Bücher September 2010
Mike Mignola/Richard Corben, Duncan Fegredo, Joshua Dysart, Jason Shawn Alexander – Hellboy 10: The Crooked Man and Others
The Crooked Man ist eine lange Geschichte im Buch, auf die drei weitere, kürzere folgen. Die kurzen sind nett bis gut, aber The Crooked Man ist eine der Geschichten, die die Hellboy-Serie so großartig machen. Diesmal geht es um Hexen in den Apalachen, einen Mann, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, das er als Jugendlicher überstürzt verlassen hatte, um einen aufrechten Pfarrer und den Teufel. Wenn wir schon dabei sein, machen wir einfach mal das große Fass auf. Die Zeichnungen stammen von Richard Corben, von dem ich noch nichts gelesen habe, was ich aber dringend nachholen sollte. Ich nöckele ja immer, wenn Hellboy nicht haargenau so aussieht wie Mignolas Hellboy, und meistens versuchen die Zeichner, wenigstens an Mignola ranzukommen, aber Corbens Bilder sehen ganz anders aus – und es hat mich nicht die Bohne gestört. Vielleicht weil der neue Stil einfach zur Geschichte passte, keine Ahnung. Mal wieder eine Empfehlung, wie ja fast immer bei Hellboy.
(Leseprobe bei amazon.de)
(eBook) Jane Ziegelman – 97 Orchard: An Edible History of Five Immigrant Families in One New York Tenement
In 97 Orchard geht es, wie der lange Untertitel verrät, um fünf verschiedene Einwandererfamilien, die um die Jahrhundertwende in New York ankommen. Das Buch beschreibt, wie die Glockners aus Deutschland, die Moores aus Irland, die Gumpertz’ als deutsche Juden, die Rogarshevskys aus Russland und die Baldizzis aus Italien ihre traditionellen Speisen mit in ihre neue Heimat bringen bzw. wie sie mit der amerikanischen Küche umgehen. Und natürlich, wie die amerikanische Küche – und das amerikanische Leben – sich verändern, weil plötzlich so viele Menschen da sind, die ganz unamerikanisch kochen.
Die fünf Familien haben nach- oder nebeneinander im Haus in der Orchard Street gewohnt, und Autorin Ziegelman ist durch ein ganz besonderes Museum an eben diesem Ort auf sie gestoßen. Deswegen fühlt sich das Buch manchmal wie ein elaborierter Museumskatalog an, der eine Familie nach der anderen abhandelt, aber das habe ich dem Buch verziehen. Denn: Ich habe viel über die traditionellen Speisen der Familien erfahren (das Buch listet auch viele Rezepte auf), über die Marktsituation in New York, das Aufkommen von Cafés oder Restaurants, den pushcart market, auf dem Hausfrauen auch mal eine halbe Möhre kaufen konnten, und die Küche auf Ellis Island, die die erste Begegnung der Immigranten mit den USA waren. Das Buch bleibt aber nicht streng bei der Nahrung, sondern erzählt auch über das Familienleben, die Arbeitssituation und die Wohnverhältnisse der Familien bzw. dem Rest von New York oder sogar dem ganzen Land. Davon hätte ich mir ein bisschen mehr gewünscht, aber das hätte wahrscheinlich den Rahmen gesprengt. So bleibt mir das Buch als kurzer, aber intensiver Einblick in gleich fünf Kulturen in Erinnerung, die eine sechste befruchten und für immer zum Positiven und Vielfältigen verändern. Vielleicht könnte mal jemand Herrn Sarrazin das Ding in die Hand drücken.
(Leseprobe bei amazon.de)
Nicole Krauss – The History of Love
Schnuffibuch. Eins zum In-den-Arm-nehmen. Gut, dass ich das auf Papier gelesen habe. The History of Love erzählt von einem Buch namens The History of Love – wer es geschrieben hat, wann, warum, wie es veröffentlicht und übersetzt wurde und vor allem: wer es gelesen hat. Das Buch ist aber nur ein Vehikel, um etwas ganz anderes zu erzählen, nämlich über das Leben von Leopold Gursky, der als junger Mann in Polen die Nazis überlebt hat und nun in New York wohnt, wo er ab und zu an sein Heizungsrohr klopft, um mit Bruno zu kommunizieren, der über ihm wohnt: Are you still alive? Knock twice for yes, once for no. In einer zweiten Handlung lernen wir Alma kennen, ein junges Mädchen, deren Mutter Übersetzerin ist und eines Tages die Bitte erhält, The History of Love vom Spanischen ins Englische zu übertragen. Wie die beiden Menschenleben zusammenhängen, erzählt Krauss sehr direkt und gleichzeitig mit so vielen verschachtelten Ebenen, dass ich dauernd bei einer Buchseite auf die Rückseite geguckt habe, um sicher zu gehen, nichts zu überlesen; irgendwelche Botschaften, die mit Zaubertinte zwischen den Zeilen stehen.
Ich mag Bücher über Bücher. Man umarmt quasi zwei auf einmal.
(Leseprobe bei amazon.de)
Dörte Schipper – Den Tagen mehr Leben geben
Ein kleines, feines, wunderbares Buch. „Den Tagen mehr Leben“ geben bezieht sich auf das Motto, das im Hamburger Hospiz Leuchtfeuer im Eingangsbereich zu lesen ist: „Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben“. Im Buch geht es um Ruprecht Schmidt, den Koch im Hospiz, der den sterbenskranken Patienten noch einmal ein paar Wünsche erfüllen kann – jedenfalls wenn es um’s Essen geht. Meist werden Speisen aus der Kindheit gewünscht – noch einmal Grießbrei, Labskaus oder rote Grütze –, manchmal einfach noch mal „was Gutes“ – ein trockener Rotwein, ein besonderer Käse. Viele Patienten können nicht mehr so viel essen, wie sie möchten, andere leben noch einmal kurz auf durch die liebevolle Küche, die ihnen hier geboten wird.
Leben ist wie eine lange, feinfühlige und nie kitschige Reportage geschrieben; ich fühlte mich fast, als ob ich einem Dokumentarfilm zuschaue, so dicht werden die Figuren, die ja keine sind, beschrieben. Der rote Faden ist der Koch, an dessen Lebensgeschichte bzw. seinen Karriereentscheidungen sich das Buch entlanghangelt. Schmidt hat sich nach einigen Stationen in Sterneküchen für den karitativen Beruf des Hospizkochs entschieden, wo er eher selten Hummer aufknackt, sondern stattdessen bodenständige Frikadellen zubereitet oder auch einfach nur eine Gemüsesuppe, je nachdem, was seine Gäste noch zu sich nehmen können oder wollen. Auch einige der Patienten werden beschrieben, ihre Leben, ihre Familien oder Freunde, wie sie mit dem nahenden Tod umgehen, über was sie noch einmal nachdenken.
Das Buch eignet sich überhaupt nicht dafür, es im Berufsverkehr im Bus zu lesen, zu oft zieht man seltsame Blicke auf sich, wenn man mal wieder schneuzend zum Taschentuch greift oder sich die Tränen wegwischt. Aber sobald man das Buch zuklappt, spürt man an sich eine gewisse innerliche Ruhe. Wenn auch nur für ein paar Minuten. (Und man hat Hunger.)
Stuart Pigott (Ursula Heinzelmann, Übers.) – Wilder Wein
Uh. Nein. Pigott bezeichnet sich selbst (alle fünf Seiten und im Kursivdruck) als Gonzo-Weinjournalist, und damit hat er bei mir ziemlich von Beginn an verschissen. Gonzo-Journalismus ist für mich etwas mehr, als sich in Thailand mit Rotwein abfüllen zu lassen und das als WAHNWITZIG AUFREGEND hinzustellen. Wenn’s denn wenigstens aufregend beschrieben wäre. Ist es aber nicht. Das Buch hat knapp 500 Seiten, und ich war mir nach 200 immer noch nicht sicher, was der Mann eigentlich von mir will. Bis dahin war ich mit ihm in Südtirol beim Gewürztraminersüppeln und eben in Thailand und Indien, und das ist sicher für einen Weinjournalisten ne schnafte Sache, so Reisen und so Trinken und so, aber für mich als Leserin war das sehr banal beschriebenes Zeug. Weinjournalismus ist für mich ein bisschen wie Strickbloggen: eine sehr kleine Zielgruppe, vor der ich persönlich immer etwas ratlos stehe. Ist bestimmt toll, das alles, aber mir ziemlich egal. Und wenn Wein (ich meine: WEIN) in eine Reihe gestellt wird mit den Hells Angels, bei denen sich Hunter S. Thompson rumgetrieben hat, finde ich das einfach sehr, sehr überzogen und doof.
Piero Melograni (Bettina und Sabina Kienlechner, Übers.) – Wolfgang Amadeus Mozart – Eine Biografie
Melograni beschreibt das Leben Mozarts recht unbeeindruckt; man stolpert förmlich über die wenigen enthusiastischen Adjektive, die er bei einigen Klavierkonzerten oder Streichquartetten anbringt. Der Rest des Buchs ist ein sehr gradliniger Bericht, der sich stark an Zeiten und Orten entlanghangelt – was mir persönlich aber sehr gut gefallen hat. Mozarts Arbeiten und Arbeitsweise werden gut in den geschichtlichen Zusammenhang gesetzt. So erfährt man, wie damals Opern rezipiert wurden – ganz anders als heute in andächtiger Stille, stattdessen wurde munter gegessen, sich unterhalten oder sich in den Separees hinter verschlossenen Vorhängen vergnügt. Oper war Hintergrundrauschen wie heute das Radio oder das offene iTunes, und Komponisten waren keine Heiligen, sondern Angestellte von Fürsten oder Kaisern, die für ein festes Gehalt eine bestimmte Anzahl von Musikstücken produzierten. Mozart war einer der ersten, die ihr Glück am freien Markt versuchten, wobei er nicht ganz freiwillig in diese Lage kam. Nach einem Streit mit dem Salzburger Hof setzte er sich nach Wien ab, wo er vergeblich eine Festanstellung suchte und gezwungenermaßen Konzerte veranstalten musste, für die man Eintritt bezahlte – auch eine Neuerung –, um überhaupt seine Rechnungen begleichen zu können. Die meisten seiner Werke sind Auftragskompositionen, die er meist in sehr kurzer Zeit fertigstellen musste.
Ich hatte im Hinterkopf immer die hervorragende Wagner-Biografie, mit der ich diese hier verglichen habe. Sie liest sich, wie gesagt, deutlich straffer und unbeeindruckter, aber für einen ersten Einblick in Mozarts Leben finde ich sie sehr gelungen. Und ich bin über das spannende Leben von Lorenzo da Ponte, den Librettisten einiger Mozart-Opern, gestolpert, dessen Namen ich vorher noch nie gehört hatte. Was allerdings ein wenig zu kurz kommt, ist die Musik Mozarts. Man merkt, dass Melograni Historiker ist und kein Musikwissenschaftler, sonst hätte das Buch wahrscheinlich sehr anders geklungen.
Hervé This-Benckhard (Rainer Zolk, Übers.) – Rätsel der Kochkunst, naturwissenschaftlich erklärt
Herr This plaudert launig vor sich hin, während er in irgendwelchen Töpfen rührt, Brot bäckt, Marmelade ansetzt oder einen Schluck Wein nimmt. Dabei erklärt er uns, wie lange Fleisch braucht, um durchzugaren (und benutzt dabei das, gnihihi, Fick’sche Gesetz), versichert uns, dass Chilipulver keine Löcher in die Zunge brennt (puh) und spricht über das korrekte Salzen von Fleisch in Brühe: Wenn man eine eher kräftige Brühe wünscht, salzt man zu Beginn (Fleischsäfte gehen vom Fleisch ins Wasser über – Osmose, Baby), wenn das Fleisch wichtiger ist als die Brühe, salzt man zum Schluss (ohne Salz keine Osmose; Fleischsäfte bleiben, wo sie hingehören), wenn beides toll sein soll, salzt man kurz vor Ende der Kochzeit. Das ist alles ganz hübsch, teilweise mit sehr sinnlosen Schaubildern von Atomen und Molekülketten angereichert und in seiner Faktendichte auch sehr überzeugend, aber ganz ehrlich: Mir ging, das klingt doof, ich weiß, der Zauber des Kochens total verloren. Klar wollte ich das Buch genau deswegen lesen, weil ich ein bisschen mehr über die Hintergründe wissen wollte, aber jetzt, wo ich’s gelesen habe, denke ich mir, ach nee, ich glaube einfach weiter an kleine Heinzelmännchen und -fräuleins, die aus durchsichtigem Glibber DURCH MAGIE tollen Eischnee machen. Out of my head, Ovomuzin und Konalbumin!
(Leseprobe bei amazon.de)
Adrian Peter – Die Fleischmafia: Kriminelle Geschäfte mit Fleisch und Menschen
Peter ist Redakteur und CvD bei „Report Mainz“, und vielleicht liest sich deswegen Fleischmafia wie dutzende von kleinen Reportagen, die leider nur ein Thema haben. Bzw. zwei oder drei: Umetikettieren von Gammelfleisch; Arbeitsbedingungen von meist osteuropäischen Arbeiter_innen, die für Hungerlöhne und ziemlich rechtlos 15 Stunden täglich im Blut stehen; das absichtliche Weggucken von Veterinär_innen und Kontrolleur_innen, weil man ja gerne das Lied desjenigen singt, dessen Fleisch man isst. Stichwort: Wenn ich diesen Betrieb hochgehen lasse, ziehen sie einen Landkreis weiter und zahlen dort ihre Steuern, wenn sie diese nicht gerade hinterziehen, was anscheinend auch große Mode in der Industrie ist.
Die Fleischmafia lässt einen relativ erschlagen zurück, vor allem, wenn man vorher Eating Animals bzw. Tiere essen von Foer gelesen hat. Wo Foer sich hauptsächlich um das Leiden der Tiere gekümmert hat und ansatzweise darauf hinweist, dass die Abgestumpftheit der Menschen an den Bändern systemimmanent ist, bekommt man das hier nochmal extra-deutlich vorgesetzt. Es geht so gar nicht mehr um das schmackhafte Suppenhuhn für die Familie am Sonntag, sondern darum, möglichst viel Geld mit möglichst wenig Aufwand zu machen. Dass darunter Millionen von Tieren leiden und im Endeffekt auch der Mensch, der den Dreck in sich reinschaufelt, der ihm rosig-„frisch“ aus der Fleischtheke entgegenlächelt, ist egal. Mir jetzt leider nicht mehr. Und es wundert mich, dass es der Politik auch egal ist (wenn man mal die Landrät_innen mit den steuerlichen Interessen außen vor lässt), denn Peter schreibt bereits im Vorwort:
„Die Zahlen, die das niedersächsische Landesuntersuchungsamt LAVES in seinem Tätigkeitsbericht 2004 nennt, legen den Verdacht nahe, dass es beim Fleisch mit dem Verbraucherschutz nicht zum Besten steht: Von 2990 untersuchten Proben von Fleisch wurden 879 beanstandet. Das ist fast jede dritte. (…) In einem Land, in dem seit der BSE-Krise Verbraucherschutz weit oben auf der politischen Agenda steht, ist das erstaunlich: Man stelle sich vor, der TÃœV würde an jedem dritten Auto Mängel entdecken oder jedes dritte Elektrogerät würde mit Mängeln an die Verbraucher verkauft.“
Renate Künast hat in ihrer Tätigkeit als Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft mehrmals versucht, Gesetze einzuführen, die Herstellernamen öffentlich machen sollten, die mangelhaftes Fleisch vertreiben. Die Gesetzesvorschläge scheiterten stets an der CDU.