Kunst gucken: Kunsthalle Hamburg

Seit Luise über meinem Sofa hängt und von mir jeden Morgen standesgemäß begrüßt wird, will ich in die Hamburger Kunsthalle, die sich einer großen Sammlung des 19. Jahrhunderts rühmt. Letzten Samstag besuchte ich dann endlich Luises Zeitverwandte. Gleich um 10 Uhr bei Öffnung in der Tür zu stehen, scheint eine gute Idee zu sein, denn die meiste Zeit hatte ich die Bilder so ziemlich für mich allein. In den knapp zwei Stunden, die ich in den Räumen zubrachte, begegnete ich gefühlt zehn Menschlein. Schön für mich, schade für die vielen Bilder, die dort einsam herumhängen. Sie hätten weitaus mehr Publikum verdient.

Wie auch in der Alten Pinakothek in München guckte ich mir nicht jedes Bild und jede Skulptur stundenlang an, sondern warf einen schnellen Blick in die Runde und besah mir dann die Bilder, an denen ich hängenblieb, genauer. Das erste befand sich gleich zu Beginn meines Rundgangs: Die Familie Rauter (1836) von Johann Friedrich Dieterich, hier ganz zu sehen, hier mit halbwegs korrekten Farben. Ich empfand sowohl die Gesichter als auch die Anordnung der Figuren als recht modern. Klar, die (keine Ahnung, ob sie wirklich so heißt) patriarchalische Pyramide mit Papa oben und dem Rest da drunter, aber trotzdem. Die lässige Haltung vom Herrn Vater, die den Bildrahmen zu durchdringen scheint, die seitwärts auf dem Stuhl sitzende Gattin, die mich nebenbei total an Terri Hatcher erinnerte, Sohnemann, der gerade zum Trommelschlagen ausholt, anstatt brav irgendwo rumzusitzen und nebenbei noch nicht mal zum Maler guckt, sondern wer weiß wohin – das fand ich alles sehr charmant und nicht ganz so gestellt wie es natürlich trotzdem ist. Das Gesicht des Vaters gefällt mir am besten, was aber auch daran liegt, dass er „echt“ aussieht, während die holde Mutter wahrscheinlich etwas sehr vorteilhaft gemalt wurde und Kindern sowieso ein winziges bisschen das Eigenständige fehlt, was erwachsene Gesichter charakterisiert. Also das, was wir uns heute wegbotoxen lassen: Falten, Lebenslinien, Zeichen, dass wir schon Erfahrungen gesammelt haben. Die sieht man eigentlich nur im Gesicht des Vaters, obwohl ich der Mutter unterstelle, garantiert auch schon ein paar zu haben. (Oder sie ist mit 14 schwanger geworden. Ich brauche mal ein Buch über die Familie Rauter. Wer war das? Gibt’s Nachfahren, die ab und zu dieses Bild besuchen? Wer das war, frage ich mich bei Luise auch fast täglich.)

Danach kam ein Raum, den fast alleine Caspar David Friedrich beanspruchte. Auf ihn hatte ich mich natürlich gefreut, weil ich alte Romantiknase gerne Bilder mit Mondschein und dunklen Tannen und so Zeug mag. Was in der Kunsthalle hängt, hat mich dann aber leider doch nicht so umgehauen – bis auf Das Eismeer und dem Wanderer über dem Nebelmeer fand ich alles recht artig (ich lese gerade Goethe), aber wenn mich der Audioguide nicht vor den Bildern festgehalten hätte, wäre ich etwas zügiger an ihnen vorbeigelaufen. Aber die beiden sind schon sehr großartig. Man fröstelt, wenn man vor ihnen steht.

Gleich nebenan blieb ich dagegen länger stehen (unfröstelnd): bei Arnold Böcklin. Zuerst vor seinem Selbstporträt, dann vor dem Heiligen Hain. Auch hier ist das Internet mit seinen Farben eher doof: Das Gemälde ist weitaus düsterer als im Link. Der Rauch, der vom Opferstein aufsteigt, ist bläulich, und das Bild teilt sich ganz klar in zwei Hälften; die eine, sonnenbeschienene linke, in der Blätter hingetupft an den Bäumen hängen, und die rechte dunkle, in der die Mönche (?) kaum zu erkennen sind, wie sie aus dem Schatten treten. Hinter den dunklen Bäumen wird es schlagartig hell, und ein Tempel oder ein ähnliches Heiligtum ist erkennbar. Das Bild hatte auf mich die gleiche Wirkung wie ein Aufenthalt in einer Kirche, Moschee, Synagoge: eine tiefe Ruhe. Man kann die kultische Handlung nicht wirklich erkennen oder einordnen, aber man nimmt unwillkürlich an ihr teil und empfängt, wenn man will, einen kleinen Segen, indem man vor diesem Bild steht. (Das mag jetzt aber meine christliche Erziehung sein.)

Beim Rumklicken in der Wikipedia entdeckte ich, warum mir der Name Arnold Böcklin so bekannt vorkam: Nach dem Mann wurde eine Schrift benannt, und seine Toteninsel kenne ich als Bühnenbild der Walküre im Jahrhundertring in Bayreuth. (Ich kriege bei solchen Zusammenhängen immer dieses „IT’S ALL CONNECTED“-Illuminati-Gefühl, das betrunken morgens um 4 sehr unangenehm und nüchtern und zu jeder anderen Zeit total faszinierend ist.)

Das nächste Bild, an dem ich hängenblieb: die Atelierwand von Adolph Menzel. Mein erster Gedanke war zugegebenermaßen, oh Jungs, es sind nur Brüste, jetzt beruhigt euch doch mal. Aber nach dem ersten innerlichen Meckern über die übliche Zurschaustellung weiblicher Geschlechtsmerkmale fiel mir auf, wie lebendig der Torso aussieht im Vergleich zu den Gegenständen bzw. Abdrücken um ihn herum. Der männliche Torso ist längst nicht so strahlend im Blickfeld, die vielen Totenmasken (in der unteren Reihe übrigens Schiller und Goethe), die Werkzeuge, der Tierschädel, all das wirkt grau, traurig, staubig, vergessen, verlassen, während der weibliche Torso das meiste Licht bekommt und aufrecht und stolz das Bild beherrscht. (Ich unterstelle Menzel trotzdem mal, dass er einfach gerne Brüste gemalt hat. Machen die ganzen Comicjungs heute ja genauso. Schnarch. In diesem Zusammenhang: Escher Girls. Via @Supatyp.) Das Tolle an der Atelierwand ist allerdings seine Haptik, die das Internet so gar nicht wiedergeben mag. Die flächigen Striche machen das Bild viel lebendiger als es unter dem Link aussieht. Und der Bildausschnitt ist ungewöhnlich: Das Gemälde fängt irgendwo an und hört mittendrin auf anstatt uns ein aufgeräumtes Stillleben zu präsentieren.

Und dann kam meine Neuentdeckung des Tages: Wilhelm Leibl. Ich hatte von dem Mann noch nie etwas gehört, bin aber jetzt gerade dabei, mich mit Ausstellungskatalogen einzudecken. Vor einem Bild stand ich sehr lange herum und bin auch immer wieder auf meinem Rundgang zu ihm zurückgegangen: den Drei Frauen in der Kirche. In der Wikipedia sieht das Bild sehr unspektakulär aus; wenn man davor steht, traut man sich kaum zu atmen, aus Angst, irgendwas würde verrutschen an der feinziselierten Schürze, bei der man verdammt nochmal jede Falte sehen kann. Jeden Stich der Stickerei auf dem Brusttuch der jungen Frau. Jeden Buchstaben im Gebetbuch der mittleren. Jede Maserung im Holz der Kirchenbank. Falten, verschiedene Hauttöne, die silbrigen Borten auf dem blauen Kleid, selbst der verschiedenfarbige Dreck unter den Fingernägeln war zu sehen. Und das ganze nicht fotografisch perfekt und damit im schlimmsten Fall todlangweilig, sondern schlicht unfassbar fein und extrem genau hingeschaut. Ich hätte gerne einen Klappstuhl dabeigehabt und mich eine Stunde nur vor dieses Bild gesetzt. Am liebsten hätte ich es angefasst und wäre mit den Fingern die vielen Details entlanggefahren. Die Wikipedia weiß, dass Leibl vier Jahre an dem Ding gemalt hat, und genau so sieht es aus. Wunderschön.

Auch Leibls zweites Bild Portrait der Rosine Fischler (Gräfin von Treuberg) begeisterte mich: Es ist nicht fertiggestellt worden, weil es der abgebildeten Dame angeblich nicht gefiel (undankbare Zicke. Ich würd’s sofort nehmen und neben Luise hängen). Nur der Kopf und der Bildgrund dahinter sind fertig, der Rest ist noch im Stadium einer Studie, und lustigerweise macht genau das das Bild sehr dynamisch und modern. Trotzdem hätte ich es gerne fertig gesehen, denn der Kopf ist schon genau so feinst ausgearbeitet wie die drei Frauen in der Kirche und längst nicht so idealisiert wie beim Bild der Familie Rauter. Ich ahne, warum die Gräfin es doof fand.

Und dann steht man plötzlich einem Rodin gegenüber, der so gar nichts Plüschiges hat wie die ollen Verliebten vom Kuss, die man schon nicht mehr sehen kann, weil sie so totgekitscht sind. Pierre de Wiessant ist lebensgroß, und wenn man um ihn herumgeht, hat man die ganze Zeit das Gefühl, dass sich gleich sein Arm bewegt und er einem eine reinhaut, weil man ihm so auf die Pelle rückt. Er ist längst nicht so fein wie seine Marmorgeschwister, sondern zäh und buckelig und hart und irgendwie verwackelt und deswegen auch viel lebendiger; durch seine Haltung natürlich auch aggressiver, aber, so albern das klingt, ich war wirklich der Meinung, er müsse sich gleich bewegen, weil er so dermaßen auf dem Sprung aussieht, dass ich unwillkürlich ein bisschen Abstand zu ihm gehalten habe.

Der Kopf war langsam, aber sicher voll, eine Menge Landschaften, an denen ich vorüberschlenderte, ein Monet, ein paar Manets und Degas’, immer wieder dieses „Ach, von dem haben wir auch was hier? Toll“, das größte Gemälde, das ich je sah (und das mich total langweilte) – Der Einzug Kaiser Karls V. in Antwerpen – und dann stand da eine weitere Skulptur, ganz anders als der Rodin’sche Pierre: die Petit Venus Debout von Renoir. Das Ding macht einfach glücklich, gerade wenn man sich eine Stunde vorher über Herrn Menzel aufgeregt hat. Eine kleine, dicke Statue, eine lächelnde Frau (sieht man so gar nicht im Link, aber ich finde kein besseres Bild) auf einem Sockel und eine lächelnde Frau davor, die sich nicht traut, das iPhone zu zücken, um die Venus zu fotografieren. Machte meinen Tag.

Durch die Seitenkabinette bin ich eher im Schnelldurchgang gehuscht; dort fielen mir eher Details als ganze Bilder auf. Hier eine Straßenszene mit einem Schildermaler, bei dem ich das Kopfsteinpflaster und die schiefe Eingangstür seiner Werkstatt näher betrachtete, dort ein Bild mit dem Titel Der Feldweg – und genau das war dann auch zu sehen: ein belangloser, beigefarbener Feldweg, der irgendwo im Wald endete, kleinformatig, unspannend. Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.

Nach knapp zwei Stunden im 19. Jahrhundert steckte ich noch den Kopf zu den Alten Meistern, aber das 16. Jahrhundert ist dann doch ein ziemliches Kontrastprogramm. Ein letzter Gang zu den drei Frauen in der Kirchenbank, und dann wieder nach Hause. Die Alten Meister kommen das nächste Mal dran.

Nebenbei: Ich habe keine einzige Malerin entdeckt. Ja, sign of the times, ich weiß. Trotzdem. Hätte mich schon interessiert, wie die Damen diese Zeitspanne abgebildet hätten. (Hier den üblichen feministischen Seufzer vorstellen.)