
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Wer keine Zeit für den Film hat, liest vielleicht einfach diesen Artikel: To Restore Civil Society, Start With the Library.
„Libraries are being disparaged and neglected at precisely the moment when they are most valued and necessary. Why the disconnect? In part it’s because the founding principle of the public library — that all people deserve free, open access to our shared culture and heritage — is out of sync with the market logic that dominates our world. But it’s also because so few influential people understand the expansive role that libraries play in modern communities.
Libraries are an example of what I call “social infrastructure”: the physical spaces and organizations that shape the way people interact. Libraries don’t just provide free access to books and other cultural materials, they also offer things like companionship for older adults, de facto child care for busy parents, language instruction for immigrants and welcoming public spaces for the poor, the homeless and young people.
I recently spent a year doing ethnographic research in libraries in New York City. Again and again, I was reminded how essential libraries are, not only for a neighborhood’s vitality but also for helping to address all manner of personal problems.“
(via Bingereader)