„Erosion der inneren Wertorientierung“
Die FAZ bzw. der von ihr befragte Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle (puh), Hans-Joachim Maaz, versteigt sich zu einer gewagten Theorie: Man könne es der DDR anlasten, dass die zurzeit in den Schlagzeilen vorkommende Mutter aus Brandenburg neun ihrer Kinder direkt nach der Geburt umgebracht habe.
Zwar kann man keine Häufung an Kindstötungen in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den alten feststellen, aber anscheinend reicht schon eine DDR-Biografie, um potenziell zur Kindsmörderin bzw. zum Komplizen zu werden. Zitat aus dem Artikel aus der gestrigen FAZ, leider nicht online:
„Wir erleben sehr oft, dass strukturschwache Menschen, die im strikt strukturierten DDR-Staat weitgehend unauffällig waren, mit der Wende und der Notwendigkeit, selbst aktiv zu sein, in eine tiefe Krise mit Panik, Angst, Depressionen und Resignation gestürzt sind.“ Für diese Leute sei Pluralismus eine Bedrohung. Hinzu komme die von der SED mit großem Erfolg vorangetriebene Entkirchlichung und Entchristlichung der DDR-Gesellschaft. Wer eine innere Wertorientierung aufgrund familiärer oder sozialer Bedingungen nicht habe, brauche ein Leben lang äußere Wertvermittlung. „Das Problem des Autoritarismus im Osten ist längst noch nicht überwunden. Nein, wir haben noch nicht einmal erfasst, wie viele Menschen das Bedürfnis haben, geführt zu werden.“
Mal abgesehen davon, dass ich es für eine recht billige Ausrede halten würde, vor Gericht als Verteidigung anzuführen: Ich habe vom Pluralismus Depressionen bekommen und musste daher meine Kinder umbringen, finde ich die These ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Problematische Umfelder gibt es nicht nur im Osten Deutschlands; ich muss mich ja nur in der reichen Stadt Hamburg umgucken, um strukturschwache Stadtviertel zu entdecken, in denen Kinder zu Tode kommen, wie gerade erst vor einigen Monaten zu lesen war.
Ich versuche mir mal vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn das Heimatland plötzlich nicht mehr existiert. Im besten Falle fühlt es sich vielleicht an wie ein Umzug in ein anderes Land, in dem man niemanden kennt und in dem man sich selbst zurechtfinden muss. Es fängt bei Kleinigkeiten an wie: die elektrischen Anschlüsse haben eine andere Spannung, und wieviel Porto kommt hier eigentlich auf einen Brief, und geht bei persönlichen Erinnerungen weiter: Was haben die Kinder hier im Fernsehen gesehen, worüber sie noch nach 20 Jahren lachen können, was oder wer ist hier im kollektiven Gedächtnis verankert, was macht dieses Land aus, wie kleiden sich die Menschen, was muss ich tun, um mich zu integrieren? Ich ahne, dass dieses neue Land teilweise sehr spannend ist, teilweise aber auch beängstigend in seiner Neuigkeit. Es liegt an mir und meiner persönlichen Grundkonstitution, was ich daraus mache. Wie gehe ich sonst mit Neuerungen um? Mit neuen Kollegen, unbekannten Orten, technischen Geräten, die ich nicht kenne? Hat es etwas damit zu tun, ob ich in einem autoritären Staat aufgewachsen bin, wie ich mit neuen Kollegen umgehe? Ist es jetzt typisch Wessi, wenn ich hoffe, dass dem nicht so ist? War man in der DDR generell misstrauisch, wenn unbekannte Gesichter in der Mittagspause auftauchten? Stand erstmal jedem „Stasi?“ auf der Stirn geschrieben? Traue ich mich nicht, in einem fremden Lokal nach dem Kellner zu rufen, weil die SED meine Regierungspartei war? Lasse ich per se die Finger von einem neuen Radio, bei dem die Bedienungsanleitung fehlt, wenn ich ein Pionier-Halstuch getragen habe? Bin ich bei jedem Aspekt meines privaten Lebens auf jemanden angewiesen, der mir sagt, was ich tun oder denken soll, „nur“ weil es in der politischen Öffentlichkeit meines Landes so ist? Wird man zwangsläufig unselbständig, weil der Staat einen gerne so hätte?
Ich muss gestehen, ich kann diese Fragen nicht beantworten, weil ich in der Bundesrepublik aufgewachsen bin. Ich behaupte aber mal, dass die im Artikel angesprochene „Entkirchlichung“ und „Entchristlichung“ im Westen ähnlich verlaufen ist wie im Osten Deutschlands. Natürlich schreiben sich hier die meisten Politiker noch auf die Fahne, christliche Werte zu vermitteln, und wir haben in der Schule (noch?) Religionsunterricht, aber mal ehrlich: Gehen im Westen wirklich signifikant mehr Menschen in die Kirche als im Osten? Glauben im Osten so viel weniger Menschen an Gott als im Westen? Und selbst, wenn ja: Bedeutet das automatisch eine höhere Akzeptanz von Gewalt, vielleicht sogar Mord, in der Gesellschaft? Wohl kaum. Und soweit ich mich erinnere, ging die Demokratiebewegung in der DDR auch von den Kirchen aus (nicht nur, aber auch), was für mich heißt, dass es durchaus eine Menge Menschen gab, die um gewisse Werte wussten. Außerdem glaube ich, dass, auch wenn die DDR keine offensichtlich christlichen Normen vermitteln wollte, der Staat doch durchaus das Ideal eines halbwegs friedlichen Miteinanders transportiert hat – zumindest öffentlich.
Ich kann mir vorstellen, dass eine offen aggressive oder menschenverachtende Staatsform bzw. Politik sicher Spuren bei seinen Bürgern hinterlässt, die eine derartige seelische Verrohung, die für einen neunfachen Mord nötig ist, fast verständlich machen. Aber kann man die DDR in eine Reihe stellen mit (jetzt ganz vorsichtig) z.B. Nazi-Deutschland, das ja offen den Krieg mit den „Untermenschen“ propagiert hat oder der Sowjetunion unter Stalin, Ruanda zurzeit des Hutu-Genozids usw.? Ich meine nicht.
Auch zur Mitwisserschaft der Kindstötungen bzw. zum Leugnen derselben hat Maaz übrigens eine Theorie:
„Wir kennen das Wegschauen oder Bagatellisieren als weitverbreiteten seelischen Abwehrvorgang von Leuten, die Dinge in sich tragen, die sie selbst nicht mehr wahrhaben wollen.“
Ja, kann ich nachvollziehen. Aber den folgenden Absatz nicht mehr:
Diese Personen seien sozusagen konditioniert aufs Verleugnen. Maaz sieht wiederum gesellschaftlichen Einfluss: „Das muss man der DDR anlasten. Die ganze Wahrheit über das Regime oder über Andersdenkende war tabuisiert oder bei Strafe verboten. Von daher ist die Verleugnung auch eine gesellschaftlich unterstützte und eingeübte Abwehr.“
beipflichtend.
Manche Sozial-Akademiker lassen
mich hin und wieder nach der Mao´schen
Kulturrevolution lechzen :-)
…..bullshit Bingo für SOWI´s wär mal
ne Textaufgabe *g*
– Grussregierung
Weltregierung am 04. August 2005
Man, da kann ich aber froh sein, dass meine Eltern mich und meinen Bruder nicht direkt nach der Flucht aus Polen in einem Blumentopf verscharrt haben…
Peinlich, peinlich, peinlich!
Moma am 04. August 2005
Hier ein link zu einem Interview mit Dr. Maaz:
http://www.taz.de/pt/2005/08/04/a0161.nf/text
Das mit den Kichen darf man nicht unterschätzen. Wer sich in der DDR offen zum christlichen Glauben bekannte, hat Benachteiligungen hinnehmen müssen (Einschränkungen in der Wahl des Berufs, Studiums, Bespitzelung durch die Stasi, …)
So war der Relionsunterricht wurde in den Schulen abgeschafft. Das gesamte Schulsystem war naturwissenschaftlich geprägt. In den Geisteswissenschaften war der Marxismus-Leninismus dominant. Wie alle anderen Zeitungen unterlagen auch die Kirchenzeitungen der Zensur. Treffen im kirchlichen Rahmen wurde häufig der Zugang zu öffentlichen Räumlichkeiten (z. B. Gaststätten) verwehrt. Kirchlich aktive Personen wurden teilweise von der Stasi und anderen staatlichen Einrichtungen überwacht. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es in der DDR seit 1954 ein Kampf der Staatspartei gegen Bürgerlichkeit und Kirchlichkeit stattfand. Die räumlichen Wanderungsbewegungen nach der Wende haben auch ihren Teil dazu beigetragen, dass sich kein Fundament bilden konnte, auf dessen Basis sich bürgerliche und christliche Werte entwicklen konnten – ohne jetzt den überzogenen Begriff “Entwurzelung” zu benutzen..
Demgegenüber hatten und haben die grossen Kirchen im Westen eine hohe gesellschaftliche Bedeutung.
Jörg am 04. August 2005
OK, lieber Jörg, dass es gläubige Menschen in der DDR schwer hatten, ist sicher bedauerlich. Das erklärt im Hinblick auf diesen schrecklichen Fall aber rein gar nichts. Man kann doch nicht so tun, als hätte es in der DDR nicht auch Gesetze gegeben oder als hätte den Menschen dort systembedingt jegliches sittliches Empfinden gefehlt.
Und überhaupt: Die im Westteil der Republik propagierten bürgerlichen und christlichen Werte haben ja schließlich auch nicht verhindert, dass hier perverse Mörder wie Honka oder Bartsch ihr Unwesen trieben, oder? Und wie ist das mit der höheren Gewaltrate in Gods own country?
mark793 am 04. August 2005
Mein posting war eher als Antwort auf die Frage gedacht:
“Glauben im Osten so viel weniger Menschen an Gott als im Westen?”
Aber: Es geht ja nicht um Kriminalität und deviantes Verhalten generell. Viel mehr ist der Umgang damit interessant. Und hier halte ich, anders als Anke Groener diesen letzten Absatz für nachdenkenswert:
„Das muss man der DDR anlasten. Die ganze Wahrheit über das Regime oder über Andersdenkende war tabuisiert oder bei Strafe verboten. Von daher ist die Verleugnung auch eine gesellschaftlich unterstützte und eingeübte Abwehr.“
Jörg am 04. August 2005
Ich würde Jörg da voll und ganz zustimmen. Das, was Menschen sehen (wollen) und ihr Verhalten gegenüber Missständen wird ganz massiv durch die Staatsform geprägt – erst recht, wenn dieser Prozess über gut 40 Jahre (also über mehrere Generationen) abläuft. Im Falle der DDR muss noch in Betracht gezogen werden, dass es nach dem “Dritten Reich” keinen “Klimawechsel” gab. Sicherlich lässt sich sowas nicht für alle und jeden verallgemeinern, aber deutliche Tendenzen sind wohl feststellbar. Das wir das als “Bundesdeutsche” kaum für möglich halten, ist dabei wieder Teil unserer unterschiedlichen Sozialisation. Hochinteressant (als Einstieg für Leute, die es interessiert) ist dafür das folgende Buch:
Lothar Fritze, Die Gegenwart des Vergangenen. Über das Weiterleben der DDR nach ihrem Ende. Böhlau 1997.
vib am 04. August 2005
Um diesen (und den anderen Absatz des Artikels) geht’s doch in meinem ganzen Eintrag. Ich glaube eben nicht, dass es an der Staatsform der DDR liegt, dass manche Menschen anscheinend Gut nicht mehr von Böse unterscheiden können bzw. nicht mehr selbständig denken und handeln können.
Anke am 04. August 2005
@Jörg: Und falls im Osten tatsächlich weniger Menschen an Gott glauben (wovon man vermutlich ausgehen kann) – was folgt daraus: Sind atheistisch erzogene Menschen per se schlechtere Menschen? Aber wie vertrüge sich dieser Befund mit der Tatsache, dass in den ach so gottesfürchtigen USA wesentlich mehr Tötungsdelikte in Relation zur Gesamtbevölkerung zu verzeichnen sind als in der Ex-DDR?
Ich denke schon auch, dass man das verkorkste DDR-System als Ursache für einige gesellschaftliche Deformationen sehen kann. Aber – und da bin ich Wessi durch und durch – letztendlich sind es ganz individuell getroffene Entscheidungen, die mich zu einem Straftäter machen oder nicht, da beißt die Systemfrage keinen Faden ab.
Es passiert ja auch im Westen immer wieder, dass Frauen ihre frisch entbundenen Kinder töten und dass niemand bemerkt hat, dass sie überhaupt schwanger waren. Und kein FAZ-Kommentator kommt auf die Idee, das spätkapitalistische Schweinesystem oder die verlogene christlich geprägte Sexualmoral dafür verantwortlich zu machen…
mark793 am 04. August 2005
@vib Du schreibst: “Im Falle der DDR muss noch in Betracht gezogen werden, dass es nach dem “Dritten Reich†keinen “Klimawechsel†gab.”
Wie bitte? Also, man kann der Zone ja sicher vieles vorwerfen, aber die These, dass die DDR da weitergemacht hat, wo die Nazis aufgehört haben, halte ich doch für sehr gewagt, um es mal zurückhaltend auszudrücken. Oder habe ich da was falsch verstanden?
Moppelmann am 04. August 2005
Es gibt genug Analysen, die zeigen, dass die DDR hinsichtlich des Umgangs mit und der Einflusshahme von staatlicher Gewalt eine Kontinuität des Dritten Reichs war. Dieses wiederum war beeinflusst vom anti-demokratischen Kaiserreich.
Ich habe mit Bedacht christlich und bürgerlich in einen Zusammenhang gestellt. Nicht die Anzahl der Gottesdienstbesuche ist entscheidend, sondern der gesellschaftliche Konsens, der auf christlichen und bürgerlichen Werten (März-Revolution) aufbaut. Exkurs: Errungenschaften der Märzrevolution waren beispielsweise Pressefreiheit, Rechtssicherheit, Eigentumsicherheit, Humanisierung des Strafrechts, Auflösung der feudalen Ordnung).
In der DDR wurde das verleugnet oder gar bekämpft und an dessen Stelle einen “neuen sozialistischen Menschentyp gesetzt. Die DDR war erfolgreich im Sinne von grösserer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Zwar erkämpfte das “Kollektiv” diese Teilhabe, aber die Motivation blieb die Vorstellung des individuellen Glücks. Die Kader- und Kampforganisationen legitimierten dies. Die Vorstellungen von Kollektivität waren die der Kollektivität der individuellen Bedürfnisse. Die sozialistische Erziehung sollte nur die Suche nach dem individuellen Glück dirigieren, da nur gewünscht werden konnte, was die sozialistische Gesellschaft in der Lage war, bereitzustellen. Dementsprechend ist das System zusammengebrochen, als klar war, dass nur noch der Mangel zu verwalten war und auch grösste Agitation nicht verhinderte, dass die Hoffnung auf das individuelle Glück begraben werden musste. Wie war das? “Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr”. Im Grunde also eine ziemlich egoistische Gesellschaft ohne ethische und humanistische Werte.
Aber vielleicht sehe ich das als diplomierter Soziologe zu theoretisch.
Jörg am 04. August 2005
“Es gibt genug Analysen, die zeigen, dass die DDR hinsichtlich des Umgangs mit und der Einflussnahme von staatlicher Gewalt eine Kontinuität des Dritten Reichs war.”
Noch mal: Wie bitte?? In welcher Form denn? Wurden die Bürgerrechtler, die sich ja inzwischen meist als rechte Bürger entpuppt haben, in Lager gesperrt und hingerichtet? Hab ich da irgendwas verpasst? Ich bin nun wahrlich kein Freund der Zone, aber Herr Globke und Herr Kiesinger waren wohl kaum im Staatsrat der DDR, soviel zum Thema Kontinuität des Dritten Reiches.
Aber wahrscheinlich sehe ich das als Soziologie-Abbrecher nicht analytisch genug.
Moppelmann am 04. August 2005
Jörg, ich glaube, dass man den Bürgern der Bundesrepublik den gleichen von dir angeführten Egoismus unterstellen darf: Jeder möchte genug verdienen, um sich ein wie auch immer geartetes „individuelles Glück“ leisten zu können.
Und nochmal: Ich glaube nicht, dass der DDR-Bürger an sich (was auch immer das sein mag) Teil einer Gesellschaft ohne „ethische und humanistische Werte“ war. Soweit ich weiß, wurde doch das Ideal der Familie gepriesen — sicherlich im sozialistischen Kontext, aber nichtsdestotrotz wurde die Gemeinschaft von Menschen als etwas Gutes angesehen. Das ist für mich ein zuhöchst humanistischer Gedanke.
Anke am 04. August 2005
Wenn man rote und braune Diktatur unter dem Blickwinkel des Totalitarismus betrachtet, wird man sicher funktionale Analogien finden. Aber unter ernstzunehmenden Zeitgeschichtlern oder Gesellschaftswissenschaftlern ist dieser Totalitarismus-Begriff aus den 50ern und frühen 60ern nicht mehr so en vogue.
In der Frage, inwieweit das Gesellschaftssystem der DDR die Tötung der neun Neugeborenen mitverursacht haben könnte, kommen wir damit nicht weiter…
mark793 am 04. August 2005
Und ich frag mich gerade, ob es das Wort „zuhöchst“ überhaupt gibt. Hm. (Woisderduden?)
Edit: ja, gibbet. Jetzt geht’s mir besser.
Anke am 04. August 2005
Der sozialistische Mensch, die sozialistische Familie, die sozialistische Gemeinschaft – diese Begriffe (Mensch, Familie, Gemeinschaft) haben inhaltlich nicht viel mit dem gemein, was wir in der bürgerlichen demokratischen Gesellschaft darunter verstehen.
Aufgaben, die in einer bürgerlichen Gesellschaft den selbstorganisierten oder traditionellen sozialen Einheiten (Familie, Vereine, Selbsthilfe, Kirchen, …) zufallen, wurden dem Staat übereignet, wenn es die “Planerfüllung” gefährdete.
@Moppelmann
Gerade in den 50er und 60er Jahren gab es Todesurteile. Willkürprozesse gegen Regimegegner waren an der Tagesordnung, das Gefängnis in Bautzen hat eine schreckliche Berühmtheit erlangt:
http://www.bautzenii.de/Stasiknast.htm
Immer wieder musste die BRD politische Gefangene freikaufen – die DDR hat quasi staatliche Geiselnahme betrieben.
Auch die sozialistische Gesellschaft nahm für sich das Prinzip der Gewalt in Anspruch. Immer wieder wurden Konflikte gewaltsam gelöst: Kritiker wurden ausgebürgert, Andersdenkende eingesperrt, Bücher, Filme, Zeitungen verboten. Gewalt, im Klassenkampf praktiziert, gilt als hoher moralischer Wert. Konrad Weiss beschrieb die Mauer als “perfekte Materialisierung des Prinzips Gewalt”.
Wolf Biermann hat die DDR einmal ein “elendes Erziehungsheim hinter Stacheldraht” genannt.
Keine guten Voraussetzungen für ein selbstbewusstes, furchtloses Auftreten und verantwortliches Handeln, wie es im Fall der Kindstötungen von Nöten gewesen wäre.
Dies zu meiner Meinung und meinen Erfahrungen – auch mit dem DDR-Regime.
Jörg am 04. August 2005
@Moppelmann
Ich schrieb, es hätte keinen “Klimawechsel” gegeben, das bedeutet, die im von mir angesprochenen Absatz erwähnte Kultur der Verleugnung (die es ja ganz sicher und verstärkt bereits im NS gab) blieb erhalten. Auf diesen Ausschnitt bezog sich mein Kommentar – nicht auf politische Analogien oder auf irgendwelche Totalitarismus-Debatten. Der Vergleich zwischen NS und DDR hinkt ansonsten natürlich ziemlich heftig. Wir reden aber hier über die “Steuerung” einer Gesellschaft von oben. Und das ist unbestreitbar eine Analogie zwischen NS und DDR – mit dem Grad nach unterschiedlichen Auswirkungen. Und so ganz nebenbei: Auch NS-Mittuer konnten im Osten etwas werden. Beispiele hat die Forschung in letzter Zeit verstärkt im Bereich Propaganda/Presse und Außenpolitik gefunden. Mitmachen lohnte sich nämlich auch im Osten wieder… Aber vielleicht sehe ich das als abgeschlossener Historiker zu differenziert ;)
vib am 04. August 2005
Nur weil Dinge unbequem sind, müssen sie noch lange nicht unwahr sein. Man sollte immer bei sich anfangen und überlegen, warum man etwas nicht nachvollziehen kann. Vielleicht, weil die eigene Sozialisation dies nicht zuläßt? Dann sollte man sich seine Offenheit gegenüber unbequemen Wahrheiten bewahren und nicht versuchen, sein Wertesystem Unbekannten überzustülpen.
Frank Farian am 04. August 2005
Egal was man von unserem Staat gehalten hat, aber im Gegensatz zur vom “bürgerlich-christlichen Wertekonsens” geprägten BRD brauchte bei uns niemand Angst haben ein Kind zu bekommen, Kinderkriegen wurden im Gegenteil sogar ausdrücklich gefördert und begrüßt, sowohl finanziell und beruflich hatte man wohl eher Vorteile als Nachteile, gerade in dieser Hinsicht ist es geradezu zynisch 9fachen Kindsmord auf DDR-Erziehung zu schieben.
Vielleicht sollte man die Ursachen eher in der kalten, menschenverachtenden Ellbogengesellschaft suchen in der diese Frau seit 16 Jahren lebt? Inwiefern ist denn die BRD gesellschaftlich hochwertiger als die DDR wenn Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter in ihren Wohnungen vor sich hin vegetieren und ein Kind nach dem anderen bekommen (und umbringen) ohne dass es jemandem auffällt oder dass es jemanden wirklich interessiert?
Und die Behauptung mit dem Verleugnen ist geradezu unverschämt, nur weil sie nicht offen darüber reden konnten bedeutet dass doch nicht dass die Menschen sich keine Gedanken gemacht hätten und als hirnlose Zombies herumliefen. So ziemlich jedem war klar dass es Mauertote gab, jeder wusste dass die Stasi herumspitzelt, dass die Bonzen das Volk belügen und betrügen – wenn es nicht so gewesen wäre dann hätten sich ja nicht im Herbst 89 überall hunderttausende Demonstranten auf die Straßen begeben.
Martin am 04. August 2005
War doch nicht alles schlecht…
Die Geburtenrate der DDR ist ein Mythos, der nicht totzukriegen ist. Die Geburtenraten in Ost und West sind bis 1976 ziemlich gleich gewesen. Erst die Einführung eines Babyjahrs mit vollem Lohnausgleich 1976, die Einführung der 40-Stunden-Woche für Mütter von mindestens zwei Kindern und die Möglichkeit zur Freistellung bei Erkrankung des Kindes für 4 bzw. bei zwei Kindern 6 Wochen führten zu einer leichten Steigerung der Geburtenrate. 1987 wurde das Kindergeld noch einmal deutlich erhöht und entsprach numerisch dem West-Niveau.
Die Familienpolitik der DDR hat, auch zusammen mit der Absicherung gegen Lebensrisiken, zu einer deutlich höheren Geburtenrate bei niedrigem Erstgeburtsalter geführt. Die Mütter in der DDR waren jünger, haben aber nicht unbedingt mehr Kinder bekommen. Wäre auch nicht gegangen, da die Versorgung der sozialistischen Bevölkerung mit Wohnraum ein Problem war, dass die DDR bis zum Ende nicht in den Griff bekommen hat.
Jedem war klar, was läuft? Und dann hat es 40 Jahre gedauert, bis die Leute auf die Strasse gingen? Da ist man geneigt, an hirnlose Zombies zu denken, obwohl das natürlich nicht stimmt, menschenverachtend ist und den DDR-Bürger unzutreffend verunglimpft.
Jörg am 04. August 2005
Im Augenblick scheint jede These recht zu sein, um in die Medien zu kommen. Hier warnt wohl rechts vor links? Lächerlich.
KleinesF am 04. August 2005
Wäre der Fall “im Westen” passiert, hätte man irgendwie ein ähnliches “schlüssiges” Gedankengebäude aufbauen können. Aber das geht am Problem vorbei.
Es geht nicht darum, wie gut oder schlecht die DDR war, es geht nicht darum, wie schwer es für den Einzelnen ist, sich “im Westen” zurechtzufinden.
Es geht darum, dass alle erschrocken sind. Wenn sowas überhaupt passieren kann, und es ist passiert, dann kann es auch in meiner Nachbarschaft passieren. Würde ich das merken? Wollte ich das merken? Wie würde ich reagieren?
Wie nennt sich das? Übersprungshandlung? Eine Diskussion über die DDR bringt wenigstens die eigene Betroffenheit zum schweigen.
Vorerst.
Michael am 04. August 2005
Seit wann trägt eine Staatsform die Verantwortung für menschliches Fehlverhalten, moralische Werte oder selbständiges Denken von einzelnen Personen?
Als ehemaliger “DDR Bürger” habe ich oft den Eindruck, dass mir in meiner Kindheit weitaus stabilere Werte vermittelt wurden, als einigen “westdeutschen” Gleichaltrigen und das hat in erster Linie etwas mit Erziehung und einem bestimmten sozialen Umfeld zu tun.
In zweiter Linie aber auch mit dem System, in dem ich aufgewachsen bin. Die “Gehirnwäsche”, der ich ausgesetzt war, hat mich nämlich zu einem verantwortungsbewussten Menschen gemacht, für den familiäre Werte einen hohen Stellenwert haben, der ein gesundes Maß an Achtung und Respekt für seine Mitmenschen hat und der immer wieder seinen persönlichen Egoismus zum Wohle einer Gruppe oder Gemeinschaft zurücksteckt.
Ich wurde oft genug Zeuge von Gleichgültigkeit und “Wegseh-Mentalität” auf beiden Seiten Deutschlands. Ich denke, die Entscheidung zum verantwortungsbewussten Handeln, zwischen “Gut” und “Böse”, muss jeder persönlich treffen und mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen leben.
Zudem (das stimme ich KleinesF vollkommen zu) ist es total lächerlich und beschämend, auf welche Weise einige Herren das tragische Schicksal von neun Babys ausschlachten, um ihre politisch motivierten Thesen in den Medien zu proklamieren.
Kopfkino am 04. August 2005
Auch wenn ich mir das eigentlich nicht hätte träumen lassen, aber bei diesem Thema stimme ich Frau Merkel zu: “Ein solch furchtbares Verbrechen kann und darf man nicht mit pauschalen Einschätzungen dieser Art erklären.”, (wobei sie Schönbohm meinte, nicht Maaz).
Moppelmann am 04. August 2005
Was die sozialistische Familie in der DDR angeht, teile ich Jörgs Skepsis. Die Familie wurde von offizieller Seite stets auch mit Skepsis gesehen; der Rückzug ins Familiär-Private war zwar keine Opposition, aber zumindest fehlende Loyalität. Von humanistischen Idealen ist das Meilen entfernt.
Aber eine einfache Erklärung dafür, dass Mord und Totschlag von Kindern unter sechs Jahren pro 100.000 Einwohner 2,8 Mal häufiger im Osten als im Westen dieses Landes vorkommt, habe ich nicht; gibt’s vielleicht auch nicht.
Alexander am 05. August 2005
@Jörg: Ganz recht, es waren sicher nicht sehr viel mehr Kinder als seinerzeit im Westen, aber wie du schon so schön festgestellt hast waren die Frauen meist recht jung, und das war es was ich meinte: man konnte Kinder bekommen wenn die Zeit reif war, ohne dass man sich Sorgen um Arbeitsplatz, Lehrstelle oder Geld hätte machen müssen, im Gegensatz zu den vielen Frauen heute die sich erst kurz vor 40 “zwingen” weil es sich dann nicht mehr lange herauszögern lässt. Und um dieses “Kinder sind kein Problem”-Gefühl in der DDR ging es.
Und dein zweiter Absatz – was soll man zu so viel Ignoranz sagen? Der blutig niedergeschlagene Aufstand von 53 und der mit Panzern niedergerollte Prager Frühling 68 waren genug Abschreckung und Drohung um nicht mal eben einfach so auf die Strasse zu gehen, der normale Mensch hängt nunmal am Leben. Aber schon klar, als satter Bundesbürger lässt sich aus dem bequemen Sessel vortrefflich dozieren was die hirnlosen Zombies alles falsch gemacht haben. Bah.
Martin am 05. August 2005
dem “Bah.” schließe ich mich mal aus vollem Herzen an … wie kann man so einen ***** schreiben … *roll*
Micha am 06. August 2005