Same, same, but very different

Als Lu im August letzten Jahres vorbeikam, um dem Kerl und mir besseres Essen beizubringen, war ihr Plan, uns zum Abnehmen zu kriegen. Mein Plan war eher, mal wieder nach einem Strohhalm zu greifen, um Frieden mit mir und meinen Kilos zu schließen. Oder abzunehmen. Oder die Weltformel auf dem Silbertablett präsentiert zu kriegen, mit der ich glücklich werde, ob mit oder ohne dicken Hintern. Oder abzunehmen. Oder in Ruhe gelassen zu werden. Oder abzunehmen. Ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur noch, dass ich eigentlich schon vorher wusste, dass ich nicht abnehmen würde, weil ich verdammt nochmal einfach nicht mehr abnehmen wollte. Eigentlich was das Thema schon für mich durch, weil es mich mürbe gemacht hatte, das ewige Auf-und-Ab, die konstanten Selbstvorwürfe, das Abnehmen-High und das Wiederzunehmen-Extra-Low. Denn das Abnehmen ist überhaupt nicht schwierig – das Halten des geringeren Gewichts ist das Fiese, das bei mir noch nie funktioniert hat. Abgenommen hatte ich schon tausendmal (mindestens), aber zugenommen eben auch.

Ich habe also bei so ziemlich allem, was Lu zum Thema „mehr Sport“ und „weniger Kohlendydrate“ gesagt hat, ein freundliches Gesicht gemacht und das Gehirn auf Durchzug geschaltet. Dafür habe ich anscheinend sehr gut zugehört bei allem, was sie zum Thema „Genießen“ und „Kochen“ und „gute Zutaten“ gesagt hat. An eine Sache erinnere ich mich auch noch: Gleich zu Beginn des Coachings fragte Lu mich, ob es ein Kleidungsstück gebe, in das ich wieder reinpassen wollen würde.

Uh-oh.

Ganz – heißes – Eisen. Jede/r, die oder der mit ein paar Pfunden zuviel kämpft (seien sie nun wirklich medizinisch bedenklich oder scheißegal), hat eben dieses Kleidungsstück im Schrank. Ich habe davon ungefähr 50 im Schrank. Beziehungsweise: Ich hatte davon 50 im Schrank. Im Laufe des letzten Jahres, in dem ich mich mit meinem dicken Hintern angefreundet hatte, habe ich genau diese Quatschklamotten in die Altkleidersammlung geworfen. Darunter war zum Beispiel ein apricotfarbener, kurzer Hosenanzug. Ich sag das nochmal: apricot. Hosenanzug. Kurze Hosen in apricot. Den habe ich 1990 (ich sag das nochmal: 1990) gekauft, und er hatte die sagenhafte Traumgröße von 42.

Auch das mag einige überraschen, aber selbst zu den Zeiten, als ich dünner werden wollte, wollte ich nicht die magische 38 haben. 1990 habe ich im Kino gearbeitet, mir passte die 42 und ich habe 80 Kilo gewogen. (Auch das können Diätgestörte sicher nachfühlen: Man weiß immer, wieviel man wann gewogen hat. Ist ja auch total wichtig, sowas zu wissen. Not.) 80 Kilo hört sich wahnwitzig viel an für jemanden, der 1,67 groß ist, aber ich fand mich damit toll. Ich sah aus wie die Schauspielerinnen aus den 40er Jahren: was vor der Hütte, breite Hüften, schöner Arsch, weiche Schultern und unsichtbare Schlüsselbeine. Beziehungsweise: Ich fand mich zehn Jahre später, als mir die 50 so gerade noch passte, im Nachhinein und auf den Fotos aus der Zeit toll. Im Jahre 1990 fand ich mich natürlich total widerlich und unfassbar fett. Ich erinnere mich bis heute an eine Bekannte meiner damaligen Chefin, die mich mal an der Kinokasse sitzen sah. Ich hatte ein langärmeliges, enges, schwarzes Shirt mit einem sehr weiten Rundausschnitt an. Und die Dame konnte sich kaum darüber beruhigen, was für eine tolle Haut ich hätte, was für schöne Schultern und wie gut ich aussah. Und anstatt mich darüber zu freuen, dachte ich nur, nimmt die Drogen? Ich seh doch total scheiße aus.

Zurück zur Altkleidersammlung, in die nun auch der zwanzig Jahre alte Hosenanzug wanderte. Bei einem einzigen Kleidungsstück habe ich innegehalten: meiner Golfhose. Die habe ich vor geschätzt vier, fünf Jahren das letzte Mal angehabt, als mein Rücken den Golfabschlag noch tolerierte. Sie war mir eindeutig zu klein, aber genau wie meine Schläger noch in der Wohnung stehen anstatt auf dem Dachboden, wollte ich mich auch von der Hose nicht trennen. Nicht weil ich geglaubt habe, da jemals wieder reinzupassen, sondern weil ich glaube, eines Tages wieder Golf spielen zu können. (Und wenn’s Minigolf ist, Herrgott.)

Also war meine Antwort auf Lus Frage: meine schwarze Golfhose. Ich hatte das schon völlig vergessen, bis ich vor einigen Wochen merkte, dass meine Jeans, die ich mir vor gut einem Jahr im Zuge meines Neustylings gekauft hatte, sehr locker saß. Und ich meine so locker, dass selbst der Gürtel beim letzten Loch angekommen war und ein, zwei weitere Löcher nicht hätten schaden können. Seit ich nicht mehr auf die Waage gehe (die steht in der Abstellkammer und nicht mehr im Bad), weiß ich überhaupt nicht mehr, wieviel ich wiege. Und ich habe komischerweise auch nicht darauf geachtet, ob meine Klamotten weiter werden oder nicht. Warum auch? Ich wollte ja nicht abnehmen.

Worauf ich allerdings geachtet habe, war mein Umgang mit Süßigkeiten. Denn die waren immer der Grund, warum ich dick war und bin. Solange Lu hier war, habe ich mir natürlich Süßes verkniffen (das macht man als dicker Mensch ja eh – wenn dir jemand zuguckt, isst man viel weniger, damit niemand denkt, was frisst die Alte denn so viel). Zusammen mit dem Verzicht auf Kohlehydrate am Abend und ein bisschen mehr Bewegung waren dann auch gleich ein paar Kilo Speck weg, weswegen ich beim Neustyling eine andere Kleidergröße wählen durfte. Aber die Kartoffeln und die Nudeln waren abends sehr schnell wieder da, denn, wie im ersten Absatz da ganz weit oben gesagt: Ich wollte nicht abnehmen, sondern genießen. Oder ne Nummer kleiner: normal essen können.

Also habe ich angefangen, mir in Kochblogs Rezepte rauszusuchen. Kochbücher zu kaufen. Gewürze auszuprobieren, deren Namen ich noch nie gehört hatte, bevor sie in einem Rezept auftauchten. Ich habe angefangen, normal zu essen. So einfach und doch so schwierig, wenn man es 25 Jahre lang nicht gemacht hat. Nur essen, mit guten Zutaten und einer gewissen Hingabe an die Zubereitung, mit der nötigen Ruhe (oder der passenden Fernsehsendung, schon gut) und einem Glas Wein dazu. Und nach dem Abendessen kam dann wie üblich die Schokolade.

Jede halbwegs vernünftige Diät (wenn’s überhaupt eine gibt) arbeitet mit einer Obergrenze, meist an Fett und Kalorien, und innerhalb dieser Vorgabe kann man essen, was man will. Eigentlich ne prima Sache, und so ist jedes Diätforum voll mit tollen Tipps, mit wie wenig Nahrung man so über den Tag kommen kann, ganz gleich, ob man dauernd friert oder die Haut schlechter wird, und wie großartig das ist, den Körper im künstlichen Hungerzustand zu halten. Theoretisch hätte ich bei jeder Diät jeden Abend Schokolade essen können, nur eben nicht in der Menge, die ich gewohnt war. Einen Kinderriegel zum Drauffreuen und dann gibt’s nichts mehr bis morgen. Hätte funktionieren können. Hat’s bei mir aber nie. Wenn ich einen Zehnerpack Kinderriegel im Kühlschrank hatte, hab ich den auch essen wollen. Wenn ich eine Tafel Schokolade aufmache, will ich die ganz und nicht nur einen Riegel. Weswegen ich bei jeder Diät spätestens nach vier Wochen einen riesigen Fressflash hatte, bei dem ich in fünf Minuten ein Weißbrot und ein Glas Nutella eingeatmet habe. Ich habe bei keiner Diät ein auch nur halbwegs gesundes Essverhalten gelernt, weil ich mir vieles versagt habe, was mir nun einmal schmeckt. Und deswegen hat bei mir auch nie eine Diät funktioniert, sobald ich mir wieder etwas gegönnt habe, was mir schmeckt. Was wieder meinen Punkt belegt, dass Diäten fürchterlicher Quatsch sind, weil man sich für den Rest des Lebens Dinge versagt, die einem gut tun. („Gut“ im Sinne von „mir geht’s gut“ und nicht im Sinne von „Ich hab den BMI, den irgendwelche Statistikwichser für mich als gut ansehen“.)

Und so habe ich im letzten Jahr gut und gesund gefrühstückt, ein ebensolches Mittagessen gehabt, noch besser zu Abend gekocht (was meist das Mittagessen für den nächsten Tag war) und habe direkt danach viel, viel Schokolade gegessen. Nicht, weil ich noch hungrig war, sondern einfach, weil ich es konnte. Weil mir niemand mehr gesagt hat, das sei eine „Sünde“.

Bis mir eines Tages aufgefallen ist, dass ich einfach keine Lust auf Schokolade hatte. Das habe ich schulterzuckend hingenommen, die Tafel wieder in die Speisekammer gelegt und 24 Stunden lang nicht daran gedacht. Einen Abend später merkte ich: Ich hab immer noch keine Lust auf Schokolade. Ich habe so viele gute und tolle und neue Geschmäcker im Mund und im Bauch, dass ich jetzt gerade keine Schokolade essen möchte. Ich habe, wie bei allem Essen, was ich im letzten Jahr zubereitet habe, in mich hineingehört: Hast du da jetzt Lust drauf? Hast du wirklich Hunger? Und zwar nicht mit dem missgünstigen Diät-Zeigefinger im Hinterkopf, der mir vorlügt, dass mir ein kalorienarmer Salat doch bestimmt viel besser schmecken würde als die Gnocchi mit Salbeibutter, sondern mit dem gutgelaunten Bauch und der noch besser gelaunten Seele: Auf was hast du jetzt so richtig Lust? Auf die Gnocchi? Dann machen wir jetzt Gnocchi.

Mein Kopf ist so gestört, dass er sehr, sehr lange geglaubt hat, er wird morgen sowieso wieder auf irgendeine bescheuerte Diät gesetzt, weswegen er grundsätzlich auf alles Lust hatte, was in meiner Nähe war. Wer weiß, wann’s wieder was Gutes gibt, also schnell her damit. Seit einigen Monaten kriegen Kopf und Bauch und Seele aber alles, was sie haben möchten und niemand zwingt sie mehr zu irgendwas, was sie doof finden. Und weil sie inzwischen wissen, dass sie immer und ewig Schokolade bekommen können, wollen sie plötzlich gar nicht mehr so dringend welche haben.

Seit einigen Monaten freue ich mich wieder auf etwas Süßes abends. Das ist mal eine ganze Tafel Schokolade. Das ist aber immer öfter nur ein Riegel. Oder ein riesiger Milchkaffee mit einem Stück Schokolade als Deko. Oder nur der Milchkaffee. Oder gar nichts. Ich kann essen, was immer ich will, und ich kann auch nichts essen, wenn ich das will. Das nennen die ganzen schlauen Bücher, die ich im letzten Jahr gelesen habe, „intuitives Essen“, und sie legen es jedem Diätgeplagten ans Herz.

Ich schütte seit einem Jahr an alles Olivenöl, und zwar nicht nur den 1-Punkt-Weight-Watchers-Teelöffel, sondern so viel wie Jamie Oliver, wenn er von „a little olive oil“ redet. Ich habe keinen Süßstoff mehr im Haus und trinke Tee mit Zucker. Im Kühlschrank ist immer Sahne vorrätig und wird gerne in Saucen gekippt (und noch lieber in Mousse oder Eiscreme). Ich backe gefühlt dauernd Kuchen und Muffins und Cupcakes. Ich haue Butter und Salz an mein Gemüse anstatt es kalorienarm zu dämpfen. Ich gönne mir sehr gerne ein Baguette oder Weißbrot statt des fiesen Vollkornbrots. Ich werfe Nüsse in Salate, karamellisiere alles, was in meiner Nähe ist, ich probiere, ich entdecke, ich genieße jeden verdammten Bissen, ohne einen Millimeter meines Gehirns damit zu belasten, wieviele Kalorien ich gerade zu mir nehmen. Und irgendwann war meine Jeans zu groß und der Gürtel zu weit und ich zog die Golfhose aus dem Schrank und sie passte.

Ich habe noch nie so gut gegessen wie im letzten Jahr, und ich habe 13 Kilo abgenommen. Weil ich endlich esse, was mein Körper haben will und was ihm gut tut und was mir schmeckt und was mir Spaß macht. Weil ich keine Selbstvorwürfe mehr zulasse und mich ärgere, wenn ich die ganze Tafel Schokolade gegessen habe, wo doch gestern nur ein Stück gereicht hat. Weil ich mich aufs Essen freue und aufs Kochen und aufs Genießen.

Und die Waage ist nach dem einmaligen Draufsteigen und Wundern wieder in der Abstellkammer gelandet.