Melancholia
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Melancholia (DEN/SWE/FRA/GER 2011, 136 min)
Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, Alexander Skarsgård, Charlotte Rampling, John Hurt, Stellan Skarsgård, Brady Corbet, Udo Kier
Musik: Richard Wagner
Kamera: Manuel Alberto Claro
Drehbuch: Lars von Trier
Regie: Lars von Trier
Mich hatte der Film nach wenigen Sekunden, weil er Teile der Ouvertüre von Richard Wagners Tristan und Isolde für die Exposition nutzt. Beziehungsweise: um uns das Ende des Films zu verraten. Das allerdings in Superzeitlupe, in wunderschönen, fast überirdisch scheinenden Farben und mit ebenso überirdisch schöner und zeitloser Musik. Doof, dass dieses kleine Wunderwerk uns erzählt, dass im Film die Welt untergeht, weil sie mit einem anderen Planeten – Melancholia – zusammenstoßen wird. Aber bis dahin haben wir noch über zwei Stunden Zeit, weswegen mein erstes Urteil nach dem Abspann auch lautete: Melancholia ist wie Wagner für Anfänger. Man weiß von Beginn an, wie’s ausgeht, die Story könnte größer kaum sein, es dauert alles unfassbar lange, aber dafür gibt’s tolle Musik.
Melancholia besteht aus zwei Teilen. Im ersten sind wir zu Gast bei der Hochzeit von Justine (Kirsten Dunst) und Michael (Alexander Skarsgård). Die Party wird ausgerichtet von Justines Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) und ihrem Gatten John (Kiefer Sutherland), der nicht müde wird zu betonen, wie viel das alles gekostet habe und ob ihr klar sei, dass nicht jede/r in einem schlossähnlichen Anwesen mit einem 18-Loch-Golfplatz heiraten könne. Justine bedankt sich und verzieht gleichzeitig das Gesicht, versichert Claire, wie glücklich sie sei und wie sehr sie genau das alles gewollt habe, verschläft aber Teile ihrer eigenen Hochzeit und nimmt lieber ein Bad, anstatt mit Michael die Torte anzuschneiden. Was nach verzogener Göre klingt, ist in Wirklichkeit eine zutiefst traurige Frau, deren Kraft eben nicht ausreicht, um einen ganzen Abend lang – geschweige denn eine ganze Ehe – durchzuhalten.
Dunst schafft eine sehr schöne Balance zwischen scheinbar ehrlicher Freude über ihr kurzfristig gefundenes Glück und tiefer Trauer, als ihr klar wird, dass es eben genau das ist: kurzfristig. Sie kennt sich selbst genug, um zu wissen, dass sie niemanden glücklich machen kann, am wenigstens sich selbst. So versucht sie, Konventionen zu genügen – der erste Tanz, das gezwungene Lächeln bei den unvermeidlichen Reden, die gespielte Dankbarkeit dem Schwager gegenüber und dessen verdammtem Golfplatz –, bricht aber zu jeder Gelegenheit aus ihnen aus. So werde ich in Zukunft im Tristan immer an die pinkelnde Kirsten Dunst im Brautkleid am Grün 16 (oder so) denken, aber das war’s wert.
Ich mochte den Kontrast zwischen der picobello ausgerichteten Feier und den rohen Kräften, die sich dagegenstellen. Die Mutter, die politisch völlig unkorrekt den Tipp gibt: „Enjoy it while it lasts“; der Arbeitgeber von Justine, dem es völlig egal ist, wie’s ihr geht, solange er von ihr die geforderte Leistung bekommt; und eben Justine, die sehr ursprünglichen Bedürfnissen nachgibt, um sich der Welt zu entziehen: schlafen, sich reinigen, sich mit jemandem vereinigen (egal mit wem), fliehen. Ich mochte, dass sie sich nimmt, was sie will, weil sie weiß, dass sie genau das gerade braucht. Sie weiß allerdings auch, dass sie dafür einen Preis zahlen muss: Sie wird wieder und wieder Menschen vor den Kopf stoßen, sie wird alleine sein, sie wird erschöpft sein.
Genau das passiert im zweiten Teil des Films, wo eher Claire die Hauptrolle spielt. Sie und John sind wieder einmal Gastgeber für Justine, die es gerade noch in ein Taxi schafft, bevor sie in Justines Gästezimmer tagelang schläft. Währenddessen nähert sich draußen ein Planet aus dem Sternbild des Skorpion der Welt, und Wissenschaftler und Untergangspropheten sind sich nicht eing, ob er mit der Erde kollidieren wird oder nicht. Hobbyastronom John ist sich sicher: Das Ding geht vorbei, lagert aber trotzdem mal Benzin, Wasser und Lampen ein, man weiß ja nie. Sein Job: Zweckoptimismus. Claire dagegen zweifelt, weiß nicht, wem oder was sie glauben soll. Ihr Job: Angst. Justine dagegen weiß, was passieren wird, und auf einmal wird aus ihrer angeblichen Schwäche – ihrer Depression – eine Stärke: Sie kann als einzige akzeptieren, dass alles zuende gehen wird und kann deshalb andere mittragen. Ihr Job: Wissen, Vertrauen und Zuversicht. Dinge, die ihre Krankheit eigentlich nicht zulässt, die aber hier auf einmal vorhanden sind. Glaubhaft vorhanden sind.
Melancholia zeichnet scheinbar holzschnittartige Figuren, in denen aber viel mehr steckt. Die sphärische Musik Wagners macht das ganze noch irrationaler, und die Farben halten alles zusammen. Während der Hochzeit in ihrem zimmergelben, warmen Licht erscheint alles mit Gold gepudert, selbst draußen auf dem Golfplatz, wo Lampen Teile des Grüns erleuchten. Die Party dauert die ganze Nacht, und langsam zieht sich ein melancholischer Blauton durch und über alles, während im zweiten Teil das irrlichternde Grün des neuen Planeten die Farbigkeit vorgibt.
Dunst und Gainsbourgh versammeln so viele Emotionen und Persönlichkeiten in sich, dass man ständig überrascht davon ist, was sie noch in sich finden und uns zeigen, so dass ich dem Film selbst seine seeeehr lange Laufzeit verzeihe, denn immerhin konnte ich den beiden Damen die ganze Zeit zugucken. Trotzdem: 20 Minuten weniger hätten’s auch getan; gerade der zweite Teil zieht sich ziemlich fies. Und nebenbei: Tristan und Isolde dauert fünf Stunden – da wären noch ein paar mehr Takte Musik zum Klauen dagewesen, das hätte nicht zehnmal hintereinander der Ausschnitt aus der Ouvertüre sein müssen, so dramatisch er auch ist.
Ich bin nicht unbedingt ein Fan von Lars von Trier, aber mit Melancholia hat er mich doch gekriegt. Ja, der Film grenzt an Kitsch, ja, er dürfte ne Ecke kürzer sein und ja, er ist im Prinzip eine lange Glorifizierung von Depressionen, aber er sieht fantastisch aus, hat wunderbare Schauspieler_innen und bringt Bilder auf die Leinwand, die ich noch lange mit mir herumtragen werde. Wofür ist Kino denn sonst da?
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Bechdel-Test bestanden?
1. Es müssen mindestens zwei Frauen mitspielen, die
2. miteinander reden
3. und zwar über etwas anderes als Männer.
Dreieinhalb Hauptfiguren, davon zwei Frauen, die so ziemlich über alles reden, aber recht selten über Männer. Eher über den Weltuntergang und das große Ganze.
Bechdel-Test bestanden? Mit Bravour.