Das dreigestrichene Hach
Seit einigen Monaten (mit asthma-induzierter Zwangspause) nehme ich wieder Gesangsunterricht. Kenne ich ja eigentlich, denn vor sechs Jahren hatte ich mich bereits schon mal überwunden, vor Leuten zu singen (also vor einem – meinem Lehrer), aber so richtig kann ich meine Befangenheit immer noch nicht ablegen, wenn ich hinter dem Klavier stehe und vor mir der Notenständer droht. Ich brauche mindestens ein Lied zum Ankommen, bis ich mich traue, die hohen Töne rauszuhauen. Oder, wie ich seit gestern weiß, ein gelbes Massagebällchen und eine gesunde Vorstellungskraft.
Dass ich die Höhe drin habe, weiß ich. Ich nutze nur leider immer noch meine alte Technik, um mich an sie ranzuwürgen. Nämlich genau die: Ich dengele meine Stimme irgendwie mit Gewalt in die Höhe. Das war (böse ausgedrückt) die Technik, die mir mein alter Lehrer beigebracht hat: mit Kraft singen. Es gibt in „Sister Act“ eine schöne Szene, wo Whoopie Goldberg der piepsenden Nonne, die zaghaft und leise singt, ihre Hand ins Zwerchfell drückt – woraufhin Piepsi sofort voller klingt, denn mit der Hand im Bauch hat sie jetzt etwas, gegen das sie anarbeiten kann. So habe ich auch ewig geübt: Wenn nix mehr ging (und meine Atemtechnik war leider immer bescheiden), habe ich die Hand gegen mein Zwerchfell gedrückt, um gegen sie anzusingen.
Mein jetzige Lehrerin versucht gerade, mir genau das Gegenteil beizubringen. Loslassen. Entspannen. Einfach so locker da oben hinsingen. (Isklar.) Das klappt manchmal, auch wenn ich dann immer das Gefühl habe, ich klinge wie ein bekiffter Slacker, wenn ich mich in die hohen Töne fallen lasse wie in eine Hängematte. Meist mache ich noch eine divenhafte Handbewegung, als ob ich die Töne über die Schulter werfe (bei meinem alten Lehrer habe ich einen imaginären Frisbee nach vorne geworfen). Das ist für liebliche Liedchen hübsch, aber gestern hatte ich eine schlecht gelaunte Avril Lavigne vor mir.
Die Dame steht einsam im Dunkeln bei Regen auf einer Brücke und findet es total doof, dass sie niemand lieb hat. Deswegen schreit sie zum Schluss des Songs ihren Frust in ein paar hohen „Ye-Yeahs“ raus – aus denen ich in der letzten Stunde ein schüchternes Husten gemacht habe. Das könnte auch daran liegen, dass ich auf die Noten gucke, denn dann sehe ich natürlich, dass da irgendwo der hohe, laute Scheiß auf mich wartet, an dem ich gerne scheitere – und schon werde ich atemloser und verkrampfter, bis der Ton erst recht nicht mehr mag.
Deswegen habe ich zur gestrigen Stunde die Aufgabe gekriegt, das Lied auswendig zu lernen – bzw. den Text. Ohne Noten, damit ich da nicht immer hinstarre. Hab ich gemacht. Trotzdem bin ich vor dem Rumschreien zurückgezuckt, denn das macht man doch nicht. So laut sein und so. Das meinte auch meine Lehrerin: Als Kind schreit man erstmal in tollen Tonlagen und in grandioser Lautstärke rum, bis einem mehr und mehr Leute sagen, genau das bitte sein zu lassen. Bisschen leiser, bitte. Bisschen ruhiger, bitte. Und was ich jetzt gerade neu lerne, ist: laut sein. Und rumschreien. Und das, wenn möglich, in einer bestimmten Tonhöhe und so, dass es sich nicht nach schreien, sondern nach singen anhört. Also alles ganz einfach.
Da ich aber trotzdem meinen Kopf nie ganz ausmachen kann („Sei nicht so laut“) und auch der auswendig gelernte Text nicht gereicht hat, meine Stimmbänder in die Höhe zu kriegen, habe ich einen gelben Massageball in die Hand gekriegt, den ich mir selber zuwerfen sollte, während ich mit Avril miese Laune habe. Gleichzeitig habe ich mir vorgestellt, ich sei wieder 3 und WILL JETZT MEINEN TEDDY HABEN. Und das hat wirklich funktioniert: Ich habe mich so darauf konzentriert, den blöden Ball nicht fallenzulassen und meinen Teddy zu vermissen, dass mein Kopf keine Zeit mehr hatte, mir zu signalisieren, wie peinlich das ist, hier depressiv rumzuschreien. Und auch wenn der Song total deprimierend ist, hatte ich nach den YEAHS ein so fettes Grinsen im Gesicht, dass wir danach einen fiesen Schmachtfetzen singen mussten.
Für die nächste Übungssession in der Küche klaue ich mir den Football vom Kerl und rufe nach meinem alten Stoff-Fliegenpilz, den man aufziehen konnte und der dann „Ein Männlein steht im Walde“ gespielt hat. YE-YEAH, Emotanten!