Eine Schokolade auf das Leben oder:
Wie man in der Lebensmittelbranche arbeitet, ohne ein Teil von ihr zu sein

(Für die deutsche Ausgabe der WIRED, die gestern erschien, habe ich einen Artikel über Alyssa Jade McDonald, Gründerin von Blyss, geschrieben. Ich hatte eine bestimmte Zeichenzahl zur Verfügung, die ich im ersten Entwurf natürlich völlig ignorierte, weil ich so viel schönes Zeug zu erzählen hatte. Die gekürzte Fassung steht in der Zeitschrift, und darin geht es eher um die technologischen Aspekte. Mich haben andere Dinge aber mehr interessiert: wie Schokolade zu Müll verkommen konnte und welche Marketingstrategie Blyss verfolgt zum Beispiel. Das steht alles in der „extended version“, und die kommt jetzt:)

“And now I’ll show you how to experience chocolate.”

Ich sitze mit Alyssa Jade McDonald, der Gründerin von Blyss, auf einer viel zu tiefen Couch eines Frankfurter Luxushotels. Seit einer guten Stunde erzählt McDonald begeistert von ihrem Produkt: Blyss, einer Serie an hochwertigen Schokoladen und Kakaoprodukten. Zwischen uns liegen diverse Reagenzgläser; sie sind mit Bruchstücken von Kakaobohnen gefüllt, mit dunklen Schokoladenplättchen, mit einer Kakaobutter, die McDonald flächendeckend auf meinem Arm verteilt hat und die mich mit einem weichen Duft umhüllt. McDonald, im knielangen schwarzen Kleid, mit goldenem Lidstich und auf Absätzen unterwegs, auf denen ich nicht mal stehen könnte, hantiert mit einem Kellnerbesteck, um die Reagenzgläser zu öffnen, lacht, gestikuliert, erhitzt die Kakaobutter mit einem Feuerzeug, lacht wieder, zeigt mir blitzschnell Bilder aus Ecuador auf ihrem iPad und strahlt, wenn sie von ihren Plantagen erzählt. „Wir haben vier Plantagen in Ecuador, eine im Landesinneren, eine am Río Babahoyo und zwei direkt am Meer. Ich glaube, dass die Kakaobäume ihre Einflüsse aufnehmen. Wie ein guter Wein, dessen Geschmack sich auch durch anderes Terroir ändert. Hier, probier mal.“

McDonald greift sich mal wieder meinen Arm, wo ich hungrig einfach ein Stück Schokolade aus der Metallbox nehmen wollte. Keine Chance. „Du musst die Schokolade erstmal etwas anwärmen.“ Sie legt mir ein Stück auf den Handrücken, wir warten, McDonald plaudert und gestikuliert weiter, und ich gucke erwartungsvoll auf meine Hand, ob sich da irgendetwas Wunderbares ereignet. McDonald reibt nun die leicht angewärmte Schokolade auf meiner Haut entlang; schön sieht das nicht aus, aber: „An diesen Streifen erkenne ich inzwischen die wahren Connaisseure. Riech mal dran.“

Riech mal. Natürlich. Bei einem Wein setze ich ja auch nicht die Flasche an den Hals, sobald ich sie entkorkt habe, sondern gieße den Wein in ein Glas, betrachte ihn, schnuppere an ihm, um erste Aromen wahrzunehmen. Bei dieser Schokolade geht das auch: Ich erkenne herben Kakao, überhaupt nicht bitter, obwohl das braune Stück einen Kakaogehalt von 65 Prozent hat. Dazu einen blumigen Duft, sehr zart, tropisch-mild, nicht zu süß. „Das ist Ishpingo, ein Lorbeergewächs. Wir destillieren das Aroma per Bedampfung aus der Blüte und verarbeiten es in der Schokoladenmasse. Jetzt darfst du’s essen.“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, nachdem ich mich schon genüsslich durch die Reagenzgläser gefuttert habe. Die Schokolade zergeht langsam auf der Zunge, der blumige Geschmack steigt mir in die Nase und erfüllt meinen ganzen Mund. Dann kommt ein leichtes Pfefferaroma dazu, das kurz die Blüte überdeckt, die sich aber wehrt und geschmeidig zurückkommt. Und dann bleibt der tiefe, dunkle, saftige Kakaogeschmack. Ich hätte jetzt gerne einen Rotwein. Oder einen Whisky. Oder ein Schaumbad mit einem Vorleser bei Kerzenlicht, der mir den Rücken krault und zwischendurch Arien singt.

Blyss ist eine sehr junge Firma; gerade mal ein knappes Jahr arbeiten McDonald und ihre acht Kollegen daran, Schokolade wieder den Status zu geben, den sie verdient hat: eine Speise der Gottheiten zu sein und nicht mehr das billige Zeug aus größtenteils Fett und Zucker, das falschen Trost verspricht. Das Besondere an Blyss-Schokolade: Sie entsteht unter besonderen ethischen und geschmacklichen Ansprüchen zum größten Teil in Handarbeit, und das fertige Produkt folgt neuen Vertriebsstrukturen.

800 Familien arbeiten für Blyss in landwirtschaftlichen Genossenschaften auf den Plantagen in Ecuador, ernten die Kakaofrüchte und lassen die Bohnen zunächst auf hohen Gestellen lufttrocknen. Blyss verwendet ausschließlich Bohnen der Sorte Arriba Nacionale, die für ihr fruchtiges Aroma bekannt ist. Die großen Konzerne zermahlen die Bohnen bei bis zu 150 Grad, um Kakaobutter zu erhalten, den Grundstoff für Schokolade – Blyss setzt hingegen auf eine teilmanuelle Mahlmethode. Die dabei entstehende Reibungshitze soll 50 Grad nicht übersteigen. Genau wie kaltgepresstes Olivenöl behalten die Bohnen so ihren charakteristischen, starken Geschmack. In Ecuador werden sie dann zu Schokolade verarbeitet, die wiederum in Deutschland in recycelbare Metallboxen verpackt wird.

Leider kann man diese Boxen (noch) in keinem Geschäft finden, nicht einmal in speziellen Süßwarenläden oder Patisserien. Weltweit beherrschen Kraft Foods, Mars, Nestlé, Ferrero und Hershey die Preise und drücken die Margen. Daher entschied sich McDonald für einen ungewöhnlichen Weg: „If you can’t compete – don’t. Wir wollten nicht die zwanzigste Schokolade im Supermarkt sein – wir wollten etwas Einzigartiges schaffen. Und dafür haben wir den Prozess von Herstellung und Vertrieb von Grund auf umgekrempelt.“

Für McDonald ist Schokolade mehr als „nur“ ein Genussmittel. Die gebürtige Australierin arbeitete jahrelang als Managerin eines deutschen Großkonzerns, bis eine schwere Krankheit alles änderte. „Ich konnte vieles auf einmal nicht mehr essen. Deswegen habe ich mich eingehend mit Nahrungsmitteln beschäftigt, wie sie produziert werden, was sie mit uns und unseren Körpern machen. Klar dachte ich auch über ‘gesunde’ Produkte nach, aber ich brauchte etwas, das mich glücklich macht und mich die Krankheit mal vergessen lässt. Also: Schokolade.“ Drei Jahre lang experimentierte McDonald in ihrer eigenen Küche mit Zutaten und Rezepten, bis sie schließlich ihren Angestelltenjob kündigte, für ein Jahr nach Ecuador zog und ihre Ersparnisse in die Kakaoplantagen steckte. Mithilfe von acht Freunden wurde Blyss gegründet. Diese sitzen in Kapstadt, Montreal, London, Sydney, Amsterdam und Frankfurt: „Wir nutzen Skype, weil Handyverbindungen in Ecuador nicht immer verlässlich sind. Per Google Docs, Basecamp und unserer geschlossene Gruppe auf Facebook tauschen wir Informationen aus; ich twittere und bin seit Kurzem auch bei Google+, um mit Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern in Kontakt zu bleiben. Wir sind eigentlich eine virtuelle Organisation – wir verwenden mehr Technik, um unsere Geschäfte zu machen als die Schokolade herzustellen.“

Keiner der Menschen bei Blyss hat vorher je in der Lebensmittelindustrie gearbeitet – was McDonald als einen Vorteil ansieht. „Wenn du die sprichwörtliche ‘Box’ nicht kennst, außerhalb der du denken willst, kannst du nicht in ihr steckenbleiben. Deswegen sprechen wir auch nicht mit dem Chefkoch eines Luxushotels, in dem wir unsere Schokolade anbieten möchten, sondern mit dem Manager.“ Er oder sie hat im besten Fall einen strategischen Plan, wo es mit dem Hotel hingehen soll. Falls es sich zum Beispiel als Konferenzhotel von anderen unterscheiden möchte, ist Blyss ein Mittel zum Zweck. „Es geht nicht darum, unsere Schokolade in der Minibar zu finden. Wir können Events bestücken, in denen es um Nachhaltigkeit geht. Oder wir unterstützen Konferenzen mit Vorträgen, in denen wir unsere Sicht auf die Produktion von Lebensmitteln darlegen – wir sind quasi eine Metapher für einen anderen, innovativen Umgang mit Ressourcen.“

Denn auch das unterscheidet Blyss von der durchschnittlichen Supermarktschokolade: der ethische Anspruch. Die Schokolade ist vegan, kosher, halal und kann mit ihrem niedrigen glykämischen Index von 16 auch von Diabetikern genossen werden; die Bohnen werden biologisch angebaut und erfüllen die Ansprüche für Fair Trade. Als Emulgator (das ist der Stoff, der den weichen Schmelz bei Schokoladen erzeugt) nutzt Blyss Sonnenblumenlecithin. „Wir hatten Sojalecithin getestet, aber es gibt weltweit kaum Soja mehr, das nicht genetisch modifiziert ist. Daher verzichten wir auf diesen Stoff.“ Genau wie Blyss auf Kinderarbeit verzichtet, die bei der Schokoladenproduktion, gerade in Afrika, ein offenes Geheimnis ist. „Wir produzieren ein ethisch einwandfreies Produkt – aber das ist nicht unser Alleinstellungsmerkmal. Ethik sollte der Ausgangspunkt für jedes Geschäft sein und nicht etwas, das du extra betonen musst, damit die Leute dein Produkt kaufen.”

Ein Vorwurf, den man Blyss allerdings machen kann: Es ist einfach, bei einem Luxusprodukt ethisch einwandfrei zu arbeiten. McDonald lässt das allerdings nicht gelten. „Irgendwo muss man ja anfangen, um den grundlegenden Prozess zu ändern. Momentan hat es noch seinen Preis, hochwertige, ethisch einwandfreie Schokolade zu produzieren – die 50-Gramm-Tafel kostet zurzeit 30 Euro. Wir arbeiten aber daran, kostengünstiger zu werden, ohne unsere Ansprüche zu kompromittieren. Und dann kann man unsere Schokolade über das Internet bestellen.“

Schokolade sollte laut McDonald wieder den Rang eines bewusst genossenen Lebensmittel haben. „Wir möchten, dass Menschen wieder darüber nachdenken, was sie essen, wo ihre Lebensmittel herkommen. Und wir sagen ganz klar: Genuss ist wichtig. Wir wollen keinen erhobenen Zeigefinger – wir wollen wieder in Essen schwelgen.“ Genau wie Genießer und Genießerinnen bei Wein nicht grob von „irgendwas Französischem“ reden, sondern wissen, aus welcher Region der Wein kommt, aus welcher Traube er gekeltert wurde und von welchem Gut er stammt, spricht McDonald Menschen an, die genauso über Schokolade denken. „Wir richten uns momentan noch an Kunden, die für sich Fragen nach der Herkunft ihrer Lebensmittel schon beantwortet haben. Menschen, die deswegen auch mehr Geld für Genussmittel ausgeben, weil sie wissen, dass es jeden Cent wert ist.“

Blyss spricht derzeit eher mit Kunden, die nichts mit der traditionellen Lebensmittelbranche zu tun haben. Ihre Geschäfte machen sie zum Beispiel mit Autoherstellern, die für ihre Kunden Individualisierungsprogramme anbieten. Wer sich für eine besondere Lederfarbe interessiert und wie der Werkstoff behandelt wurde, interessiert sich vielleicht auch dafür, durch welche Blume eine Schokolade ihr Aroma bekommen hat. Anders herum geht das auch: Anstatt für besondere Kunden zu produzieren, lässt sich Blyss von besonderen Menschen, Industrien, Innovationen inspirieren. McDonald: „Manchmal frage ich Musiker: Wenn dein Song aus Kakao wäre – wie würde er schmecken? Ich spreche mit Architekten, Künstlerinnen, anderen Entrepeneuren. So zu arbeiten, ist unglaublich inspirierend. Genau wie unser Produkt ist auch unsere Arbeitsweise eher innovativ als kompetitiv.“

Was dabei herauskommt, wenn man traditionelle Produktions- und Vertriebsstrukturen ignoriert, kann man in jeder Tafel Blyss schmecken. Der Name Blyss – „bliss“ bedeutet auf englisch „Glückseligkeit“ – ist eben nicht nur ein Anklang an den Vornamen der Gründerin, sondern ein Statement. Sie weiß, dass er ein bisschen exzentrisch ist: „Aber Glück kommt eben auch von Genuss. Und für uns ist Glück nicht nur unser eigenes, sondern auch das anderer. Das unterscheidet uns von vielen Produzenten in der Lebensmittelbranche.“

Das Interview ist vorbei, lang hat es gedauert. Wir sind längst ins Plaudern gekommen, ich erzähle von meinen Erfahrungen mit Essen, Alyssa von ihren. Ich darf die angebrochenen Tafeln und Reagenzgläser mit nach Hause nehmen (darauf hatte ich die ganze Zeit gehofft) und schnappe mir ein Taxi. Im Flug zurück nach Hamburg gibt es einen Schokoriegel von einem der fünf Großkonzerne. Ich lasse ihn liegen.