Sandwiches geschmiert, Salate gemacht, erst im Auto daran gedacht: Wann sollen wir das bloß alles essen? Als ob wir in menschen- und restaurantleere Gegenden fahren. Egal. Kühltasche angestöpselt, losgefahren.
Auf dem Weg zum Chiemsee durch Kirchensur gefahren. Ich fiepste, weil ich die Kirche so schön fand in ihrer schmalen, hohen Schlichtheit, der ehemalige Mitbewohner hielt an, wir bemühten uns, die Autotüren nicht allzu lange offen zu lassen, damit aus den klimaanlageproduzierten 22 Grad keine 30 wurden, stapften zur Kirche – und fanden sie verschlossen. Immerhin konnten wir kurz ins Innere gucken, das uns alt und goldig entgegenglänzte, aber das hätte ich mir gerne aus der Nähe angeschaut.
In Gstadt fuhren wir in eine Parkhauseinfahrt, nur um festzustellen, dass das Parkhaus keines war, sondern nur eine abgesperrte Ecke von Gstadt, die jetzt anscheinend als Parkplatz dient. Wir fanden sogar noch ein Plätzchen im Schatten, bepackten unsere Rucksäcke bzw. Taschen mit Sandwiches, Wasser und Sonnencreme und gingen zum Bootsanleger, um uns in fünf Minuten zur Fraueninsel schippern zu lassen.
Auf die Fraueninsel wollte ich, seit ich mein Referat über Teile des Klosters gehalten hatte. In den nächsten Tagen beginne ich die Hausarbeit zu diesem Thema und vorher wollte ich mir dann doch mal selbst anschauen, worüber ich da eigentlich schreibe. Auf der Autofahrt las ich dem ehemaligen Mitbewohner die kurzen Texte zur Insel aus zwei Reiseführern vor und quengelte diverse Male über Ungenauigkeiten, Fehler und Rumgemeine, freute mich aber über die Bezeichnung „knuffig“ für den Campanile. Ich ballerte den Herrn mit Jahreszahlen, Namen, Gegenständen und Malereien voll und wurde immer hibbeliger, bis wir endlich anlegten. Die Frage „Erst Kultur oder erst mal rumgucken“ wurde von mir dann auch mit ungläubigem Augenrollen quittiert, und ich sprintete schon in Richtung Torhalle, bevor der Mann überhaupt die Frage zuende formuliert hatte.
Das Kloster auf der Fraueninsel ist recht gut erforscht, aber um die genaue Datierung einzelner Bauwerke bzw. Bauabschnitte streiten sich seit Jahrzehnten diverse Wissenschaftler; ich bin bei meinen Referatsvorbereitungen jedenfalls immer über die gleichen Namen gestolpert. Das Kloster wurde 782 geweiht; Stifter war Tassilo III. (741–nach 784), der letzte Herzog des bayerischen Geschlechts der Agilolfinger. Ihm wird bis heute als Stifter die Totenmemoria gehalten. Die erste heute noch bekannte Äbtissin ist die selige Irmengard (831/33–866), Tochter Ludwig des Deutschen (um 806–876) und Urenkelin Karls des Großen (747/48–814). Das Kloster war ein königliches Stift und stand adligen Mädchen und Frauen offen; sie mussten nicht in den Konvent eintreten bzw. ein Gelübde ablegen. Stattdessen war ihnen hier ein religiöses Leben in standesgemäßem Rahmen möglich, das Kloster diente der Erziehung und sorgte für das Gebetsgedenken (memoria) für verstorbene Familienmitglieder. Nach der Säkularisation 1803 wurde der Konvent aufgelöst, und der Besitz ging an den Staat über. Ludwig I. genehmigte 1836 die Wiederherstellung des Klosters, die Neueröffnung fand im März 1838 statt. In den Folgejahren war es neben der eigentlichen Klostertätigkeit unter anderem Mädchenpensionat und Schule, seit 1983 ist es ein Seminarhaus für Erwachsenenbildung.
Die Torhalle ist ein zweigeschossiges, rechteckiges Bauwerk nördlich der Hauptkirche. Im Erdgeschoss befinden sich drei Tonnengewölbe, die untereinander mit Bogenöffnungen verbunden sind sowie im Ostteil die kaum erforschte Nikolauskapelle. Im Obergeschoss liegt die Michaelskapelle, zu der ich gleich komme. Die Torhalle wurde vor den Grabungen von Vladimir Milojčić 1961–64 auf romanisch datiert; Milojčić fand allerdings zwischen Kirche und Torhalle Scherben und Fundamente und konstruierte eine Einheit von Klosterkirche, Torhalle und dazwischenliegenden Gebäuden (was durchaus diskussionswürdig ist, aber das erspare ich euch an dieser Stelle mal). Er datierte die Torhalle auf spätkarolingisch, also Ende 9. Jahrhundert. 1971 ließ er eine Radiokarbondatierung (C14-Datierung) eines Kantholzes von der Nordseite des Torbaus anfertigen, die das Holzstück auf um 880 plusminus 50 Jahre datierte. Diese frühe Datierung wurde von Großteilen der Wissenschaft angezweifelt, bis Hermann Dannheimer (ehemaliger Direktor der Prähistorischen Staatssammlung in München, Forschungsschwerpunkt seiner Veröffentlichungen ist die Archäologie des Mittelalters) in den 1980er Jahren weitere Grabungen durchführte. Er fand im ersten Bodenbelag der Torhalle einen Holzspan, der 2002 mit Radiocarbon-Messung auf 665–729 datiert wurde, was für ihn die frühe Datierung der Torhalle rechtfertigt. Vor allem Friedrich Oswald widersprach und wies auf die sehr geringe Größe der Insel hin: Baumaterial wurde so gut wie immer mehrfach verwendet, weil es zu aufwendig gewesen wäre, ständig neues heranzuschaffen. Der Holzspan könnte durchaus vorher schon mal verbaut worden sein, sein Vorkommen in der Torhalle sei rein zufällig.
tl;dr: Wir haben keine Ahnung, von wann genau die Torhalle ist.
Enter the Erzengel.
Milojčić legte bei seiner Arbeit in den 1960er Jahren Fresken in der Michaelskapelle frei; sie zeigen Erzengel mit Stäben und der Erdscheibe. Ungewöhnlich ist an ihnen, dass sie nicht farbig ausgemalt sind, sondern offensichtlich nur als rote Umrisse gefertigt wurden, was wir aus der karolingischen Zeit nur als Vorzeichnung kennen, nicht aber als fertiges Kunstwerk. Außerdem erinnern sie eher an byzantinische denn an karolingische Bildwerke, ihre nächsten stilistischen Verwandten finden wir eher in ottonischer Zeit. Aber: Sie befinden sich auf der ersten Putzschicht der Torhalle, das heißt, auch sie könnten Auskunft über die Entstehung des Bauwerks geben – wenn wir denn mal wüssten, von wann sie sind. Hans Sedlmayr datierte die Engel trotz eingestandener mangelnder Vergleichsmöglichkeit auf um 860, die Große bayerische Kunstgeschichte von 1963 sinnierte locker was von „780–820“, Otto Demus sagte in Romanische Wandmalereien von 1968 „versuchweise erste Hälfte 11. Jahrhundert“, und Matthias Exner datierte sie 2003 auf „nicht vor dem ausgehenden 10. oder frühen 11. Jahrhundert“.
tl;dr: Wir haben immer noch keine Ahnung, von wann genau die Torhalle ist.
Mir war das in dem Moment egal, denn ich vertiefte mich in die Zeichnungen, bewunderte den klaren, bewussten Schwung der Gewänder, die kraftvolle Darstellung, die mir hier nach 1000 Jahren noch entgegenleuchtete und fand alles ganz großartig.
Nach der Torhalle marschierten wir auf meinen zweiten Liebling der Insel zu, das Kirchenportal.
Auch hier kabbelt sich die Wissenschaft noch, von wann genau denn welches Bauteil ist. Die Kirche selbst steht auf tassilonischen Grundmauern, aber von wann das Portal ist, ist noch ungeklärt. Gehörte es womöglich schon zum Gründungsbau? Dann wäre es das älteste Kirchenportal, das wir kennen. Der Streit geht übrigens nur um das Tympanon und das erste Portal; das Trichterportal ist später davorgesetzt worden, genau wie die gotischen Bögen in der Vorhalle, die das Portal netterweise etwas vor der Witterung schützt und aus den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts stammt.
Das Tympanon zeigt einen sehr vereinfachten Lebensbaum mit Fruchtdolden. Die räderartig wirkenden Gebilde kann ich mir nicht erklären, und ich habe auch in der Literatur keine Erläuterung gefunden. Für mich sieht es aus wie Hände, die durch Radspeichen greifen. Der Lebensbaum ist eine alte Darstellung, was für Dannheimer Beleg genug ist, um das Tympanon auf Ende des 8. Jahrhunderts zu datieren. Friedrich Oswald weist darauf hin, dass diese architektonische Gestaltung in der von Dannheimer vorgeschlagenen Zeit keinerlei Entsprechung in anderen Bauwerken habe; gestaltete Türstürze und Tympana treffen wir erst im Hildesheimer Dom von 872 (also 100 Jahre später) oder in St. Genis-des-Fontaines in den Pyrenäen, dessen Türsturz laut Inschrift auf 1019/1020 datiert ist.
Ich habe keine Ahnung, ich stand da nur und guckte uraltes Zeug an, während diverse Besucher achtlos an mir und dem Tympanon vorbeigingen, um sich die olle Barockkirche anzugucken. Da waren sie in guter Gesellschaft, denn so ging es auch meiner Begleitung.
„Und wann kommt jetzt endlich das Ding, von dem du so schwärmst?“
„DU STEHST GENAU DAVOR EINSELF!“
„WAS, DIESER STEIN, AUF DEM MAN NIX ERKENNT?“
„…“
Mpf. Der Mann hat ja recht. Zuerst habe ich mich natürlich aufgeplustert und was von Kulturbanause gejammert, aber dann ist mir eingefallen, dass ich vor zwei Jahren noch genauso geredet habe. Die Gotik in ihrer schieren Mächtigkeit erschließt sich, glaube ich, auch jedem, der kein Proseminar über sie belegt hatte. Die Romanik hingegen mit ihrer schlichten, fast naiven Gestaltung ist eher so joah. Gut. Whatever. Zumindest war sie das. Jetzt nicht mehr. Inzwischen kann ich sie einordnen, weiß so ein bisschen was darüber, was vorher und nachher kam und bin seitdem absolut fasziniert von genau dieser einfachen Gestaltung.
Ich glaube, Dinge zu schmücken oder sie mit Bedeutung zu versehen, ist eine sehr menschliche Eigenart, siehe Höhlenmalerei, antiker Schmuck oder ägyptische Grabbeigaben. Nach dem Niedergang des römischen Reiches und dem christlichen Bilderverbot kam der Menschheit die Fähigkeit abhanden, realitätsgetreu oder idealisiert Dinge abzubilden, die sie bereits besaß, wie wir von diversen antiken Statuen und Triumphbögen wissen. Auf den romanischen Baustellen gab es aber durchaus Handwerker aus den Reichsgebieten, die wir heute als Griechenland oder Italien bezeichnen, und sie kannten Bauwerke wie die Akropolis oder das Kolosseum, sie wussten, dass die Menschheit schon mal Derartiges in die Landschaft gestellt hatte. Die Romanik ist der erste Versuch, sich dieser klassischen Schönheit wieder zu nähern. Man kann quasi der Menschheit in unseren Breitengeraden dabei zugucken, wie sie sich Fähigkeiten wiedererkämpft, die sie schon mal hatte. Mich rührt das ungemein, und deswegen stand ich recht lange vor diesem Stein, auf dem man nichts erkennt und den Engeln, deren Kopflosigkeit vom Begleiter scherzhaft bemängelt wurde.
Irgendwann schob mich der Begleiter weiter in Richtung Inselrundgang, wir kauften im Klosterladen Schnaps (was sonst), aßen ein paar Sandwiches mit Blick aufs Wasser, ich stapfte kurz in den See und ärgerte mich, keinen Badeanzug mitgebracht zu haben, und dann schipperten wir aus der TOTAL SCHÖNEN Romanik in den VÖLLIG ÜBERZOGENEN Barock.
Auf Herrenchiemsee darf man nicht einfach so ins Schloss, sondern muss sich eine Karte kaufen, die einen zu einer ganz bestimmten Uhrzeit in eine Gruppe steckt, die dann durch zehn (?) Räume des Schlosses geführt wird. Die Führung war gut, aber für mich mit ihren 30 Minuten natürlich viel zu kurz. Ich wäre gerne länger in jedem Raum geblieben, vor allem in dem mit dem Kronleuchter aus Porzellan, der mir wider Erwarten doch sehr gefallen hat, aber das ging leider nicht. Fotografieren und Filmen ging übrigens auch nicht. Dem Begleiter gefiel das Schloss deutlich besser als die Kirche, während ich mich nach der Schlichtheit der Fraueninsel zurücksehnte. Trotzdem ist Herrenchiemsee natürlich einen Besuch wert – alleine wegen der 5.000 Kerzen in den weißnichtmehrwievielen Kronleuchtern –, aber ich habe mich sehr zugekleistert gefühlt. Barock halt. Bzw. Barockimitation.
Eigentlich wollten wir auf der Rückfahrt irgendwo einkehren und fürstlich tafeln, aber uneigentlich waren wir verschwitzt und müde und hatten noch einen Berg an Salat in der Kühlbox. Daher endete der lange Tag in einem unserer Lieblingsbiergärten in München.
Ich habe Sonnenbrand auf den Füßen und im Nacken und den ganzen Sonntag über war ich viel zu müde, aber das war’s wert. Chiemsee rockt. Und Frauenchiemsee rules. Ich komme wieder. Mit Badeanzug und einer hoffentlich großartig benoteten Hausarbeit.