Bücher Mai 2011
Herta Müller – Atemschaukel
Sehr, sehr beeindruckend. Und wieder eins von den Büchern, die ich persönlich so gerne mag, weil sie kreativ mit Sprache umgehen. Wobei „kreativ“ hier nicht putziges Werbedeutsch heißt, sondern: Sprache macht Dinge fühlbar, die ich vom Verstand her nicht erfassen kann. In diesem Fall das Leben in einem russischen Gefangenenlager nach Ende des 2. Weltkriegs. Müller erschafft Bilder, die den Hunger beschreiben, das Heimweh, die Zwangsarbeit, die ungeschriebenen Regeln, die Läusebisse, die Angst und wieder und wieder den Hunger und das Heimweh („als ob ich es bräuchte“). Das Buch teilt sich in diverse Vignetten, die zusammen ein sehr deutliches und intensives Gesamtbild ergeben. Man weiß von Anfang an, dass der Erzähler nach fünf Jahren wieder nach Hause, nach Siebenbürgen kommt –
„Auf dem Holzgang, genau dort, wo die Gasuhr ist, sagte die Großmutter: ICH WEISS DU KOMMST WIEDER.
Ich habe mir diesen Satz nicht absichtlich gemerkt. Ich habe ihn unachtsam mit ins Lager genommen. Ich hatte keine Ahnung, dass er mich begleitet. Aber so ein Satz ist selbständig. Er hat in mir gearbeitet, mehr als alle mitgenommenen Bücher. ICH WEISS DU KOMMST WIEDER wurde zum Komplizen der Herzschaufel und zum Kontrahenten des Hungerengels. Weil ich wiedergekommen bin, darf ich das sagen: So ein Satz hält einen am Leben.“ –,
aber trotzdem verliert man auf den Buchseiten zwischen Gefangennahme und Heimkehr sehr oft den Mut, so eindringlich und einzigartig sind die Beschreibungen. Ich habe mich oft an Celans Todesfuge erinnert gefühlt, nur eben auf deutlich mehr Seiten. Manchmal schwer erträglich, trotzdem oder genau deswegen eine ganz große Empfehlung.
„Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich.
Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch.
Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird: Da war ich. (…)Ich weiß mittlerweile, dass auf meinen Schätzen DA BLEIB ICH steht. Dass mich das Lager nach Hause gelassen hat, um den Abstand herzustellen, den es braucht, um sich im Kopf zu vergrößern. Seit meiner Heimkehr steht auf meinen Schätzen nicht mehr DA BIN ICH, aber auch nicht DA WAR ICH. Auf meinen Schätzen steht: DA KOMM ICH NICHT WEG. Immer mehr streckt sich das Lager vom Schläfenareal links zum Schläfenareal rechts. So muss ich von meinem ganzen Schädel wie von einem Gelände sprechen, von einem Lagergelände. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen. Man übertreibt im Einen wie im Anderen, aber DA WAR ICH gibt es in beidem nicht. Und es gibt auch kein richtiges Maß.“
(Leseprobe bei amazon.de)
Siri Hustvedt (Uli Aumüller, Übers.) – Der Sommer ohne Männer
Die drei weiteren Hustvedts, die ich bisher gelesen habe (1, 2, 3), haben mir besser gefallen – ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich sie auf Englisch gelesen habe und ich mich dabei von der Sprache über den manchmal mageren Inhalt habe hinwegtäuschen lassen. Der Sommer ohne Männer kam mir ein bisschen wie eine unfertige Fingerübung vor. Schön, dass mal so gut wie nur Frauen und Mädchen was zu sagen haben, aber blöderweise geht es eben doch um die Kerle. Die Hauptperson und Ich-Erzählerin versucht einen Sommer lang, über die Trennung von ihrem Ehemann hinwegzukommen, der sich mit einer Jüngeren vergnügt. In dieser Zeit gibt sie einen Lyrik- und Creative-Writing-Kurs für Mädchen und besucht gleichzeitig ihre Mutter in ihrer betreuten Wohnsiedlung und trifft Freundinnen ihrer Mutter. Neben ihrem gemieteten Haus wohnt eine kleine Familie, von der wir nur die Mutter und die beiden Kinder kennenlernen … aber hier beginnt dann auch mein Genöle: „kennenlernen“ ist einfach zu hoch gegriffen. Alle Figuren bekommen ein bisschen Platz und eine kurze Hintergrundgeschichte, aber wirklich viel weiß ich über keine von ihnen. Jede scheint nur aus einer Eigenschaft zu bestehen, an deren Oberfläche wir manchmal kratzen, aber nie tief genug, um die Figur für mich interessanter zu machen. Und was mich richtig genervt hat, war die persönliche Ansprache der Ich-Erzählerin an den oder die Leser_in auf Seite 152 von 300, die sinngemäß lautet: „Es passiert wirklich noch was, schön, dass Sie bis hierhin bei mir geblieben sind; dafür möchte ich Sie küssen.“ So wenig Zutrauen in die eigene Story? Pffft.
Julia Albrecht/Corinna Ponto – Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog.
Da zitiere ich faul den Klappentext, den ich für sehr gelungen halte – genauso gelungen wie das Buch, das sehr persönlich und nachvollziehbar einlöst, was der Umschlag verspricht:
„30. Juli 1977: Jürgen Ponto empfängt Susanne Albrecht, die Tochter seines Jugendfreundes Hans-Christian Albrecht, in seinem Haus in Oberursel. Ihre Begleiter Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar schießen auf Jürgen Ponto. Corinna, seine Tochter, ist zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt, Julia, Susannes Schwester, 13 Jahre.
Nach dem Mord war das Band zwischen den Familien durchschnitten. 30 Jahre danach nimmt Julia Albrecht – die Patentochter von Jürgen Ponto – Kontakt auf zu Corinna Ponto – der Patentochter von Hans-Christian Albrecht. Ein Briefwechsel entspinnt sich, eine erste Begegnung findet statt. Im Mittelpunkt ihres Buches stehen die Geschichte der RAF und der Umgang damit, die Fragen nach Schuld und den Hintergründen der Täterschaft, nach den Möglichkeiten von Aufarbeitung und Versöhnung. Und beide Frauen tauschen sich darüber aus, wie man mit den eigenen Kindern über diesen Teil der deutschen Geschichte spricht, der doch auch Teil der Geschichte ihrer Familien ist.“
Thomas Pletzinger – Bestattung eines Hundes
Großartig. Genau meins. Zwei Geschichten in einer, wobei die eine an nur vier Tagen spielt, die andere sich über Jahre hinzieht, es gibt Rückblenden und Vorgriffe und Postkarten und Zeichnungen und alles passt zusammen. Der Journalist Daniel Mandelkern soll ein Porträt über den Kinderbuchautor Svensson schreiben und fährt dazu an den Luganer See. Schon auf dem Flug dorthin trifft er Tuuli mit ihrem kleinen Sohn, die beide das gleiche Ziel haben. Und am See wartet nicht nur der Autor, sondern auch ein dreibeiniger Hund. Mehr will ich gar nicht erzählen, denn das Buch hat mich nicht unbedingt mit der Geschichte umgehauen, sondern mit seinem Stil. Die zwei Storys klingen nämlich auch anders, und erst zum Schluss läuft alles gefühlt auf eine Sprache hinaus. Und was für eine Sprache! Voller Kraft und Herzblut und ohne Furcht. Ja, genau: Die Furchtlosigkeit hat mir so gefallen, die Kompromisslosigkeit, und die bewundernswerte Fähigkeit, sowohl grob und derbe als auch unglaublich zärtlich zu klingen. Meine zweite große Empfehlung. (Und da unten kommen noch zwei. War ein guter Monat.)
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Experiment: auf Empfehlungen von Buchhändlerinnen hören. Normalerweise suche ich mir meinen Lesestoff zusammen, indem ich Blogs abklappere oder den immer gleichen Rezensent_innen traue, aber diesmal bin ich zu stories! marschiert und habe gesagt: „Ich hätte gerne eine deutschsprachige Familiengeschichte, und ich lese gerne Franzen und Hustvedt.“ (Da hatte ich den männerlosen Sommer noch nicht gelesen.) Vier Bücher wurden mir empfohlen, drei habe ich schon durch:
Rolf Lappert – Nach Hause schwimmen
Nachdem ich den Lappert zugeklappt hatte, habe ich mal rumgeguckt, was der Rest der Welt so von dem Buch hält. Sehr oft bin ich über die Formulierung „erinnert an John Irving“ gestolpert. Daran hat mich das Buch ehrlich gesagt nicht erinnert, aber ich erkenne im Nachhinein Parallelen. Nach Hause schwimmen erzählt von Wilbur, einem Quasi-Waisenjungen (Mutter stirbt bei der Geburt, Vater macht sich aus dem Staub), der von Amerika nach Irland verpflanzt wird. Das Buch beginnt fast mit dem Ende, wo wir Wilbur als jungen Erwachsenen in einer noch nicht näher definierten Institution kennenlernen; anscheinend hat er versucht, sich umzubringen. Der zweite Erzählstrang springt in die Vergangenheit, und dort erleben wir alles, was Wilbur seit dem Tag seiner Geburt auch erlebt. Zum Schluss treffen sich die beiden Erzählstränge – und ich wusste immer noch nicht, ob mir das Buch gefällt oder nicht.
Ich mochte die Hauptfigur mit all ihren Macken und Talenten, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass so ziemlich alle Eigenschaften Wilburs völlig vergeudet werden. Da hat man einen angeblich hochbegabten, musikalischen Knirps, und dann macht die Story nichts draus. Da geht er ewig ins Kino und schreibt ein Buch über Bruce Willis – und es versandet einfach. Die vielen Menschen, denen Wilbur begegnet, haben auch alle ihre Story, und viele von ihnen klingen großartig – und dann hören sie einfach auf oder werden in zwei Sätzen abgehandelt. Und das war für mich der große Unterschied zu Irving, der nicht davor zurückschreckt, mal eben 50 Seiten für eine Nebenfigur aufzuwenden und damit auch der Hauptfigur oder der Handlung mehr Tiefe zu verleihen. Nach Hause schwimmen hat eine schöne Geschichte, aber für mich hat sie sich gelesen wie ein langes Drehbuchexposé und nicht wie ein Roman. Ich ahne, dass ich den wegen Herrn Franzen empfohlen bekommen habe, denn in seiner epischen Breite ähnelt das Buch schon ein bisschen an Freedom. Leider nicht in der Tiefe. Daher eher ein Fragezeichen als eine Empfehlung.
(Leseprobe bei amazon.de)
Stephan Thome – Grenzgang
Dafür war das hier ein Volltreffer. Grenzgang hat mir sowohl von der Sprache als auch von der Geschichte gefallen, obwohl es etwas zäh anfängt. Diese Zähigkeit stellt sich relativ schnell als das Hauptkriterium heraus – die Buchstaben scheinen in Honig vor sich hinzufließen, aber genau diese Trägheit passt hervorragend zum Inhalt.
In einem hessischen Dorf wird alle sieben Jahre für drei besoffene Tage Grenzgang gefeiert. Die Hauptfigur Kerstin hat an einem dieser Grenzgänge ihren Mann kennengelernt, und sieben Jahre später erfährt sie, dass er gerade dabei ist, sich eine jüngere Frau anzulachen. Die Geschichte erzählt vom Eheleben, von Leben nach der Scheidung, von Geschwistern, Eltern, Kindern und neuen Partner_innen. Klingt alles sehr unaufregend, aber mich persönlich hat genau diese Alltäglichkeit so in den Bann gezogen. Thome seziert ganz gerne mal das Gefühlsleben seiner Protagonist_innen, aber es ufert nie aus, sondern lässt den Figuren immer noch Raum, sich weiterzuentwickeln – und gleichzeitig stellen wir mit ihnen Wesenszüge an ihnen fest, die sich seit vier Grenzgängen halten. Schöne Dialoge, gelungene Beschreibungen, und trotz der Mattigkeit, die über allem liegt, hat das Buch einen unwiderstehlichen Sog.
(Leseprobe auf amazon.de)
Hanns-Josef Ortheil – Die Erfindung des Lebens
Wenn ich mich recht erinnere, meinte die Buchhändlerin: „Ich weiß nicht, ob das was für Sie ist.“ Jetzt kann ich sagen: aber sowas von. Lebens war mein liebstes Buch der Empfehlungen, was wirklich nicht daran liegt, dass es teilweise in Rom spielt und ich genau da angefangen habe, es zu lesen. Die Geschichte ist autobiografisch inspiriert: Ortheil war die ersten sieben Jahre seines Lebens stumm, und es hat mich sehr fasziniert, ihm und seiner ebenfalls verstummten Mutter dabei zuzusehen, wie sie ihre Worte wiederfinden. Die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend vermischt Ortheil mit einer Geschichte im Hier und Jetzt, die eben in Rom stattfindet und natürlich auf Dinge zurückgreift, die in der Vergangenheit passiert sind. Die Sprache ist ziemlich schlicht, die Dialoge wirken dagegen sehr geschrieben, aber seltsamerweise hat mich das hier überhaupt nicht gestört. Das ganze Buch fühlt sich allein durch seine Prämisse sehr fremdartig an, und deswegen passen auch die eingestreuten gedrechselten Sätze. Sehr schönes Ding.