Pretty when I cry

Bei meinem alten Gesangslehrer arbeitete ich mit Kraft. Und Muskeln. Und viel Konzentration. Was toll war. Natürlich. Singen ist immer toll, ganz egal, ob man darüber nachdenkt, was man tut oder nicht.

Bei meiner neuen Lehrerin arbeite ich mit genau dem Gegenteil von Kraft: loslassen. Wo ich mir vorher vorstellte, einen imaginären Raum nach oben zu drücken, um höher singen zu können, stelle ich mir nun vor, alles auf einer Tonhöhe zu singen. Klappt genauso gut (oder an doofen Tagen genauso schlecht) wie die andere Methode. Ich werfe ab und zu physische Hilfsmittel in der Gegend rum, um nach oben zu kommen (ein kleiner gelber Massageball ist mein Sönnchen, und er hilft besonders bei Avril Lavigne), manchmal nutze ich meine Arme, um Töne hinter mich zu werfen, damit ich sie eben nicht so nach vorne kreische, manchmal boxe ich in die Luft vor mir, wenn ich rumkrampfe, wo ich doch „nur“ ein paar hohe Tönchen von mir geben möchte.

Loslassen ist toll. Loslassen ist aber auch anstrengend, weil man viel mehr loslässt als man möchte.

Bei meinem alten Gesangslehrer habe ich viel Technik gelernt. Ich habe sehr auf Zunge und Lippen und Schultern geachtet, wie ich stehe, was mein Zwerchfell macht, mein Rachen, meine Nase.

Bei meiner neuen Lehrerin achte ich auf den Text. Was fies ist, wenn ich über Textzeilen stolpere, die etwas in mir anrühren, was ich irgendwann mal verschüttet habe. Zugedeckt mit Selbstvorwürfen, Kritik von außen, Erziehung, sozialer Konditionierung. Nicht laut sein. Nicht auffallen. Sich keinen Raum zugestehen. Über Schmerzen hinwegarbeiten. Angst verdrängen. Das erste Mal habe ich bei dem Satz „What I did for love“ geheult, als ich den gleichnamigen Song aus „A Chorus Line“ sang. Das konnte ich mir sogar erklären, weil ich zu dem Zeitpunkt mein Herz mal kurzfristig verschenkt hatte, was nicht so toll war, wie es sich anhört, weil mein Herz eigentlich jemand anderem gehört. Die Situation war belastend, der Song ein blöder Auslöser, und so stand ich weinend hinter meinem Notenständer und fand alles ganz fürchterlich.

So fürchterlich ist es aber gar nicht. Es bedeutet, dass ich mich bei meiner Lehrerin sicher genug fühle, um alle Schutzschilde abzuschalten. Singen ist für mich etwas sehr Persönliches, weswegen ich es auch nur für mich mache. Es hat ein bisschen Überwindung gekostet, den Unterricht nochmal zu beginnen, nachdem ich vor Jahren damit aufgehört hatte, aber dieses unangenehme Gefühl hat sich sehr schnell gelegt. Meine Lehrerin erzählte, dass auch sie gerne mal losflennt und dass Anna Netrebko erstmal durch alle Arien durchheult, bevor sie sie singt. Was mich natürlich immer beruhigt, dieses alberne „Das machen andere auch, dann isses okay“.

Gestern hat mich die Zeile „Nothing’s gonna harm you, not while I’m around“ aus „Sweeney Todd“ fertiggemacht. Und diesmal konnte ich nicht mal sagen, warum. Ich habe keine Ahnung, was ich verschüttet habe, warum mich gerade dieser Satz zum Weinen gebracht hat. Aber ich hatte einen fiesen Flashback zu ewig her seienden Therapiezeiten, wo ich mir in der ersten Sitzung eine Karte aus vielen auswählen sollte, die mir entspricht. Meine Wahl fiel auf „Ich will gehalten werden“.

Ich meinte vor einigen Wochen (wahrscheinlich auf Twitter), dass Gesangsunterricht wie Yoga, Workout und Therapie sei. Gestern war’s nur Therapie. Ich kam nicht so überschwenglich gut gelaunt raus wie sonst. Aber dafür hatte ich das Gefühl, etwas in mir berührt zu haben. Etwas aufgescheucht zu haben, was sich in irgendeiner dunklen Ecke verkrochen hatte und nun bereit war, rauszukommen.

Komm ruhig raus. Nothing’s gonna harm you. Not while I’m around.