Bayreuth 2011: Drumherum und drinnerin

Ich hatte völlig vergessen, wie winzig Bayreuth ist. Im Tran buchte ich das gleiche Hotel wie 2005, obwohl ich ja damals schon über fehlendes WLAN gequengelt hatte. Diesmal waren iPhone und iPad dabei, und das reichte dann auch locker. Die Taxifahrerin war wahrscheinlich nicht ganz so glücklich über meine Hotelwahl, denn die Fahrt vom Bahnhof dorthin dauerte ungefähr anderthalb Minuten und kostete mich 4,30. Die Dame schlug noch 50 Cent für ein Gepäckstück auf. Macht man das so bei euch im Süden? Oder nur zu Festspielzeiten? Oder nur, wenn die Fahrt so arschkurz ist? Ich habe trotzdem auf 8 aufgerundet, sonst wär mir das selber peinlich gewesen.

Das Hotel bot einen Shuttleservice zum Festspielhaus an, weswegen ab 15 Uhr der Vorplatz des Hotels mit Pinguinen und Damen in Abendroben überfüllt war. Trotzdem kann man natürlich drängeln, um in den Bus zu kommen, denn anscheinend lernt man auch in 70 Lebensjahren nicht, dass wir schon irgendwie alle irgendwo ankommen werden. Nebenbei: Liebe Busfahrer_innen: Wenn der Bus voll mit Menschen ist, diese auch noch Abendgarderobe tragen und es draußen 25 Grad sind, ist die vorhandene Klimaanlage zu benutzen. Immer. Ohne Ausnahme. Herrgottnochmal. Wozu hat die denn wer erfunden?

Only in Bayreuth: mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommen und nur über Wagner reden. Mein Lohengrin-Begleiter und ich wollten den Abend nach dem Schwan noch bei einem Kaltgetränk ausklingen lassen. Irrsinnigerweise machen alle Restaurationen auf dem Grünen Hügel während des 3. Aktes zu, obwohl sie danach sicherlich noch das eine oder andere loswerden könnten. Weder Google Maps noch Qype waren eine große Hilfe bei der Locationfindung, und deswegen trabten Begleiter und ich zu des Begleiters Privatunterkunft in der Nähe des Festspielhauses; ein älteres Ehepaar, das zu Festspielzeiten drei seiner Zimmer an Mitwirkende oder Publikum vermietet. Dort erhielten wir einen Kneipentipp direkt um die Ecke. Wir also in die angegebene Richtung, und auf dem Weg dorthin kam uns ein weiteres Paar entgegen, das im gleichen Haus wie der Begleiter wohnte. Sie kamen gerade aus der Pinte und meinten, der Kneipeneingang vorne wäre verschlossen, wir sollten über den Hof in den Biergarten gehen. Sie hätten die Wirtin gefragt, warum die Vordertür geschlossen wäre, woraufhin diese gemeinte hätte, wenn sie offen wäre, würden ja die ganzen Leute reinkommen. Kinnings: Will bei euch keiner Geld verdienen? Nehmt euch ein Beispiel an der Taxitante!

Als Entschädigung gab’s im Biergarten schöne Bänke und noch schönere Gartenstühlchen mit Lehne, auf die ich sehr großen Wert lege. Die waren leider größtenteils besetzt, aber ein älteres, leger gewandetes Paar winkte uns zu sich an den Tisch und meinte, wir könnten uns gerne dazusetzen. Natürlich wurden wir gefragt, wie uns die Oper gefallen hätte – an unseren Klamotten waren wir deutlich als Festspielgäste zu erkennen –, woraufhin wir begeistert schwärmten, und die Dame etwas pikiert meinte, ihr Ding wär das ja nicht so gewesen. Und schon waren wir mitten im Gespräch: Sie ist geborene Bayreutherin, mit Eva Wagner zur Schule gegangen, guckt sich seit 50 Jahren die Generalproben an und kennt wirklich alle Aufführungen der letzten Jahrzehnte. Sie erzählte uns von den Wieland-Wagner-Inszenierungen in den 50er und 60er Jahren, wobei ich sehr andächtig lauschte, wir diskutierten über Schlingensief, Peter Hofmann, Placido Domingo, Waltraud Meier, Patrice Chéreau und Pierre Boulez, über die Religiösität im Parsifal und ob man unbedingt Drachen und Riesen auf der Bühne brauche. Dazu genoss ich das selbstgebraute dunkle Bier und fand es schlicht großartig, einen Sommerabend damit ausklingen zu lassen, mit mir bis vor fünf Minuten unbekannten Menschen Gemeinsamkeiten, Vorlieben und Differenzen auszudiskutieren, in Opernklamotten, T-Shirt und Jeans, mit Wein oder Bier vor der Nase, während ich mir mit der Festspielkarte Luft zufächelte.

Auf den Parsifal am zweiten Bayreuth-Tag freute ich mich zusätzlich, denn ich traf endlich Katharina von esskultur.at, die mit Begleitung erstmals Karten ergattert hatte. Wir trafen allerdings auch auf alle Wespen, die in diesem Sommer Hamburg anscheinend eher meiden, sich aber dafür in Bayreuth zusammenrotten, vor allem da, wo es warm ist und es Sekt, Festspiel-Bratwurst (ja, wirklich), Lachshäppchen, Torte und Eis gibt. Eine von den Mistviechern schlich sich von hinten an mich ran, ich bemerkte sie erst, als sie an meinem Ohr rumbrummte, woraufhin ich erstens einen – dem Ort absolut angemessenen – spitzen Schreckensschrei ausstieß und zweitens die Hälfte meines Sektglases über Katha auskippte. Sie nahm es gelassen und bezeichnete es als Bayreuth-Taufe, mir persönlich war das natürlich alles äußerst unangenehm (den ersten Eindruck gleich wieder verkackt). Trotzdem verbrachten die beiden auch die zweite Pause mit Mama und mir, was mich sehr gefreut hat.

Auf dem Weg nach Bayreuth hörte ich im Zug den Holländer, zuhause nochmal zum Ausklingen und Runterkommen den Lohengrin, und seitdem ich wieder zur Arbeit gehe bzw. am Agenturschreibtisch sitze, läuft Beethoven auf dem iPod bzw. dem MacBook, wenn ich mich mal von der Welt abkapseln will. Das Alltagsgefühl kam viel schneller an mich ran als nach Rom, und leider nervt es diesmal weitaus mehr. Rom war eine Stadt wie Hamburg, das war echtes Leben. Bayreuth ist ein kleiner Sonderplanet, die Musik, die auf ihm gespielt wird, ein anderes Universum, und die Inszenierungen sind Reisen ins All. Das passt alles noch nicht so recht mit den Autokatalogen und der anstehenden Buchveröffentlichung zusammen, und mich hat seit Tagen ziemlich die Schwermut gepackt. Hilft auch nicht wirklich, dabei Beethoven zu hören. Vielleicht sollte ich meinen Shuffle anmachen und wieder weltliche Musik hören.

Vielleicht sollte ich aber auch genau das nicht tun.

Doppelseufz mit Fragezeichen. (Keine Pointe.)