„Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder …“
Ich liebe Gottesdienste, aus denen ich beseelt komme. Normalerweise habe ich ein wenig zu mir selbst gefunden, ich bin ruhiger geworden, habe die Woche abgeschlossen, freue mich auf die nächste oder sehe ihr wenigstens gelassener entgegen – aber die Gottesdienste, die mich noch tagelang begleiten, sind die, in denen ich wirklich das Gefühl hatte, etwas für meine Seele mitgenommen zu haben und nicht „nur“ für meinen unruhigen Geist.
Gestern war ich wieder mal in einem solchen Gottesdienst. Der Pastor war eine Vertretung, und ich weiß leider seinen Namen und seine Heimatgemeinde nicht, sonst würde ich hier nichts lieber tun als sie zu verlinken. Ich hatte ihn schon öfter predigen gehört; er gehört zu den Pastoren, die gerne die Kanzel verlassen und sich mitten zwischen die Kirchenbänke stellen, um der Gemeinde näher zu sein. Gestern ging es auch passenderweise um uns, denn der Predigttext kam aus dem Paulusbrief an die Epheser (Kap. 1, Vers 15–20). Der Pastor sprach viel über die „erleuchteten Augen des Herzens“, die Flammen, die Gott in uns anzündet und durch die wir leuchten. Was mich besonders beeindruckt hat, war die Gewissheit, mit der der Pastor uns von Gott und seinem Wirken erzählt hat. Er begann den Gottesdienst mit einer sehr persönlichen Geschichte: Er erzählte uns, dass heute der vierte Sonntag nach Epiphanias sei, was für ihn ein sehr wichtiges Datum sei, denn an eben diesem Tage sei ihm einmal ein Engel erschienen.
Ich habe noch nie jemanden sagen hören, dass ihm ein Engel erschienen sei. Außerhalb der Kirche schon mal gar nicht, und wenn mir jemand so etwas erzählen würde, würde ich ihn wahrscheinlich recht ungläubig (im wahrsten Sinne des Wortes) anschauen. Ich weiß nicht, ob ich an Engel glaube; ich zweifele sowieso des Öfteren an allem, nur um zwei Minuten später wieder von allem überzeugt zu sein. Der Pastor hatte damit anscheinend keine Probleme. Nachdem er ganz schlicht gesagt hatte, dass ihm an diesem Sonntag ein Engel erschienen sei, stockte er kurz, hielt inne – und lächelte plötzlich, wahrscheinlich bewegt von seiner eigenen Erinnerung an diesen Moment. Man sah ihm an, wie wundervoll dieses Gefühl gewesen sein muss, und nur durch sein Lächeln und den kurzen Moment des Innehaltens war ich auf einmal sicher, dass er wirklich einen Engel gesehen haben musste. Er erzählte uns dann die ganze Geschichte: 1944 war er mit Mutter und kleinem Bruder auf der kuhrischen Nehrung und spazierte in den Dünen umher. Er und sein Bruder sahen auf einmal etwas Großes, Glitzerndes am Strand liegen und rannten zu dem unbekannten Ding hin, um es genauer zu betrachten, als auf einmal ein Mann neben ihnen stand und sie fragte: „Wollt ihr eine Himmelfahrt machen? Das ist eine Bombe!“ Die beiden Kinder erschraken und rannten zu ihrer Mutter, um ihr von dem Mann zu erzählen, der sie gewarnt hatte – worauf die Mutter nur fragte: „Was für ein Mann? Dort ist doch niemand.“
Ich habe noch den ganzen Tag über diese Geschichte nachgedacht. Unter anderem habe ich auch an Anne Lamott gedacht, die in ihrem Buch Traveling Mercies ebenfalls von Begebenheiten erzählt, die sie in ihrem Glauben bestärken (einige der Geschichten sind auf Salon zu lesen, wo sie Kolumnistin ist). Sie hat meines Wissens zwar noch nie eine so deutliche Begegnung gehabt, aber auch sie ist der Überzeugung, dass vieles, was ihr passiert, eine Botschaft von Gott ist.
Ich nehme an, dass viele von uns Dinge erleben, bei denen sie nachher sagen: Das war doch kein Zufall. Oder: Was für ein Glück, dass dieser Fremde da war, um mir zu helfen. Sie werden diese Begebenheiten vielleicht nicht als Botschaften von Gott ansehen, sondern als Glück, Schicksal, was auch immer. Ich für meinen Teil habe jahrelang mit der Frage gehadert, warum mir ein Mensch wie Karl geschenkt und dann so schnell wieder genommen wurde. Wir hatten etwas mehr als dreieinhalb Jahre Zeit füreinander (wenn auch auf zwei verschiedenen Seiten des Ozeans), und ich habe mich nach seinem Tod sehr oft gefragt, was der Sinn unserer Begegnung war. Wieso musste ich meinen Seelenverwandten wieder gehen lassen, wo ich doch mein Leben lang nach ihm gesucht hatte? Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass es gar nicht nötig war, unser Leben gemeinsam zu verbringen. Ich habe aus der Begegnung mit ihm sehr viel mitgenommen: Dadurch, dass wir uns so ähnlich waren, habe ich viel Positives über mich gelernt – aber auch viel Negatives. Es war manchmal sehr erschreckend für mich, ihm bei irgendetwas zuzusehen und zu merken: Ich bin genauso. Und es ist kein schöner Anblick. Ich habe vieles an mir geändert, was nicht gut war. Ich habe aber gleichzeitig vieles an mir zu schätzen gelernt, was ich sonst kaum beachtet hätte. Dafür bin ich dankbar. Sehr dankbar.
Vielleicht war Karl ein Engel. Vielleicht ist er von einem Engel geschickt worden, um in meinen dunklen Zeiten auf mich aufzupassen, denn er ist in dem Moment gegangen, als es mir besser ging, als ich eine weitreichende Entscheidung getroffen hatte, die mich zu mir selbst geführt hat. Vielleicht war er eine Botschaft von Gott, damit ich mich besser um mich kümmere. Vielleicht war er aber auch einfach nur ein Mensch, der mir zufällig über den Weg gelaufen ist. Ich weiß es nicht. Aber seit gestern, seit dem Gottesdienst, in dem mir jemand aus tiefstem Herzen versichert hat, dass er einem Engel begegnet sei, fühle ich mich auf eine seltsame Weise getröstet. Und bestärkt darin, Karl zwar zu vermissen, aber gleichzeitig sicher zu sein, dass es ihm gut geht, wo immer er auch ist.
Ich bin froh über jeden schönen Gottesdienst. Ich bin froh über alles, was ich neu über mich lerne oder was aus meinen eigenen Tiefen emporsteigt. Und ich bin beseelt von jedem Menschen, der mich so anspricht wie der Pastor gestern und der mich noch ein Stück weit begleitet, auch wenn ich schon längst wieder aus der Kirche gekommen bin.
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(PS: Der Titel dieses Eintrags ist eine Zeile aus dem Lied Der Engel aus den Wesendonck-Liedern von Richard Wagner, das ihr hier anhören könnt.)