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Und dann stieg ich nach dem zweiten Golfkurs in mein Auto, drehte das Radio laut, sang mit, lächelte dabei, weil ich den Text von irgendeinem Uraltsong noch kannte und freute mich auf mein Zuhause und das vom Kerl, der auf mich wartete.
Ich bin gewachsen in den letzten Jahren.
Bevor ich 1999 nach Hamburg gezogen bin, war ich jemand ganz anders. Jemand, der mir inzwischen so fremd geworden ist. Ich habe vor kurzem meine alten Tagebücher aus der Zeit wiedergelesen und war erschrocken, jemanden kennenzulernen, den ich als sensibel, vielleicht hypersensibel, ängstlich, manchmal verzweifelt, aber auch vielseitig interessiert und neugierig in Erinnerung hatte. Stattdessen las ich Worte von jemandem, der mir völlig fremd war. Die Person, die meinen Namen trug und meine Handschrift hatte, gab dermaßen egozentrischen Scheiß von sich, dass ich nach einigen Minuten aufhören musste zu lesen, weil ich kurz davor war, die Tagebücher zu zerreißen. Was für eine blöde, widerliche Zicke ich mal war. Ich habe sofort meine besten Freunde angerufen und mich für mich entschuldigt und mich dafür bedankt, dass sie damals meine Freunde waren und es vor allem noch sind.
Mir ist in dem kurzen Moment im Auto beim Singen aufgefallen, was sich alles geändert hat. Ich habe mich Herausforderungen gestellt. Angefangen beim Singen, was ich mich früher nie getraut hätte. Einer Kollegin von mir, die ausgebildete Musicalsängerin ist, vorzusingen, damals im Konferenzraum der alten Agentur, hat wahnsinnig viel Überwindung gekostet, aber ich war gleichzeitig wahnsinnig stolz darauf, es gemacht zu haben. Gesangsunterricht zu nehmen, hat soviel positive Energie freigesetzt; zu sehen, was alles bereits in mir ist und nur freigelassen werden will, ist ein unglaubliches Gefühl.
Eine weitere Herausforderung war es, wieder zu meinem „alten“ Glauben zurückzufinden. Wer mein Weblog von Anfang an mitgelesen hat, weiß, dass ich mich auch für andere Religionen interessiert habe, weil ich gespürt habe, dass meine spirituelle Seite angesprochen werden will; ich wusste nur lange Zeit nicht, wie. Dass ich wieder in die Kirche gehe (im Moment leider eher selten), freut mich, ganz einfach und kindlich, denn genauso einfach und kindlich erlebe ich die Gottesdienste. Oder Augenblicke, in denen ich das Gefühl habe, dass jemand bei mir ist. Oder meine Gebete, die ich meist abends sage, manchmal auch mitten am Tag, wenn ich der Meinung bin, ich möchte jetzt in diesem Moment danke sagen oder „Pass auf mich auf“ oder „Gib mir Kraft“. Diese Begegnungen mit Gott zuzulassen, anstatt mir meine seelischen Bedürfnisse mit Logik zu verbieten, hat Überwindung gekostet. Aber es macht mich jeden Tag glücklich.
Die größte Herausforderung habe ich Anfang April letzten Jahres angenommen. Nach 36 Jahren Essstörung von heute auf morgen zu sagen: Nein, ich will nicht mehr dieser Mensch sein, ich kann mich ändern und ich werde mich ändern, hat mich viel mehr beeinflusst als ich es selbst geglaubt hätte. Ich bin aus mir selbst heraus stärker geworden, ich kümmere mich um mich, ich achte auf mich.
Ich habe allerdings auch gemerkt, dass ich angespannten Situationen, Momenten, in denen meine Außenwelt sich ändert und ich mich dagegen nicht wehren kann, manchmal immer noch auf selbstzerstörerische Art begegne; falsches Essen ist ab und zu immer noch meine Methode, mit der Welt klarzukommen, wenn ich rational oder spirituell nicht weiter weiß. Aber ich habe das ohne weitere Therapie erkannt und hoffe, auch dieses Muster alleine brechen zu können. Wenn ich es bis hierher geschafft habe, dann glaube ich, dann möchte ich glauben, es auch noch weiterzuschaffen.
Abzunehmen, mich selbst anders wahrzunehmen, mich in meiner Grundkonstitution zu ändern, hat sehr viel Kraft freigesetzt, von der ich nie gelaubt habe, sie zu besitzen. Ich versuche, jeden Tag von dieser Kraft zu zehren und sie vor allem nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Ich erinnere mich an meine hilflose Zeit im Krankenhaus und in der Reha-Klinik und kann es manchmal gar nicht glauben, dass ich gerade ohne Probleme über einen Golfplatz schlendere oder schwimme oder einfach spazierengehe. Ich erinnere mich daran, weinend auf dem Wohnzimmerfußboden zu liegen; ich erinnere mich an eine Zeit, in der selbst abwaschen und einkaufen zu viel für mich waren; ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich gekellnert habe, weil ich glaubte, für nichts anderes gut genug zu sein. Ich erinnere mich an das Gefühl, so fest zu glauben, für nichts gut genug zu sein, dass ich es kaum fassen kann, dass ich heute fest daran glaube, für eine Menge gut zu sein.
Ich kann auf mich selbst aufpassen, mal besser, mal schlechter, aber immer gut genug, dass mir nicht wieder alles entgleitet. Ich habe seit über zwei Jahren eine sehr gute Beziehung, ich treibe Sport, ich lerne neue Dinge (und wenn es „nur“ HTML und CSS sind), ich singe, ich habe Freunde. Ich wache jeden Morgen auf und freue mich auf den Tag. Ich weiß, dass es viele Nächte in meinem Leben gab, in denen ich mir gewünscht habe, es würde kein Morgen mehr kommen. Ich bin so dankbar dafür, dass dieser Wunsch nie in Erfüllung gegangen ist.
Ich hoffe, ich muss mir nicht in ein paar Jahren, wenn ich diese Aufzeichnungen noch mal lese, eingestehen, immer noch eine widerliche Zicke gewesen zu sein, die keinen Millimeter von ihren vorgefassten Meinungen abrückt und sich nicht verändert, weil sie so viel Angst vor Veränderungen hat, dass sie aus ihren Schwächen Tugenden machen will, obwohl sie weiß, dass es falsch und Selbstbetrug ist. Ich habe mich verändert. Und ich werde mich weiter ändern, denn alles um mich herum ändert sich mit mir mit.
Ich wachse. Jeden Tag. Und jeden Tag weiter.