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2012 revisited
(2011, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004, 2003, 23. Dezember)
1. Zugenommen oder abgenommen?
Ich wiege mich ja nicht mehr, aber meinen Klamotten nach zu urteilen, scheint alles gleichgeblieben zu sein.
2. Haare länger oder kürzer?
Gleich lang.
3. Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
4. Mehr Kohle oder weniger?
Kommt drauf an. Bis Oktober/November ungefähr so viel wie im letzten Jahr. Seitdem studiere ich anstatt in der Agentur zu sitzen und bezahle anderthalb Wohnungen sowie mehrere Male im Monat ein paar Flüge zwischen diesen beiden Wohnungen, daher wird das wohl im Endeffekt etwas weniger werden.
5. Mehr ausgegeben oder weniger?
Siehe 4. Im Oktober habe ich bewusst angefangen darauf zu achten, wofür ich Kohle raushaue. Nein, das war vorher nicht nötig, danke der Nachfrage. Ja, ich weiß, mir geht es sehr gut.
Was sich geändert hat: weniger Taxifahrten, wenn ich auch die S-Bahn nehmen kann. Deutlich weniger Amazon-Pakete, aber ich werde ja tollerweise von meinen Lesern und Leserinnen bestens versorgt, noch mal ein dickes Dankeschön dafür! Keine exorbitant teuren Restaurants mehr (heul). Weniger teure Allianz-Arena-Karten – noch mehr heul, weil: jetzt wohn ich da um die Ecke! Momentan keine teuren Opernkarten mehr, aber ich werde im neuen Jahr mal die kostengünstige Studierendenversion an der Abendkasse antesten, mit der ich eventuell draußen bleibe oder im vierten Rang ende (iih). Absolut keine Spontankäufe mehr von irgendwas, an dem ich zufällig vorbeilaufe, sei es on- oder offline. Wenn ich bis vor drei Sekunden noch nicht wusste, dass ich’s brauche, dann brauche ich es wohl auch nicht.
Was sich nicht geändert hat: weiterhin kaum Geld für Klamotten, weil mir die immer noch egal sind und zudem alles passt, was in meinem Schrank liegt, und da liegt genug. An gutem Futter und gutem Wein wird allerdings nicht gespart, eher im Gegenteil. Und das ist auch gut so.
6. Mehr bewegt oder weniger?
Gleich viel, denke ich. Immer noch kein regelmäßiges Sportprogramm, aber auch immer noch kein Auto (mehr).
7. Der hirnrissigste Plan?
Mich mit unvollständigen Unterlagen immatrikulieren zu wollen.
8. Die gefährlichste Unternehmung?
Mit Hamburg-Klamotten nach München fliegen. *bibber*
9. Der beste Sex?
Kannnichklagen.
10. Die teuerste Anschaffung?
Eine komplette Wohnungseinrichtung in der Maxvorstadt.
11. Das leckerste Essen?
reinstoff, mal wieder.
12. Das beeindruckendste Buch?
Comic: Patchwork von Katharina Greve; Packeis von Simon Schwartz; Don Quijote von Flix.
Sachbuch: Into the Wild von Jon Krakauer; Gentlemen, wir leben am Abgrund von Thomas Pletzinger; 1812 von Adam Zamoyski.
Fiktion: In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge; Gegen die Welt von Jan Brandt; Insel 34 von Annette Pehnt; Fliehkräfte von Stephan Thome.
13. Der ergreifendste Film?
Das Millionenspiel von Tom Toelle und Wolfgang Menge, endlich mal auf DVD gesehen. Dem temporären Mitbewohner sei gedankt.
14. Die beste CD? Der beste Download?
Die ganzen Beethoven-Trios, die wir durchnehmen. Müsste ich nicht kaufen – reicht ja, wenn ich die Noten lese –, aber come on. Natürlich will ich die haben. Jedenfalls die, die ich nicht vollständig auf Spotify finde. Vielleicht mögen Sie mal in mein bisher liebstes reinhören? Das wäre das Opus 1,3 in c-Moll.
Klaviertrios waren übrigens – im Gegensatz zum Streichquartett, das auch zur Kammermusik zählt, also zu Musik, die im häuslichen Rahmen vorgetragen wurde – eine weibliche Domäne. Während die Jungs fidelten, saß die vornehme Dame von Welt am Klavier. Deswegen sind auch viele Klaviertrios Frauen gewidmet, die sie zuerst spielen durften. (Das hier nicht, aber ich fand den Fakt so schön.)
15. Das schönste Konzert?
Ich nehme die schönste Oper: Da hat mich dieses Mal Hamburg mehr beeindruckt als Bayreuth (hört, hört) und zwar mit Aribert Reimanns Lear.
16. Die meiste Zeit verbracht mit …?
Überlegen, wie ich mein Leben ändern kann.
17. Die schönste Zeit verbracht mit …?
Dem Ergebnis dieser Ãœberlegung. Und mit Singen.
18. Vorherrschendes Gefühl 2012?
Zeit, dass sich was dreht.
19. 2012 zum ersten Mal getan?
In München angemeldet gewesen. Dementsprechend tausend Dinge in München zum ersten Mal getan.
20. 2012 nach langer Zeit wieder getan?
Umziehen – oder eher einziehen. Studieren. Autofahren.
21. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Immatrikulationswirrnisse, Herzschmerz, Makleringebühren.
Der letzte Punkt spülte im November leider kurzfristig ungebremsten Hass an die Oberfläche. Ja, ich habe ne schöne Wohnung, ja, ich freue mich jeden Tag über sie und ihre Lage und die fußläufige Nähe zu Öffis, Supermärkten, Bäckern, Metzgern, Apotheken, Buchhandlungen (*gasp*) und dem kunstgeschichtlichen Seminar der LMU. Aber: Ich habe die Dame nie gesehen, der ich 1.400 verdammte Euro überwiesen habe. Bei der Wohnungsbesichtigung war jemand anders vor Ort, der weder die Höhe der Nebenkosten noch die genaue Größe der Wohnung wusste, und da die Anzeige bereits drei Stunden nach Veröffentlichung wieder von immonet verschwunden war, konnte ich auch nicht mehr nachgucken. Immerhin gab es eine Mailadresse, an die man sich wenden konnte, die einen Firmennamen enthielt. Die Antworten, die ich bekam, stammten allerdings von yahoo.de. Auf dem Word-Dokument, das die Dame mir als Rechnung schickte, stand wieder eine andere Adresse, dieses Mal von web.de. Und über die faule Lieblosigkeit dieser Mail, in deren Anhang der Selbstauskunftsbogen sein sollte (was er natürlich nicht war), habe ich mich stundenlang aufgeregt.
22. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Den Kerl, dass München nicht weit weg und drei Jahre kein großer Zeitraum ist.
23. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Ein Liebesbrief in 24 Teilen. (Texterinnen-Adventskalender.)
24. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Mich immer vom Flughafen abzuholen.
25. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
„Bleib so lange du willst.“
26. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
„Ich freu mich auf dich.“
27. 2012 war mit einem Wort …?
Anstrengendslashgroßartig.
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What Anke Ate in 2012
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Ehrenrunde
Vor kurzem bekam ich interessante Leserpost:
„Ich lese ja gern Ihr Uni-Journal mit. So viel Begeisterung, das freut mich.
Was mich wundert: Es fällt kein Wort zum Erststudium. Dabei würden mich ein paar Vergleiche dazu interessieren. Gibt es noch Mikrofiche? Was war früher Ihre Motivation im Unterschied (?) zu heute? Ich weiß, Ihr Blog ist kein Wunschkonzert, aber falls Sie ein paar Gedanken dazu einstreuen würden, freue ich mich.“
Ich erwähnte bereits, dass ich mein Federmäppchen wieder rausgekramt habe, aber in dem Eintrag verglich ich eher das bequeme Agenturleben mit dem Nomadendasein des Studierenden. Innerlich vergleiche ich allerdings ungefähr alle fünf Minuten, wie sich das, was ich gerade tue, im Erststudium anders angefühlt hat als jetzt.
Mikrofiche
Früher waren Bibliotheken eher nervige Aufenthaltsorte für mich, weil man sich durch meterweise Karteikästen wühlen musste, an deren Systematik ich mich allerdings nicht erinnere. So oft war ich auch nicht in der Landesbibliothek in Hannover, wo ich mich theoretisch um Historisches hätte kümmern müssen. In der Bibliothek des englischen Seminars war ich öfter, aber auch dort habe ich eher selten etwas gesucht und noch weniger etwas gefunden. Mit Mikrofiche kam ich nur einmal in Berührung und konnte kaum glauben, was für ein alberner Quatsch das war. Aber damals war ich 22, fand alles albern und Quatsch und habe deswegen nicht würdigen können, dass das Zeug ganz praktisch war. Ich weiß noch, dass kurz bevor ich das letzte Mal an der Uni gesehen wurde, die Buchsuche per Internet möglich wurde; das muss so um 1996 rum gewesen sein.
Heute sitze ich mit Begeisterung in der Bibliothek der Kunstgeschichte, nachdem ich schon von zuhause geguckt habe, wo die Bücher stehen, die ich brauche. Sobald ich da bin, streife ich noch ein bisschen durch die Regale, denn irgendwas steht ja immer in der Nähe, in das man auch mal reingucken kann. Ich genieße die Ruhe, die vorhandenen Steckdosen, die ausreichenden Arbeitsplätze und sogar die halbwegs bequemen Stühle. Online kann ich nicht nur den Bestand der diversen Münchener Bibliotheken durchsuchen, sondern viele weitere kunsthistorische Bestände, die uns im Technikkurs beigebracht wurden. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass es irgendwie alles gibt, auch wenn ich noch nicht alles gefunden habe. Mit Zeitschriftenartikeln stehe ich noch etwas auf Kriegsfuß (bzw. die Onlinesuche mit mir), aber auch da komme ich noch hin. Und wenn alles nichts hilft, mache ich etwas, was ich früher nie gemacht habe: Ich frage. Fragen mag uncool sein, aber hey, es bringt dich lustigerweise weiter. Bis jetzt war noch niemand pampig, und manchmal fragen dich auch Leute, wenn sie dich suchend vor den Regalen stehen sehen, ob sie dir helfen können. Überhaupt finde ich die gesamte Atmosphäre an der LMU (zumindest in meinen Fächern) sehr schnuffig. Das hätte ich vor 20 Jahren ja auch nie zugegeben.
Miteinander
Ich alter Soziopath fand Studieren damals fürchterlich, weil man mit Menschen zusammenarbeiten musste. Wahrscheinlich bin ich deswegen Texterin geworden, weil man da einsam in der Ecke sitzen und vor sich hinschreiben kann. Gut, ab und zu muss man in Meetings was sagen, aber eigentlich komme ich morgens in die Agentur, tippe vor mich hin und gehe nach neun Stunden wieder nach Hause. In einer Agentur hatte ich mal ein Zweierbüro mit jemandem, der genauso drauf war wie ich. Wir haben Tage nebeneinander verbracht, ohne mehr als „Moin“ und „Tschüss“ zu sagen. Herrlich.
Für mich war es immer eine Strafe, mit jemandem zusammen ein Referat zu erarbeiten. Das habe ich schon beim allerersten gemerkt – ich weiß sogar noch das Thema, es ging um Anne Bradstreet, eine der ersten Schriftstellerinnen in den englischen Kolonien in Amerika. Wir waren zu viert, und natürlich hatte jeder eine andere Meinung, die eine hat weitaus mehr vorbereitet als die andere, und zum Schluss passte nichts zusammen. Einen Schein gab’s trotzdem, aber seitdem habe ich mich um Gruppenarbeit immer gedrückt, so weit es ging.
Ich weiß noch nicht, ob es überhaupt noch Gruppenarbeit gibt; in diesem Semester wurschtelt jeder vor sich hin. So schreiben wir Klausuren, halten Einzelreferate, schreiben Hausarbeiten und/oder wissenschaftliche Protokolle. Ich persönlich mag das sehr, weil ich schlicht besser alleine arbeite. Aber selbst wenn eine Gemeinschaftsaufgabe auf mich zukäme, würde ich mit ihr wahrscheinlich besser klarkommen als damals: weil es für mich um viel weniger geht. Oder um andere Dinge. Ich komme beim Punkt „Motivation“ noch mal darauf zurück.
Als ich vor wenigen Wochen anfing zu studieren, wollte ich eigentlich als einsame Wölfin durch die drei Jahre schwimmen. Ich merke allerdings jetzt schon, dass mir Menschen fehlen, die sich für das Gleiche begeistern wie ich. Meine Freund_innen halten meine Schwärmerei über gotische Kathedralen oder Beethovens Klaviertrios mehr oder weniger taktvoll durch, aber ich ahne, dass sie geistig manchmal schlicht abschalten, wenn ich anfange zu monologisieren. (Daher landet das meiste auch im Blog. Irgendwem muss ich das ja alles an den Kopf werfen.) Und so gucke ich jetzt aktiv rum, mit wem ich denn vielleicht mal einen Kaffee trinken gehen wollen würde. Einige meiner Kommiliton_innen haben mich schon angesprochen, zum Beispiel nach meinem Memling-Referat, was wohl ganz gut angekommen ist. Oder sie setzen sich aktiv neben mich und quatschen mich zu. Und anstatt wie sonst möglichst schnell mein Taschenbuch aus dem Rucksack zu ziehen, um meine Nase darin zu versenken, mache ich Smalltalk – und genieße es sogar. Weil es eben Menschen sind, die sich für das Gleiche interessieren wie ich.
Das war mir damals ziemlich egal, aber damals wusste ich ja nicht mal selbst, was mich interessiert. Ich wusste auch nicht, warum ich Anglistik und Geschichte studiere.
Musikwissenschaft
Als ich 1989 Abitur gemacht habe, wusste ich, dass ich danach studiere. Ich wusste nicht warum und was, aber ich wusste, dass. Ich kann heute überhaupt nicht mehr nachvollziehen, warum ich eine Lehre nicht mal in Betracht gezogen habe, aber so war’s eben. Ich studierte – und hatte keine Ahnung warum. Weswegen die Fächer eigentlich egal waren und die Menschen um mich rum auch. Ich war hier, weil ich nicht wusste, wo ich sonst hätte hingehen sollen.
Das ist heute sehr anders. Ich weiß inzwischen, was ich kann, ich habe lange genug damit mein Geld verdient, ich verdiene (in weitaus geringerem Maß) damit immer noch Geld, und ich bin auch nicht auf der Suche nach einer zweiten Karriere. Wobei: Sag niemals nie. Was ich außerdem weiß: was mir Spaß macht. Was mich erfüllt. Ich weiß, wie sehr mich Bilder und Musik berühren, und genau deswegen habe ich mich für diese Fächer und damit für die Uni München entschieden. Weil es mich erfüllt. Zumindest hatte ich das gehofft, und auch wenn zehn Wochen eine recht kurze Zeit sind, um schon ein Fazit zu ziehen, wage ich es trotzdem: Diese Hoffnung hat sich aber sowas von übererfüllt. Ich sitze in pickepackevollen Seminaren und es ist mir total egal, weil ich trotz wenig Platz viel Neues erfahre. Ich quetsche mich in volle U-Bahnen und Busse, lerne (wahrscheinlich) viel zu viel Kram auswendig, den ich nie gefragt werde, ich lese Bücher, die ich vermutlich nicht brauchen werde, aber sie sind halt da und ich hab halt Zeit. Kurz: Ich mache so viel, weil es mir sinnvoll vorkommt.
Kaum eine Autoheadline hat mir in den letzten Jahren das Gefühl vermitteln können, das ich habe, wenn mir ein Akkord klar wird oder ich den Wandaufbau einer romanischen Basilika runterbeten kann. In finanzieller Hinsicht ist dieses Studium eine der dämlichsten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. Aus emotionaler Sicht eine der besten.
Motivation
Ich muss keine Karriere mehr machen. Ich muss an der Uni keine Netzwerke knüpfen, keine Freundschaften schließen, und ich muss hier auch nicht den Mann fürs Leben finden. Alles, was ich hier mache, mache ich nicht, weil ich glaube, das irgendwann wieder wissen zu müssen. Oder weil es mich beruflich weiterbringt. Oder weil ich mit dieser Kurswahl die Weichen für mein restliches Leben stelle. Oder weil ich schlicht nicht weiß, was ich sonst machen sollte, so wie ich das eben vor 20 Jahren nicht wusste.
Ich mache das nicht, weil ich einen Plan habe. Ich mache das, weil ich keinen habe. Ich mache das nicht für den Rest meines Lebens. Ich mache das für mich.
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Dezember-Journal: Singalong
Nach sieben Wochen Pause war ich gestern endlich mal wieder singen. Gesungen habe ich natürlich auch in München, aber ohne Zuhörer. Jedenfalls glaube ich, dass die Wände vom temporären Mitbewohner recht dick sind; ich habe von den Nachbarn nie was mitgekriegt. Falls ich doch etwas lauter war – Billy Joel kann niemand schlecht finden.
Gestern also, wie gesagt, mal wieder mit Lehrerin am Klavier und vor allem zum ersten Mal in einem größeren Raum, einem Studio, das schön hallt. Es fühlte sich so an, als würde ich mich zum ersten Mal selbst hören. Bei meinem ersten Lehrer vor 100 Jahren stand ich mit ihm in einem gefühlt zehn Quadratmeter großen Raum, in den gerade wir beide, ein Klavier und ein Tisch passten. Zudem war er schallgedämpft, weil um uns rum im Theater vom „König der Löwen“ noch genug andere Leute Singen geübt haben. Bei meiner Lehrerin stehe ich in ihrem Wohnzimmer, was auch nicht gerade riesig ist. Aber gestern stand ich zum ersten Mal in einem leeren, langen Raum mit Parkettfußboden und einer Akustik, die ihren Namen verdient. Ich habe ganz automatisch weniger gepusht und mich weniger angestrengt, weil meine Stimme auch so den Raum erfüllt hat, was ich sehr unheimlich und gleichzeitig sehr toll fand.
Nach zwei schmissigen Liedern zum Reinkommen lag dann mal wieder „Defying Gravity“ auf dem Klavier. Ich hatte gute Laune, wie überhaupt fast immer in den letzten Wochen (den üblichen „one of those days“ gibt’s ja immer), fing laut und sicher an – und kam genau bis zur siebten Zeile am Ende der ersten Strophe.
„Something has changed within me
Something is not the same
I’m through with playing by the rules
Of someone else’s gameToo late for second-guessing
Too late to go back to sleep
It’s time to trust my instincts
Close my eyes: and leap!“
Dann war mal wieder die Kehle zu und die Tränen flossen. Ich bin in diesen Momenten immer hin- und hergerissen zwischen „Oh wow, was Musik anrichten kann“ und „DAS NERVT!“ Meine Lehrerin sagt dann jedesmal, lass es kommen, das ist okay, das ist eine körperliche Reaktion, freu dich, dass Musik das mit dir macht und so weiter und so fort. Mich nervt es aber trotzdem, weil ich der Musik und vor allem dem Text so schutzlos ausgeliefert bin. Und es ist jedesmal ein anderer Text, dem ich ausgeliefert bin.
Als ich ein bisschen Herzschmerz mit mir rumschleppte, war „What I did for love“ aus „A Chorus Line“ eine ganz blöde Idee. Als mich die Wahl der richtigen Universität plagte, konnte ich kein „Yentl“ singen. Und jetzt, wo ich mir sicher bin, dass die LMU die richtige Wahl war, kommt so was. Ich habe meinen Instinkten getraut und nicht der Vernunft, die mir sagte, lass den Quatsch, bleib in deinem Job, bleib in Hamburg, verdien weiter Geld. Stattdessen räume ich gerade mein Tagesgeldkonto leer und führe eine Wochenendbeziehung – aber dafür bekomme ich in jeder Stunde an der Uni so unglaublich viel zurück. Und natürlich ist das immer noch ein großer Sprung ins Ungewisse: Wie läuft das mit der Arbeit nebenbei, wie gut komme ich mit dem Studium zurecht, wie gut verkraftet meine Beziehung die zeitweiligen Trennungen?
Aber tief in meinem Herzen weiß ich: Das war die richtige Entscheidung. Der Sprung war gut, und er wird sich lohnen. Wahrscheinlich nicht finanziell, aber diese Erfüllung hatte ich die letzten Jahre. Und genau diese Jahre ermöglichen mir jetzt das Studium.
Wenn da nicht der übliche nörgelnde Zweifel wäre. Den habe ich mir während meiner Diätjahre prima rangezüchtet, das ständige Selbstüberprüfen, das dauernde Vergleichen mit anderen, das ewige Runtermachen von eigenen Meilensteinen. Das hast du alles nicht verdient, denn du bist noch nicht dünn genug. Darüber darfst du dich noch nicht freuen, denn du bist noch nicht dünn genug. Dein Leben kann gar nicht großartig sein, denn du bist noch nicht dünn genug. Den Zahn habe ich mir eigentlich in den letzten Jahren gezogen, aber irgendwas ist da anscheinend immer noch in mir drin, dass mir sagt, dass ich es nicht verdient habe, mich über irgendwas zu freuen. Und deswegen werfen mich solche Songzeilen immer so um, weil ich mich ihnen ausliefere, ohne Schutzschild, ohne meine übliche distanzaufbauende Ironie – ich stehe in einem Raum und singe darüber, meine Instinkten zu trauen und einfach zu springen. Mein Kopf macht darüber sofort Witze, aber mein Herz weiß: Genau das hast du gerade gemacht, und darauf kannst du verdammt noch mal stolz sein. Aber das muss ich immer noch lernen: auf mich stolz zu sein. Mir selbst auf die Schulter zu klopfen und mich einfach mal machen zu lassen. Ohne die eigene, interne Scheißstimme, die mich runtermachen will, weil sie mich jahrelang runtergemacht hat.
Aber so langsam höre ich nicht mehr auf sie. Ich nehme mir ganz allmählich den Platz, der mir zusteht, anstatt mich in einer Ecke rumzudrücken. Ich mache in der Uni den Mund auf, genau wie im Gesangsunterricht. Ich bin laut. Und ich will noch lauter werden. Gesprungen bin ich schon. Mir kann überhaupt nichts mehr passieren.
“I’m through accepting limits
Cuz someone says they’re so
Some things I cannot change
But till I try I’ll never knowToo long I’ve been afraid of
Losing love I guess I’ve lost
Well if that’s love
It comes at much too high a costI’d sooner buy defying gravity
Kiss me goodbye, I’m defying gravity
And you can’t pull me down!”
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Hans Memlings Devotions- und Ehepaardiptychen
(Das war mein heutiges Referat bzw. das sind meine huschig ausformulierten Notizen. Die fortgeschrittenen oder schon fertigen Kunsthistoriker_innen überspringen dieses Erstsemestergeschwurbel besser. Oder lehnen sich gemütlich zurück und denken sich, ach ja, so klein war ich auch mal.)
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Zur Erinnerung: Mein Kurs heißt „Die Anfänge der Porträtmalerei im 14. und 15. Jahrhundert“. Bisher haben wir unter anderem das vermutlich erste autonome Künstlerporträt kennengelernt. Die Referentin vor mir erzählte dann etwas über Petrus Christus, der mit seinem Porträt des Edward Grimston das erste Bildnis schuf, in dem ein klarer Raum erkennbar war. Vorher standen die gemalten Menschen unmotiviert vor diffusen, meist dunklen Hintergründen. Oder wir hatten das Stifterbild wie die Rolin-Madonna, in der sich die Porträtierten zwar in einem Raum befinden, aber der ist noch irreal. Zudem besteht eine klare Trennung zwischen der göttlichen und der profanen Sphäre.
Das änderte sich alles mit Memlings „Diptychon des Maarten van Niewenhove“.
Hans Memling wurde zwischen 1433 und 1440 in Seligenstadt bei Frankfurt geboren (die meisten Forscher tendieren eher zu später als zu früher), in Brügge ist er erstmals 1465 nachweisbar, gestorben ist er dort 1494. Er war einer der produktivsten Maler des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden; es sind fast 100 seiner Werke erhalten, und davon waren ein Drittel Porträts.
Diptychen sind keine neue Erfindung, bereits im antiken Rom gibt es eine klappbare Schreibtafel namens „diptycha“. Diese Form des Gemäldes erfreute sich aber in der zweiten Hälfte des 15. sowie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Das hing mit der „Devotio moderna“ zusammen, der „modernen Andacht“. Sie stellte die private Andacht dem öffentlichen Gottesdienst gleich bzw. ermunterte die Gläubigen, sich auch privat mit ihrer Spiritualität zu beschäftigen sowie das Leben Jesu bzw. seine Menschlichkeit zu erforschen. Private Einkehr, individuelle Bibelstudien und Meditation schufen einen neuen, persönlichen Kontakt zum Göttlichen.
Dafür sind Devotionsdiptychen schlicht praktischer als Gemälde, die an der Wand hängen. Sie sind meist kleinformatiger; sie wurden auf Kissen gelegt, auf ein Pult gestellt oder in Familienkapellen genutzt, um zu beten. Das Diptychon des van Nieuwenhove hing (ja, eine Ausnahme, ich komme noch darauf, warum) in der Liebfrauenkirche in Brügge), wo die Familie eine Privatkapelle besaß.
Brügge war im 15. Jahrhundert ein wichtiger und wohlhabender Handelsplatz. Eine vermögende Mittelschicht aus Kaufleuten und Bankiers konnte es sich leisten, Gemälde, Porträts oder Diptychen anfertigen zu lassen. (In einem Buch fand ich das schöne Zitat „Die Kunst ist immer da, wo das Geld ist“, aber ich Nase habe mir natürlich nicht notiert, von wem der Satz stammt. Dieses wissenschaftliche Arbeiten muss ich noch üben.)
Bei den Devotionsdiptychen gibt es zwei Darstellungsweisen: einmal je einen oder eine Heilige/n pro Flügel oder das sogenannte Stifterbild: eine/n Heilige/n (meist die Madonna mit Kind) sowie den Stifter, das heißt, den Auftraggeber des Bildes.
Diptychon des Maarten van Nieuwenhove
(Klick macht groß)
1487
Öl auf Eichenholz
jeder Flügel 52 x 41,5 cm
Originalrahmen
Memlingmuseum, Brügge
Maarten van Nieuwenhove wurde 1463 in eine einflussreiche Brügger Familie geboren; einige Familienmitglieder waren bereits ranghohe Politiker im Stadtrat von Brügge oder in der Verwaltung von Burgund. Maarten strebte eine ähnliche Karriere an. Nach einigen Schwierigkeiten gelang ihm das auch: 1492 wurde er Ratsherr, 1497 Bürgermeister von Brügge, gestorben ist er 1500. Er ließ das Andachtsdiptychon allerdings bereits 1487 anfertigen, als er noch kein politisches Amt innehatte.
Bildbeschreibung
In der linken Hälfte sehen wir die Madonna mit Kind als Halbfigur, frontal, hinter einer Mauer oder einer Balustrade. Sie ist reich geschmückt und sehr elegant gekleidet. Neben ihr im rechten Flügel Maarten van Nieuwenhove, ebenfalls prächtig gekleidet. Er war offensichtlich gerade im Gebet versunken – sein geöffnetes Gebetbuch liegt vor ihm –, als ihm die Madonna erschien; sein überraschter Gesichtsausdruck kündet davon. Das Besondere bzw. der Unterschied zu den Räumen, in denen sich Stifter und Madonna bisher befanden: Diese beiden sind in einem echten Raum, keinem imaginären. Genauer gesagt, in Maartens guter Stube.
Mehrere Details weisen auf den Stifter hin: Auf dem linken Rahmen steht die (übersetzte) Bildunterschrift „Maarten van Nieuwenhove hat dieses Werk machen lassen im Jahre des Herrn 1487“, rechts steht „im Alter von 23 Jahren“. Hinter beide Sätze ist jeweils ein winziger Drache gezeichnet, dessen Bedeutung wir leider nicht kennen.
Im Fenster hinter der Madonna sind das Familienwappen sowie das -motto sichtbar („Il ya cause“, „nicht ohne Grund“). Außerdem erkennen wir vier Medaillons, auf denen eine Hand goldenen Samen aussät – eine klare Anspielung auf den Familiennamen, der übersetzt „neuer Hof“ bzw. „neuer Garten“ lautet. Ebenfalls hinter der Madonna: zwei vermutlich persönlich gewählte Schutzheilige von van Nieuwenhove, St. Georg sowie St. Christopherus.
Zusätzlich im Bild, direkt hinter Maarten: St. Martin, sein Namenspatron. Und noch etwas viel wichtigeres: der Mittler. Wenn sich ein/e Heilige/r und ein Mensch in einem Bild begegnen, geht das nicht ohne Mittler. Das ist normalerweise ein/e andere/r Heilige/r oder ein Engel. Memling, der schlaue Fuchs, wollte sich aber nicht seine schöne Bildkomposition mit den zwei Porträtierten ruinieren lassen, und so nutzte er den Hl. Martin schlicht als großes Fensterbild, um ihn als Mittler im Bild zu haben, ohne dass er groß auffällt. (Das ist übrigens ein klassisches Beispiel für den sogenannten „disguised symbolism“ von Erwin Panofsky, also ganz simpel: Eine Pfeife ist manchmal mehr als eine Pfeife.)
Eine weitere Besonderheit: die Landschaft. Sie ist klar als ein Blick über den Brügger Minnegarden identifizierbar. Auch hier: Wir befinden uns nicht in einer imaginären Fantasiewelt, sondern mitten im Leben. Zudem stimmt die Perspektive. Wenn ihr dieses Bild mit der Rolin-Madonna vergleicht, wird klar, was ich meine. Rolin und seine Heilige befinden sich in einer Höhe über der Landschaft, die damals nicht möglich war. Hier sieht alles deutlich realer aus.
Das liegt auch an Memlings Stil, den Dirk de Vos, Konservator im Groeningemuseum in Brügge, als „skulptural“ bezeichnet. Während van Eyck noch sehr „malerisch“ arbeitete, also mit dramatischem Licht und großer Geste, wo Memlings Lehrherr Rogier van der Weyden noch stark an die Fläche gebunden malte und seine Figuren sehr linear aussahen, wirken Memlings Menschen fast dreidimensional. de Vos schreibt, man könne Memlings Figuren ohne Probleme als Skulptur nachbilden, was vorher bzw. bei anderen Malern vor ihm eher selten der Fall war.
Diese Dreidimensionalität versucht Memling auch auf andere Weise zu erzielen: Kleine Trompe-l’oeil-Effekte lassen das Bild plastischer wirken. Hier wirft das Kissen, auf dem das Jesukind ruht, einen kleinen Schatten auf den Rahmen, und auch der Mantel der Maria geht über die reine Bildfläche hinaus.
Was man in diesem Ausschnitt ebenfalls sieht: die Aufhebung der Trennung zwischen Weltlichem und Göttlichem. Der orientalische Teppich auf der Balustrade geht vom linken in den rechten Flügel über, genau wie der Mantel der Madonna – auf dem Maarten sogar sein Gebetbuch ablegt. Und noch ein wichtiges Detail informiert über die Trennung: der kleine konvexe Spiegel hinter der von uns aus linken Schulter der Madonna.
Das Spiegelbild zeigt Stifter und Madonna im gleichen Raum. Maarten kniet neben der Madonna, neben der noch ein aufgeschlagenes Buch liegt. Hinter ihnen (also eigentlich vor ihnen) befinden sich zwei Fenster – und das sind genau die „Fenster“, durch die wir auf die beiden blicken, nämlich die Rahmen des Diptychon. Leon Battista Alberti schrieb 1440, dass ein Bild ein Fenster sei, das unseren Blick öffne. Die Idee, mit einem Spiegel eine Perspektive zu zeigen, die sonst nicht von uns einsehbar wäre, ist nicht neu. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich van Eycks Arnolfini-Hochzeit, in dessen Spiegel sich der Maler selbst verewigt hat. Auch Memling nutzte in anderen Bildern den Spiegel, genau wie Petrus Christus, der in einem Bild eine Ladenzeile zeigte, in der ein Spiegel steht, der uns den Blick auf die Straße vor dem Laden freigibt. (Nebenbei: Der Flachspiegel war noch nicht erfunden, daher hängen in diesen ganzen Bildern Konvexspiegel. Wenn man sich die „Fischaugenoptik“ vergegenwärtigt, ist es noch beeindruckender, dass van Eyck sich selbst malte, indem er in einen dieser gekrümmten Spiegel blickte.)
Ich erwähnte oben, dass dieses Diptychon vermutlich an der Wand hing anstatt Maarten auf einem Plüschkissen beim Gebet zu unterstützen. Das hängt mit dem Bild und dem Stifter selbst zusammen, denn es erfüllt zwei Funktionen. Es sollte sicherlich auf die eigene Frömmigkeit hinweisen, aber: Es ist gleichzeitig eine ziemlich unverhohlene Wahlwerbung. van Nieuwenhove wusste genau, warum er seine Insignien so deutlich kommunizierte und das Bild vor allem in der öffentlich einsehbaren Familienkapelle platzierte: Weil er jeden darauf hinweisen wollte, aus welch guter Familie er stammte und über welchen sozialen Status er verfügte.
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Der zweite Teil meines Referats beschäftigte sich (deutlich kürzer) mit den Ehepaardiptychen von Memling.
Bildnis eines alten Ehepaars, um 1470–75
Mann: Berlin, Staatliche Museen, 36,1 x 29,4 cm, Öl auf Eichenholz
Frau: Paris, Musée de Louvre, 35,4 x 29,3 cm, Öl auf Eichenholz
Ehepaarporträts waren meist Hochzeitsporträts und hatten einen dokumentarischen Charakter. Sie waren sehr privat und wurden nicht herumgezeigt oder ausgestellt. Die Funktion dieses Bilds ist unklar; die beiden sind zu alt, um frisch verheiratet zu sein. Es könnte ein schlichtes Erinnerungsbild sein. Beim Adel waren Porträts schon länger bekannt, auch um fernen Verwandten klarzumachen, wie der Enkel eigentlich aussieht oder die kleine Infantin, die diesen Enkel eines Tages heiraten könnte.
Im Bürgertum waren Porträts noch nicht so lange gang und gäbe, und deswegen ist dieses Bild so interessant. Es ist ein Diptychon – aber auch hier wird die Trennung zwischen den beiden Figuren aufgehoben. Die Balustrade, vor der die beiden sitzen, verbindet die Hälften, genau wie die Landschaft im Hintergrund (die übrigens auch wieder perspektivisch korrekt ist und keine Fantasiegefilde zeigt). Der einzige Grund, warum Memling ein Diptychon malte: Er wusste es nicht besser. Es gab zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Ehepaarporträt in Halbfigur, das die Dargestellten auf einer Tafel zeigte. Also nutzte er, wie immer, zwei.
Und das sind die kleinen Details, die für mich die Kunstgeschichte so spannend machen: Was war bekannt, was wurde gerade erst erarbeitet? Woher kamen die Inspirationen? Was änderte sich wann und warum? Alleine bei der Recherche zum Maarten-Diptychon bin ich über so viele Fragestellungen gestolpert, dass ich es kaum erwarten kann, meine Hausarbeit darüber zu schreiben.
Literatur (Auswahl):
Belting, Hans; Kruse, Christiane, „Die Erfindung des Gemäldes“, München 1994
Beyer, Andreas, „Das Porträt in der Malerei“, München 2002
Borchert, Till-Holger (Hrsg.), „Hans Memling – Portraits“, Stuttgart 2005
de Vos, Dirk, „Hans Memling – das Gesamtwerk“, Stuttgart 1994
Dülberg, Angelica, „Privatporträts – Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert“, Berlin 1990
Hand, John Oliver (Hrsg.), „Prayers and Portraits – Unfolding the Netherlandish Diptych“, Washington 2006
Lane, Barbara G., „Hans Memling, Master Painter in Fifteenth-Century Bruges“, London 2009
Winkler, Friedrich, „Die altniederländische Malerei“, Berlin 1924
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Audi-Fahrhilfen: Maria Kühn, Gerd Schönfelder, Vico Merklein
(Alle Fotos stammen von Jo Magrean und ich veröffentliche sie hier mit hoffentlich freundlicher Genehmigung der AUDI AG. Ehrlich gesagt warte ich seit Wochen auf eine Ansage, weswegen ich das Risiko mal eingehe, sie vielleicht doch wieder von der Seite nehmen zu müssen, aber jetzt ist der Katalog frei und erschienen und jetzt darf ich endlich über ihn schreiben. Dann mach ich das natürlich auch. Die Vorgeschichte zu diesem Katalogtext steht übrigens hier.)
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„Ich mache alles mit links.“
Der Alpin-Skifahrer Gerd Schönfelder wurde am 2. September 1970 geboren und lebt in Kulmain/Bayern. Er fährt einen daytonagrauen Audi A6 Avant S line mit dem Multifunktionsdrehknauf.
Jahrelang beherrschte Gerd Schönfelder die Alpinski-Szene der behinderten Athleten, nahm an sechs Paralympics teil und gewann dort 16 Gold- sowie einige Silber- und Bronze-Medaillen. Aber wenn es um Sport geht, bekommt er nie genug: „Ich spiele Tennis, Fußball und Golf, gehe schwimmen, radfahren und Inline-Skaten. Zuhause habe ich ein Quad, und demnächst würde ich gerne Kitesurfen. Kajakfahren steht auch noch auf dem Plan; es gibt Boote, die man mit den Füßen antreibt.“ Warum das wichtig ist: Schönfelder verlor bei einem Unfall vor über 20 Jahren seinen rechten Arm samt Schulter sowie einige Finger der linken Hand. Das hindert ihn aber nicht daran, diverse Sportarten auszuüben: „Der Körper ist sehr flexibel. Und notfalls nutzt man eben Hilfsmittel. Golf spiele ich mit einer Manschette, die ich am Handgelenk befestige. Ohne die würde ich bei jedem Schwung den Schläger weiterschlagen als den Ball“, lacht Schönfelder.
Seine positive Grundhaltung ist bei allem spürbar. Er bewegt sich lässig und entspannt, lacht viel, albert beim Fotoshooting gut gelaunt vor der Kamera herum. Sein Optimismus half ihm auch nach dem Unfall, der alles veränderte. „Zunächst war es natürlich schlimm – aber ich kann gut verdrängen. Ich sagte mir, alles zu seiner Zeit, ein Schritt nach dem anderen. So habe ich mir alles zurückerkämpft: essen, sich alleine anziehen, den Alltag eben. Ich bin relativ erfinderisch – ich überlege mir, wie etwas werden muss, und dann versuche ich, es umzusetzen.“
Das ist ihm sehr erfolgreich gelungen. Schon ein halbes Jahr nach dem Unfall stand er wieder auf Skiern, die ihn seit Kindertagen begleiten. „1990 waren das Material und die Technik anders als heute; es gab noch keine Carving-Ski, nur die normalen langen Latten. Es wurde viel aus dem Oberkörper heraus gefahren, weniger mit Stockhilfe. Das kam mir zugute. Und: Man stellt sich relativ schnell auf das Handicap ein. Ich war Rechtshänder und schreibe jetzt halt mit links – was bleibt mir übrig? Ich mach‘ jetzt alles mit links.“
„Behindert ist man nur, wenn man sich behindern lässt.“
Der Weg zurück in die Öffentlichkeit fiel zunächst schwer. Anfangs trug Schönfelder eine Prothese, um, wie er sagt, nicht aufzufallen. „Aber mich hat das Ding gestört, das war ein Fremdkörper ohne Funktion. Deswegen habe ich sie ziemlich schnell wieder abgelegt.“ Schönfelder weiter: „Ich fühle mich nicht behindert. Behindert ist man nur, wenn man sich in seinem Tun einschränken lässt. Wenn du alles machst, was du machen willst, bist du nicht behindert. Und ich mache alles.“ Er überlegt kurz und grinst dann: „Okay, Klavierspielen wär‘ schwierig.“
Schönfelder beendete seine aktive Laufbahn Anfang 2012 und arbeitet nun unter anderem als Honorartrainer für die Behinderten-Ski-Nationalmannschaft. Zusätzlich ist er in seinem bayerischen Heimatdorf Kulmain als Jugendbeauftragter tätig und sitzt im Kreistag von Tirschenreuth. Eines seiner Anliegen ist die Behindertenförderung. „Es ist mir sehr wichtig, Menschen den Sport näherzubringen. Gerade für Behinderte ist es wichtig, den Körper fitzuhalten, weil man so das Handicap besser kompensieren kann. Wenn du nicht mal alleine ins Auto kommst, zum Beispiel aus einem Rollstuhl heraus, ist das schon ein großer Verlust an Lebensqualität und Freiheit.“
Sein Auto ist ein daytonagrauer Audi A6 Avant S line mit quattro-Antrieb. Als Wintersportler ist er sehr oft auf Schnee und in den Bergen unterwegs – „da brauche ich ein zuverlässiges Auto, auf das ich keine Ketten ziehen muss. 2011 beim Training hat es in Innsbruck geschneit ohne Ende. Ein Kombi mit Anhänger, auf den ein Quad geladen war, blieb liegen und blockierte die Straße. Ich habe den Fahrer gefragt, ob ich helfen kann und dann das Auto samt Anhänger zehn Kilometer den Berg raufgeschleppt. Er meinte, er sei den Berg noch nie so schnell raufgekommen.“
„Ich glaube nicht, dass mein Leben besser wäre, wenn der Unfall nicht passiert wäre.“
Auch mit den Audi Fahrhilfen ist Schönfelder sehr zufrieden – selbst wenn er sie nicht mehr so oft einsetzen muss. „Mein erstes Auto musste ich umbauen lassen, habe alles auf die linke Seite gebracht und das Licht mit dem Fuß bedient. Das ist heute nicht mehr nötig; mir kommt die technische Weiterentwicklung sehr entgegen. Mein A6 Avant verfügt über ein Automatikgetriebe und adaptive light mit gleitender Leuchtweitenregulierung – eigentlich macht das Auto alles für mich.“
Auch wenn Schönfelder im sportlichen Ruhestand ist, hat er noch genug zu tun. Neben seiner Tätigkeit als Trainer und Politiker hält er Vorträge, arbeitet als Motivationscoach und ist als Markenbotschafter für Audi unterwegs. Trotzdem bleibt endlich mehr Zeit für die Familie: „Meine Frau hat die letzten Jahre für mich zurückgesteckt, das mache ich jetzt wieder gut. Und ich freue mich darauf, auch bald mit meinen beiden Kindern Sport zu treiben.“
Sport ist für Schönfelder, wie er sagt, lebenswichtig. „Nicht nur für mich, sondern auch für die Inklusion – also die uneingeschränkte Teilnahme von Behinderten an der Gesellschaft. Gerade durch den Behindertensport ist die Wahrnehmung der nicht-behinderten Bevölkerung anders geworden. Die Leute wissen mittlerweile, was wir für Leistungen bringen. Wie Oscar Pistorius, der Weltrekordläufer. Das macht schon einen Rieseneindruck, wenn du mit Prothesen schneller bist als mit Beinen.“ Es kann allerdings auch zu ungewöhnlichen Begegnungen führen. Nach einem Wettkampf saß Schönfelder mit seinen Mannschaftskollegen am Flughafen Hamburg – „da waren zwei Rollis, zwei Unterschenkelamputierte mit ihren Krücken und ich … und da fragte eine Frau mich ganz leise, welchen Sport wir machen, dass wir so viele Verletzte haben.“
Schönfelder lacht herzhaft und wird dann still. Er sinniert: „Wenn mich jemand fragen würde, ob ich zwei Arme haben möchte, würde ich natürlich ja sagen. Aber ich glaube nicht, dass mein Leben besser wäre, wenn der Unfall nicht passiert wäre. Was ich erlebt habe, ist schon Wahnsinn.“
„Jetzt erst recht.“
Die Rollstuhl-Basketballerin Maria Kühn wurde am 14. Februar 1982 geboren und lebt in Stuttgart/Baden-Württemberg. Sie fährt einen gletscherweißen Audi A1 Sportback S line mit dem Handbediengerät classic für Bremse und Gas, dem Lenkraddrehknauf und der Pedalabdeckung.
„Eigentlich habe ich Ballsportarten gehasst!“
Ingolstadt, die Neuwagenabholung bei Audi. Maria Kühn, 30, steigt gerade von ihrem Rollstuhl das erste Mal in ihren neuen Audi A1 Sportback um. Wo ihr Lächeln schon vorher jeden Umstehenden bezaubert hat, gibt es jetzt kein Halten mehr: Sie klatscht lachend in die Hände, quietscht vergnügt vor sich hin und stellt erst einmal Fahrersitz und Spiegel mit geübten Handgriffen ein. Vor dem A1 war ein Audi A4 Avant ihr zweiter fahrbarer Untersatz: „Ich dachte, ich bräuchte wegen des Rollstuhls so viel Platz. Aber es passt auch alles bequem in den A1.“ Sie klappt den Monitor des MMI (Multi Media Interface) hoch, fährt mit den Händen liebevoll über Dekoreinlagen und das Lenkrad. Ihr neues Nummernschild begeistert sie ebenfalls, denn es trägt ihre Initialien – „das musste sein.“ Auch in anderen Lebensbereichen achtet sie auf Optik: Ihr türkisfarbenes Shirt lässt ihre blauen Augen noch mehr strahlen, und an ihrem Rollstuhl klebt ein kleines Glückskleeblatt.
Der Reitunfall, der sie zur Rollstuhlfahrerin machte, passierte, als Kühn 20 Jahre alt war. Nach dem Sportabitur arbeitete sie ein Jahr als Au-pair und gönnte sich im Anschluss daran noch einen Monat Urlaub an der Westküste der USA. Bei einem Ausritt im Monument Valley wurde ihr Pferd unruhig und stürmte los. Kühn wurde abgeworfen und ist seitdem ab dem 5. Brustwirbel abwärts gelähmt. Selbst als sie diese Geschichte erzählt, muss sie lachen: „Ich hatte vorher nie etwas! Keinen Kratzer, keine blauen Flecken – und dann das.“ Sportlich war sie immer, aber: „Eigentlich habe ich Ballsportarten gehasst! Für mein Abitur musste ich Volleyball spielen und fand es fürchterlich.“ Ironie der Geschichte: Heute ist Maria Kühn Mitglied der erfolgreichen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft der Frauen. Mit ihren Kolleginnen wurde sie 2011 zum wiederholten Male Europameisterin. Zudem gewannen sie bei den Paralympics in London 2012 die Goldmedaille.
Rollstuhlbasketball – das geht ganz schön zur Sache.
Dreimal die Woche fährt sie von ihrem Wohnort Stuttgart nach Frankfurt, wo sie bei den Mainhattan Skywheelers spielt. Davor hat sie bereits den ganzen Tag gearbeitet – seit Oktober 2011 ist Kühn bei der Stuttgarter Prüf- und Sachverständigenorganisation GTÜ in der Personalabteilung tätig. „Mein Arbeitgeber kommt mir sehr entgegen: Wenn ich wegen der Nationalmannschaft reise oder länger trainieren muss, treffen wir kurzfristige Abmachungen. Aber ich muss schon sehr oft früher kommen oder länger arbeiten, um meine 40 Stunden zu erfüllen und gleichzeitig mein Trainingspensum zu halten.“
Im Training baut Kühn zunächst Ausdauer auf. „Das heißt, ich fahre ein paar Runden, stoppe die Zeit und versuche, sie auf den nächsten Runden zu unterbieten. Außerdem mache ich natürlich Wurftraining und arbeite an meiner Kraft und Fitness. Und die Chair Skills kommen auch nicht zu kurz.“ Der Basketballrollstuhl verlangt eine etwas andere Bedienung. Er wiegt mehr als der zehn Kilo leichte Alltagsrollstuhl, seine Räder sind angeschrägt und er verfügt über einen Rammschutz. „In der Bundesliga spielen wir mit Männern zusammen im Verein – das geht ganz schön zur Sache. Deswegen sind wir beim Spiel sogar angeschnallt.“
Wie ist sie überhaupt zum Basketball gekommen, wenn sie Ballsportarten doch nicht mag? Kühn lacht wieder: „Eigentlich wollte ich überhaupt nicht in eine Behindertensportgruppe. Ich habe gedacht, die bemitleiden sich da bloß alle gegenseitig. Ist natürlich Quatsch. Meine erste Idee war Rollstuhltanz. Das ging aber gar nicht – da tanzt ein Fußgänger um dich herum, während du dich ab und zu mal drehen darfst. Das war so albern! Aber in Ludwigsburg, wo ich das Tanzen ausprobierte, gab es auch Basketball. Da ging ich einfach mal vorbei – und bin begeistert geblieben.“
Als Hobbys gibt Kühn reisen, shoppen und ihre Familie an – auch wenn die inzwischen meist zu ihren Spielen kommen muss, um sie zwischen Arbeit und Leistungssport überhaupt noch zu sehen. Auch Kühns Lebensgefährte spielt bei den Skywheelers. „Er fährt einen Audi RS 3. Einmal habe ich den Wagen heimlich gefahren, das gab fast einen Beziehungskrach.“ Deswegen wird er wohl auch nicht ans Steuer ihres A1 S line dürfen. „Ich freue mich so sehr über dieses Auto. Mit den Fahrhilfen zu steuern, ist anders als die gewohnte Art, Auto zu fahren, aber eigentlich sogar leichter. Man hat eine einzige Fahrstunde. In der wird aber eher darauf geachtet, ob du die nötige Kraft hast. Einige Rollstuhlfahrer können ihren Trizeps nicht richtig einsetzen, aber dieses Problem habe ich glücklicherweise nicht. Es ist ein bisschen wie Motorradfahren – man macht eben alles mit der Hand.“
Wenn sie nicht selbst aktiv ist, schaut Kühn sich auch gerne Sport im Fernsehen an: Fußball oder Formel 1, wobei da Sebastian Vettel ihr Favorit ist. Treibt sie denn auch Sport in ihrer wenigen Freizeit? „Ja, ich fahre gerne Rad oder gehe schwimmen. Was ich auch unbedingt noch machen will, ist Fallschirmspringen oder Bungeejumping“. Sie überlegt kurz und meint dann lächelnd: „Meine Risikofreude hat nach dem Unfall eigentlich sogar noch zugenommen: Ich will mir selbst beweisen, was alles geht. Ich wäre auch ohne Rollstuhl auf die Idee gekommen, Fallschirmspringen zu wollen. Aber jetzt will ich es erst recht.“
„Steck‘ niemanden in eine Schublade.“
Der Handbiker Vico Merklein wurde am 12. August 1978 geboren und lebt in Babenhausen/Hessen. Er fährt einen Audi A6 Avant in Eissilber metallic mit dem Handbediengerät classic für Bremse und Gas sowie dem Lenkraddrehknauf.
Vico Merklein bringt seine Freundin Nancy mit zum Fotoshooting, die sich auch nach einem Jahr Beziehung immer noch über die ersten Reaktionen ihrer Familie amüsiert, als sie einen Rollstuhlfahrer als ihren Lebensgefährten präsentierte. „Sie haben sich krampfhaft Formulierungen wie ,Wo geht ihr denn noch hin?‘ oder ,Wie läuft‘s denn?‘ verkniffen bzw. mitten im Satz umformuliert in ,Was macht ihr denn noch?‘ Aber das hat sich inzwischen gelegt.“
Auch Merklein, als Handbiker Marathonsieger in Hamburg 2012 und Berlin 2011 und Silbermedaillengewinner in London 2012, hat früher Menschen in Fußgänger und Rollstuhlfahrer unterteilt. Heute denkt er nicht mehr darüber nach. Aber das hat eine lange Zeit gedauert.
Merklein war knapp 20, ein Draufgänger – „ich war auch mal jung und wild“ – und fuhr Motorrad. Bis ihn ein Unfall zum Rollstuhlfahrer machte. „Die erste Zeit habe ich versucht, das zu ignorieren. Es hat vier Jahre gedauert, bis ich das verarbeitet hatte. Davor habe ich sehr gehadert: Mir geht‘s so schlecht, und nur mir geht‘s so schlecht. Ich hörte nicht mehr auf meinen Körper, war verzweifelt, dass er nicht mehr das konnte, was ich von ihm gewohnt war. Ich verlor jeden Rhythmus, war morgens um 3 wach und nachmittags um 5 müde – von nichts.“ Bis ihm eines Tages ein Mann im Rollstuhl mit einem sogenannten Vorschnallbike begegnet. Merklein ist sofort begeistert, kauft sich für 1.300 D-Mark ein solches Fahrrad, das man mit der Hand bedient anstatt mit den Beinen und beginnt seine erste Ausfahrt. Ganze fünf Kilometer schafft er, bevor er ausgepowert wieder nach Hause kommt – und sofort ins Bett fällt.
20.000 Kilometer mit der Hand.
Heute, mit 32, fährt er bis zu 20.000 Kilometer im Jahr, jeden Tag, auf der Straße, dem mechanischen Trainingsbike zuhause, in der Höhenkammer, die 2.000 Meter über Null simuliert, ein Rennen nach dem anderen, bis die Saison vorbei ist – und die nächste wartet. 30 bis 35 Stunden pro Woche liegt Merklein in seinem Handbike. „Anders kommst du nicht auf das Level, das heute nötig ist. Ich fahre schließlich nicht zu den Rennen, um Zweiter zu werden.“
Denn obwohl Merklein zu den Ausnahmeathleten seiner Disziplin gehört – die Konkurrenz schläft nicht. „Früher musste man einmal im Jahr, zu Saisonbeginn, ein paar Wochen Grundlage fahren. Das heißt, Ausdauer trainieren, einfach Kilometer runterreißen. Heute mache ich das vier- bis fünfmal im Jahr. Wenn ich dann trotzdem noch ein Rennen verliere, kann ich mir wenigstens nicht vorwerfen, nicht genug getan zu haben. Dann kann ich auch locker dem Sieger gratulieren – der hat noch mehr geackert, und ich habe es ihm ordentlich schwer gemacht.“
Der durchtrainierte Sportler sprüht vor Ehrgeiz. Gleichzeitig schafft er sich Ruhezonen, selbst mitten im Training. „In Lanzarote gibt es einen Berg, da fahre ich jedes Mal rauf. Von Playa Blanca und zurück sind es ungefähr 120 Kilometer, die ich zurücklegen muss. Wenn ich kurbele, höre ich nur dem Wind zu, ich habe keine Musik dabei. Und dann bin ich oben auf dem Berg und gucke 800 Meter weit runter: Da ist das Meer, und bei gutem Wetter kann man bis Playa Blanca sehen. Das ist so surreal. Ich könnte da stundenlang stehen und gucken.“
Bei den Rennen fährt Merklein ein maßangefertigtes Handbike, das gerade einmal 13,8 Kilogramm auf die Waage bringt. Das Sportgerät aus Aluminium und Carbon liegt acht Zentimeter über der Straße, und Merklein treibt es auf bis zu 80, 90 Stundenkilometer, wenn er bergab fährt. Das erste professionelle Rad kaufte ihm seine Oma für 3.700 Euro; sein jetziges Gefährt kostet um die 12.000 Euro. „Und alle zwei Jahre braucht man ein neues.“
„Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas vermisst habe.“
Wenn er nicht im Fahrrad liegt, nutzt er einen Audi A6 Avant. „Einfacher geht‘s gar nicht. Ich fahre einen A6 mit Automatikgetriebe, das heißt, ich muss mit dem Handbediengerät nur Gas geben und bremsen. Und mit dem zusätzlichen Knopf am Lenkrad kann ich ganz ohne Kraft steuern. Der Audi liegt so ruhig auf der Straße, da merkt man gar nicht, wie schnell man ist. Aber ein Raser bin ich nicht. Ich fahre zügig, aber nicht rasant.“ Er lächelt verschmitzt: „Die Zeiten sind vorbei.“
Kann man sagen, dass der Sport ihn verändert hat? Merklein antwortet in seinem charmanten Mix aus Berlinerisch und Hessisch: „Absolut. Der Sport hat mein Leben um 180 Grad gedreht. Auch weil ich meinen Körper wieder benutze und ihn nicht mehr ignoriere. Ich lebe im Hier und Jetzt – ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal dachte, dass ich etwas vermisse.“ Dadurch hat sich auch die Blockade gelöst, die er jahrelang nach dem Unfall geistig empfand. Hilfe anzunehmen, fiel ihm schwer, er fühlte sich von allen beobachtet. „Das ist heute anders. Wenn ich Hilfe brauche, dann frage ich danach. Macht man als Fußgänger ja auch.“
Diese Hilfestellung gibt Merklein weiter. Manchmal lässt er lokale Favoriten in seinem Windschatten fahren – „ist ja seine Strecke, dann soll er auch gewinnen“ –, mal engagiert er sich für andere Behinderte. So erklärte er bei einem Aktionstag Kindern im Rollstuhl, wie ein Vorschnallbike funktioniert und wie sie damit sogar schneller sein können als ihre nichtbehinderten Freunde auf Inline-Skates. Einige der Kinder, die begeistert mit ihm um die Wette fuhren, hatten Lernschwierigkeiten. „Da dachte ich schon, na, ob das klappt, ihnen was zu erklären … aber genau die waren dann die Besten. Ich habe früher anderen vorgeworfen, mich abgestempelt zu haben – und jetzt erwische ich mich manchmal selbst dabei. Dann muss ich mir selber sagen, was ich auch von anderen erwarte: Steck niemanden in eine Schublade. Auch dich selbst nicht. Ich setze mir immer wieder neue Ziele, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überhaupt erreichen kann. Aber wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen.“
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Drei Shootings und der Katalog, der daraus entstand
Wie die meisten meiner geschätzten Leser_innen wissen, schreibe ich beruflich am liebsten Autokataloge. (Ich schreibe auch alles andere, aber in den Katalogen ist jedesmal Herzblut drin.) Mein Hauptarbeitgeber ist die Agentur, in der ich als piepsige Juniortexterin angefangen habe, in die ich nach einem kurzen Abstecher zur Konkurrenz und Mercedes-Benz als Seniorin zurückkam, um mich irgendwann selbständig zu machen und wieder gebucht zu werden. Immer für einen Kunden, der bis heute mein liebster ist und es wohl auch immer bleiben wird: Audi.
Audi baut nicht nur schöne Autos, sondern stattet sie auch auf Wunsch mit Fahrhilfen für Menschen aus, die körperlich eingeschränkt sind. Genau für diese Zielgruppe produzierten wir in den letzten Monaten einen Katalog, den ich ausnahmsweise nicht nur auf meine Arbeitsseite packe, sondern auch hier im Blog vorstellen möchte. In meiner persönlichen Hitliste kommt er direkt nach meinem Lieblingskatalog über die 24 Stunden von Le Mans, den ich bereits 2003 geschrieben habe.
Was ihn für mich so besonders macht, ist die Herangehensweise. Ich schrieb nicht über die üblichen Themen, die ich sonst liebevoll im Katalog abfiedele, den Motor, das Design, den Innenraum, die Neuheiten, die das Fahrzeug hat. Dieses Mal schrieb ich stattdessen über die Menschen, die mit dem Fahrzeug unterwegs sind.
Unsere Konzeptidee war, drei Sportler_innen vorzustellen, die die Audi-Fahrhilfen nutzen: Maria Kühn, Rollstuhl-Basketball, Vico Merklein, Handbike, und Gerd Schönfelder, Alpinski. Dafür wurden drei Low-Budget-Shootingtage geplant, eher spontan on location anstatt große Studioproduktion, und ausnahmsweise war ich dabei. Als Texterin sitze ich eigentlich brav in der Agentur, während die Art-Fraktion unter Palmen drei Wochen lang ein Auto fotografiert. Dieses Mal guckte ich meiner Art Direktorin und dem Junior-AD dabei zu, wie sie mit dem Fotografen und seinem Assistenten Bilder komponierten. Während sie sich zwischen den Aufnahmen über die Digitalkamera beugten und die nächsten Einstellungen diskutierten, grätschte ich kurz dazwischen und stellte unseren Modellen zwei, drei Fragen. Und während die anderen Mittagspause machten, schnappte ich mir die Sportler_innen und hatte jeweils eine gute Stunde Zeit, um sie mal in Ruhe auszuquetschen, wobei mir da Jo Magrean, der Fotograf, gerne über die Schulter guckte und die Menschen fotografierte, während sie mit mir redeten. Am Anfang war ich etwas skeptisch, ob wir uns nicht ständig in die Quere kämen, aber schon nach wenigen Stunden des ersten Tages war ich begeistert von dieser Art des Arbeitens.
(Junior-AD, Art Direktorin, Vico, Jo, Nancy, Kundin beim ersten Blick auf die Bilder, alles beim Staatstheater Darmstadt, wo wir zuerst fotografierten.)
Das hatte zum einen mit Jo zu tun. Meine Art Direktorin hatte ihn ausgewählt, weil ihr seine Art, Menschen zu fotografieren, so gut gefallen hat: Jedes Bild sieht persönlich aus, ungestellt, schlicht. Weit weg von der üblichen Hochglanzwerbeknipsigkeit, die wir bei diesem Projekt nicht haben wollten. Sein Assistent Matthieu ist Franzose und lebt in Spanien; mit ihm radebrechten wir auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch, Jo sprach stets Französisch mit ihm, dann unwillkürlich auch mit uns, was seltsamerweise meist funktionierte, es war an allen Shootingtagen richtig warm, wir haben in Hessen und dann in Bayern unter einem stahlblauen Himmel geshootet, und so fühlte es sich ein winziges bisschen wie Urlaub an, den man mit entspannten Freunden verbringt. Denn was Jo für mich so großartig gemacht hat, war seine Art, die Menschen vor der Kamera innerhalb von unglaublichen fünf Minuten locker zu kriegen.
Wir hatten gerade erst Hallo gesagt, da quatschte er Maria Kühn schon in ein Schwimmbad und Vico Merklein in die Sauna. Der einarmige Gerd Schönfelder flachste in Minutenschnelle zurück, als er die Ansage bekam: „Lass den einen Arm ruhig aus dem Autofenster hängen.“ – „Den anderen auch?“, Maria tauschte zwischen den Aufnahmen Shoppingtipps mit der Audi-Vertreterin am Set aus, und Vico knutschte seine Freundin Nancy, sobald kurz mal niemand was von ihm wollte. Die Atmosphäre war von Anfang an gut gelaunt und vertrauensvoll, und ich glaube nicht, dass ich das so hervorragend hinbekommen hätte wie Jo. Das Blöde ist: Ich weiß bis heute nicht, was er genau gemacht hat, denn er hat sich an jedem Shootingtag die jeweilige Hauptperson geschnappt und ist mit ihm oder ihr vom Rest der Gruppe weggegangen. Bei Maria und Gerd nahm er auf dem Beifahrersitz Platz, während wir zum ersten Shootingort fuhren, bei Vico bestand er darauf, ihn kurz alleine fotografieren zu dürfen. Und als wir wieder alle zusammen waren, hatte ich das Gefühl, wir seien auf einmal beste Freunde.
Und das war das zweite Tolle am Job: die Menschen, die ich kennenlernen durfte. Bei keinem war auch nur ein Hauch Arroganz oder Langeweile zu spüren – „Meh, schon wieder so ein oller Termin, den ich wahrnehmen muss“ –, ganz im Gegenteil. Vico hat mich mit seiner absoluten, fast zen-gleichen Ruhe beeindruckt. Egal ob er über seinen Unfall, seinen Sport, seine Familie sprach – er wirkte, als ob ihn nichts und niemand erschüttern kann. Umso spannender fand ich es, von ihm zu hören, dass er scheinbar am meisten von den dreien mit seinem neuen, anderen Körper nach dem Unfall zu kämpfen hatte. Maria hingegen ist ein Bündel von guter Laune; sie hatte einen Tag mit circa 33 Grad erwischt und musste mehrere Stunden lang in praller Sonne agieren. Das schien ihr alles nichts, aber auch gar nichts auszumachen, sie lächelte und lachte zu jeder Sekunde, und natürlich ist es ein Foto von ihr geworden, das auf dem Titel des Katalogs landete. Bei Gerd brauchte es nur ein Grinsen, und meine Art Direktorin und ich schmolzen dahin (wie bei Vico auch). Gerd ist ein Charmeur und Showman wie aus dem Bilderbuch, und das weiß er auch. Hier habe ich vor allem die stillen Momente genossen, die ich alleine mit ihm hatte. Jo und Matthieu bereiteten die nächsten Aufnahmen vor, das Art-Team war mit der Kundin verschwunden, und ich saß mit Gerd in Jos Hotelbett und quatschte, als ob wir uns schon 20 Jahre lang kennen würden. Irgendwann kam Jo dazu und fotografierte, und das Foto ist auch mein liebstes von Gerd im Katalog, wo man ihn im Profil sieht, mit mir nachdenklich sprechend, das dunkle Holz des Hotelbetts im Hintergrund, das weiche Mittagslicht.
(Jo und Matthieu fotografieren Maria vor dem Römer-Kelten-Museum in Manching.)
Beim Schreiben hatte ich die Seite Leidmedien im Hinterkopf, die netterweise gerade online ging, als ich mit dem Texten begann. Ich hoffe, mir ist nichts Blödes durchgerutscht, keine Menschen, die an den Rollstuhl „gefesselt sind“ oder „ihr schweres Schicksal meistern“. Unsere drei Sportler_innen haben die Texte vor der Veröffentlichung natürlich abgenickt und ich freue mich sehr darüber, dass sie nichts daran zu bemängeln hatten. Jedenfalls an der 24-seitigen Version, die Audi gedruckt hat. Intern haben wir eine 32-seitige Fassung erstellt, weil wir a) so viel zu erzählen und b) so viele schicke Bilder hatten. Auf meiner Arbeitsseite steht der 24-Seiter, und in einem weiteren Blogeintrag steht der Text, der in der 32-seitigen Broschüre gestanden hätte, zusammen mit ein paar Fotos. Im Blogeintrag fehlt die „Verkoofe“, also die Seite, auf der die Fahrhilfen zu sehen sind. Auch das war etwas, was mich am Projekt begeistert hat: dass wir eben kein Hardselling machen mussten und auf jeder Seite das Produkt zu sehen sein musste. Natürlich wird Audi erwähnt – he, es ist immer noch Werbung –, aber ich finde, es liest sich trotzdem wie eine Reportage. Zumindest hoffe ich das.
(Gerd schreibt schnell noch ein paar Autogramme, nachdem wir ihn durch Bayreuth und in einen Badesee gejagt haben.)
Bei Interesse: Hier steht der veröffentlichte 24-Seiter, und hier geht es zum Blogeintrag, aus dem leider kein 32-Seiter geworden ist.
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Alles auf Anfang
Ich sitze in jedem Kurs und habe riesengroße Augen und Ohren. Ich sehe Bilder, die ich schon kenne und Bilder, die ich noch nie gesehen habe. Ich höre bekannte und unbekannte Namen von Komponisten, Malern, Bauwerken, Kunstepochen, Musikstilen; in einer Vorlesung („Einführung in die Kunstgeschichte, Teil 1: 500 bis 1500“) stehen auf jeder Powerpointfolie gefühlt fünf Begriffe aus der Architektur, von denen ich höchstens zwei kenne und einen erklären könnte.
Aus der Semesterübersicht des Kurses „Die Anfänge der Porträtmalerei im 14. und 15. Jahrhundert“ leuchten mir Malernamen entgegen, mit denen ich mich beschäftigen darf, mit ihnen und ihren Werken, und ich lerne, wie sich das Porträt entwickelt, ich lerne über Stiftungen und die Vermenschlichung des Göttlichen und die Idealisierung. Ich lerne die „Musikgeschichte von 1700 bis 1830“, aus der, laut Dozent, gut die Hälfte aller Werke stammt, die wir aus Opernhäusern und Konzertsälen kennen, ich höre, dass die Bach-Werke neu chronologisiert wurden und dass deshalb das Barock nur noch bis 1720 geht und nicht mehr bis 1750 und dass Klassik ein Ideal zwischen Form und Ausdruck sei.
Ich sitze mit 130 Menschen in einem Hörsaal und plötzlich erklingt Scarlatti. Ich sitze direkt danach mit 20 Menschen in der dazugehörigen Übung und plötzlich erklingt Corelli. Der Dozent erklärt die drei Teile einer Ouvertüre, indem er sie einfach vorsingt. Ich erfahre, dass die italienische Ouvertüre eine andere Struktur hat als die französische, ich höre Begriffe wie Concerto Grosso und Grand Opéra. Ich lerne, dass Musik nicht dazu da ist, die Gefühle des Komponisten auszudrücken, aber ich lerne nicht, wozu sie sonst da ist. Ich ahne, dass das mein Job in den nächsten drei Jahren sein wird, es herauszufinden.
In der Kunstgeschichte-Einführung weiß ich zunächst gar nicht, wie mir geschieht, als ich plötzlich die Pfalzkapelle in Aachen erklärt bekomme, mir fehlt die Einordnung, mir fehlt der Plan, mir fehlt ja immer ein Plan, ich muss immer wissen, wo der Anfang und das Ende sind, aber das ist jetzt egal, jetzt versuche ich die Anlage einer Kirche zu begreifen und wie eine Säule sich zusammensetzt und warum diese Kirche als Sinnbild für die karolingische Renaissance gilt und was überhaupt die karolingische Renaissance ist. In der Übung zur Vorlesung lernen wir die ersten Grundbegriffe, wie man sich einem Bild nähert, welche Fragen man stellen kann, um es zu verstehen. Auf der Folie erscheinen die Sonnenblumen, die alle erkennen, und der Mann mit dem Goldhelm, zu dem die Dozentin meint, dafür seien wir wohl noch zu jung, der sei mal bekannt gewesen, weil alle dachten, es sei ein Rembrandt. Ich fühle mich alt, aber der Tag war auch lang.
In der Vorlesung „Die Skulpturen der Romanik“ höre ich wieder etwas von Säulen und den Karolingern, zwei Stunden später bei den „Klaviertrios von Beethoven“ diskutieren wir über den Begriff der Klassik, und nach lausigen drei Tagen ist der Effekt da, den ich erreichen wollte mit der Einschreibung und dem Studium: dass sich Dinge verbinden. Dass ich Dinge verstehe, dass ich sie einordnen kann, dass ich einen Plan erkenne, denn ich brauche ja immer einen Plan, ich brauche den Anfang und das Ende. Das hier ist ein Anfang, und er fühlt sich so an wie sich ein Anfang anfühlen sollte. Aufregend. Begeisternd. Erfüllend. Neugier weckend. Ich gehe in jeden Kurs und weiß nicht, was auf mich zukommt, und ich komme aus ihm heraus und weiß es noch weniger. Aber ich habe ein winziges Puzzlestück in den Händen, und das werde ich nicht wieder loslassen.
Die Säle sind voll, teilweise übervoll, nur ein Kurs ist viel zu leer, für die Beethoventrios interessieren sich außer mir nur noch fünf weitere Frauen. Ich kann mich nicht verstecken hinter den ganzen Mädchen mit Musikabi oder Kunstleistungskurs, ich muss zugeben, keine Ahnung von irgendetwas zu haben, aber das ist seltsamerweise nicht schlimm. Der Dozent meint, er beneide mich darum, diese Trios noch entdecken zu dürfen.
Als Texterin finde ich es fürchterlich, keine Ahnung zu haben, ich ergoogle mir alles, ich gehe vorbereitet in Meetings, ich mache den Job lange genug, ich weiß, was mich erwartet. Hier weiß ich nichts, und es fühlt sich großartig an. Ich warte darauf, dass mir jemand meinen Kopf vollstopft und mein Herz übergehen lässt, und ich verlasse mit hunderten Menschen den Hörsaal, gehe durch die alten, hohen Gänge, die breiten Treppen nach unten zur Ludwigstraße, schaue, höre, fühle, lasse mich treiben und trage ein inniges Lächeln mit mir herum. Und ich hoffe, dass es bleiben wird.
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Wie man sich mal eben in München immatrikuliert
Montag, 6. August, Hamburg
Eine Studienplatzzusage aus Dresden! Ich fasse mein Glück kaum, schreibe wie wild Mails und DMs und freue mir einen Wolf. Ich hatte mich in vier Städten beworben und ehrlich gesagt mit keiner einzigen positiven Antwort gerechnet, da mein Abischnitt für die jeweiligen internen NC zu schlecht ist. Völlig egal, ich habe einen Studienplatz! Theoretisch. Denn ich muss neben dem beglaubigten Abiturzeugnis auch meine Exmatrikulation aus Hannover vorlegen; Bremen scheint egal zu sein. Bei den Bewerbungen hatte ich brav angegeben, schon einmal in den beiden Städten studiert zu haben, und das hätte Dresden jetzt gerne belegt. Hm.
Bei meinem letzten Umzug 2004 hatte ich deutlich mehr Zeug als Kisten und so nahm ich brav alles unter die Lupe, was ich einpackte. Darunter auch mein gelbes Studienbuch der Uni Hannover, in das ich schon ewig nicht mehr reingeguckt hatte. Der letzte Schein war wahrscheinlich von ungefähr 1994, danach habe ich die Uni nicht mehr von innen gesehen, die letzte Einheftung war die Exmatrikulation von 2000. Ich wusste nicht, wozu ich den Quatsch noch mal brauchen sollte – und warf es weg. An diesen Augenblick werde ich mich in den nächsten sechs Wochen noch sehr oft erinnern.
Aber so ein Schrieb sollte ja kein Problem sein. Bevor ich die Uni Hannover anrufe, frage ich meine Eltern, die deutlich lieber und länger als ich Zeug aufheben – ob sie noch irgendwas von meiner Unizeit hätten, am besten eine Matrikelnummer? Das würde die Bearbeitung wahrscheinlich deutlich erleichtern. Mein Mütterchen ruft zehn Minuten später wieder an: „Ich habe hier deine Exmatrikulation, da steht deine Matrikelnummer drauf. Warte, ich diktiere …“ Ich so: „Waaaah, großartig, herschicken, dankedankedanke!“ Mama freut sich, wenn Töchterchen sich freut, und zwei Tage später habe ich meine Exmatrikulation im Briefkasten. Dresden, ich komme.
(Im Nachhinein bin ich stolz darauf, nie mein Abiturzeugnis weggeschmissen zu haben. Und: Ich wusste sofort, wo es ist.)
Freitag, 10. August, Hamburg
Ein Brief aus München informiert mich darüber, dass ich auch bei der Ludwig-Maximilians-Universität einen Studienplatz hätte. Aus vielerlei Gründen – über einige schrieb ich schon mal – freut mich das zwar, aber eigentlich hatte ich mich schon für Dresden entschieden. Über das Bayreuth-Wochenende neige ich aber immer mehr zu München und schwanke und grübele hin und her.
Mittwoch, 15. August, Hamburg
Eine Mail der Universität Hamburg sagt mir, dass ich nun noch eine dritte Auswahlmöglichkeit habe. Das ist toll, aber ich neige immer noch sehr stark zu München. Bleibt nur noch ein kleines Problem, nämlich das der Immatrikulation. Für ein Studium in Hamburg oder Dresden hätte meine Exmatrikulationsbescheinigung sowie eine beglaubigte Kopie des Abiturzeugnisses gereicht, um mich einzuschreiben. München nimmt es etwas genauer: Sie würden gerne einen, O-Ton, „vollständigen Studienverlauf“ sehen. Urks.
Ich rufe bei den Unis in Bremen und Hannover an und frage nach einem vollständigen Studienverlauf. Kein Problem, bitte schriftlich anfordern und einen frankierten Rückumschlag dazulegen, ist in drei bis vier Wochen da. Noch mal urks, denn ich habe keine drei bis vier Wochen, sondern nur noch knapp zwei. Meine vorgeschriebene Zeit zur Immatrikulation ist der 24. bis 29. August. Hm. Wird wohl doch Hamburg werden. Ich trauere um einen Studienplatz, den ich noch nie hatte, aber: Ganz aufgegeben habe ich noch nicht.
Donnerstag, 16. August, Hamburg
Mittwoch war Feiertag in München, daher kann ich erst jetzt bei der Uni anrufen und fragen, ob ihnen eine Exmatrikulation als Nachweis reiche. Da stünden ja auch meine Fächer drauf und wie lange ich da war. Der freundliche Mensch am Telefon bejaht, ich fiepse vor Freude, stelle mich seelisch auf München ein und warte auf meinen Immatrikulationstermin. Ich bin zwar etwas nervös, denn ich nehme es schließlich nicht nur mit Bürokratie auf, sondern mit bayerischer Bürokratie, aber wenn der freundliche Mensch am Telefon doch gesagt hat … meine ganze Umgebung ist auch super entspannt. Ich werfe trotzdem zwei Briefe an zwei Unis in den Briefkasten, man weiß ja nie. Auf die Nachfrage, ob Vorbeikommen in Hannover und Bremen nicht auch möglich wäre, heißt es bei beiden Unis, nee, bloß nicht, wir haben gerade Immatrikulation. Ach was. (Um mal die Pointe der Geschichte vorwegzunehmen: JETZT wäre der Zeitpunkt gewesen, trotzdem hinzufahren, auch wenn man vielleicht gerade etwas ungelegen kommt.)
Montag, 27. August, München
Meine Nervosität bestätigt sich leider: Obwohl ich – gefühlt als einzige in der Schlange von 20-Jährigen – alle erforderlichen Kopien von den vorzulegenden Originalen habe, reicht meine Exmatrikulation nicht. Auf ihr sind zwar meine *hust* 21 Hochschulsemester verzeichnet, aber von denen habe ich nur 16 in Hannover zugebracht. Dass ich davor in Bremen war, kann ich nicht nachweisen. Ich könnte auch Kunstgeschichte in München studiert haben und durch zig Prüfungen gefallen sein. Mein zaghafter Einwand, dass es den Bachelor 1989 noch gar nicht gab, zählt nicht. Alle sind sehr nett und verständnisvoll, bleiben aber knallhart bei den Belegen. Ich muss Bremen nachweisen, sonst ist der Platz weg. Aber sie verlängern meine Einschreibefrist bis zum 28. September. Genug Zeit also, um auf die Belege zu warten, die ich ja brav angefordert habe. Der Leiter des Sekretariats meint noch, ich solle mir keine Sorgen machen, der Platz sei mir sicher.
Dienstag, 28. August, Hamburg
Der Platz ist mir sicher, ich lasse die Einschreibefrist für Dresden verstreichen.
Mittwoch, 29. August, Hamburg
Der Platz ist mir sicher, ich lasse die Einschreibefrist für Hamburg verstreichen.
Donnerstag, 30. August, Hamburg
Ein Brief von der Uni München, in dem steht, dass sie meine Immatrikulationsfrist verlängern – bis zum 5. September. … Äh. … WATZEFACK?
Freitag, 31. August, Hamburg
Ich verbringe drei Stunden am Telefon, um die zuständige Sachbearbeiterin ans Telefon zu bekommen, die den Schrieb von gestern unterzeichnet hat. Um kurz nach 12 erfahre ich, dass die Dame heute gar nicht im Haus ist. Ich könne ihr aber gerne ein Fax schicken, auf dem ich mein Anliegen darlege, dann habe sie das Montag schon vorliegen, wenn ich noch mal anrufe. Nein, per Mail ginge das leider nicht. Ich schreibe mein Anliegen auf, drucke es aus, fahre drei Stationen mit dem Bus zum nächsten Copyshop und verschicke ein Fax.
Montag, 3. September, Hamburg
Ich verbringe drei Stunden am Telefon, um die zuständige Sachbearbeiterin ans Telefon zu bekommen. Um kurz nach 12 erfahre ich, dass die Dame heute gar nicht im Haus ist. Ich rufe meine Eltern an und bitte sie, ihr gesamtes Haus auf den Kopf zu stellen, ob sie noch IRGENDWAS aus Bremen finden würden, das ich notfalls in zwei Tagen in München vorlegen könnte. Ich rufe meine alte Krankenkasse an und frage nach den damaligen Belegen, die man ja immer abgeben musste. Antwort: Nix mehr da, wird alles nach zehn Jahren vernichtet.
Gegen 18 Uhr ruft meine Mama an, sie hätte unfassbarerweise noch zwei Immatrikulationsbescheinigungen gefunden – und sie könnte mir ihre Steuererklärungen von 1989 bis 1991 mitgeben, in denen ich als Studentin geführt werde. Dafür mussten meine Eltern damals Bescheinigungen abgeben, die offensichtlich anerkannt wurden. Meine Eltern haben zusätzlich noch ihren alten Steuerberater aus dem Ruhestand gescheucht und ihn nach Unterlagen gefragt. Er meinte, auch das Finanzamt hebe den Kram nur zehn Jahre auf.
Ich eile zum Bahnhof und setze mich in den nächsten Zug nach Hannover, wo mein Vater am Bahnsteig auf mich warten soll, damit ich gleich den nächsten Zug wieder nach Hamburg zurücknehmen kann.
Um 20.33 Uhr hält mein Zug auf Gleis 4. Ich sprinte zu Gleis 7, wo Papa oben am Bahnsteig auf mich warten soll. Erster Treppenaufgang – kein Papa Gröner. Zweiter Treppenaufgang – kein Papa Gröner. Ich rufe ihn an: „WO BIST DU?“ Er so: „UNTEN!“ Ich so: „KOMM RAUF!“ Lautsprecherdurchsage so: „ICE xyz nach Hamburg-Altona, bitte steigen Sie ein …“ Ich schicke flehende Blicke zum Zugpersonal, das schon in den Türen lehnt, renne Papa entgegen, der mit 75 immer noch recht flink ist, aber nicht mehr so flink, entreiße ihm die Dokumente und springe in den Zug. „… die Türen schließen jetzt. Vorsicht bei der Abfahrt.“ Um 20.36 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung und ich bestelle erst mal Alkohol. Vor mir liegen zwei Immatrikulationsbescheinigungen von 1989 und 1990 mit Uni-Bremen-Signet und dem Beweis, dass ich anscheinend nicht Kunstgeschichte studiert habe. Ich möchte allerdings auch nicht mehr auf die Schnapsidee, Deutsch und Geschichte für das höhere Lehramt zu studieren, angesprochen werden.
Dienstag, 4. September, Hamburg
Ich verbringe eine Stunde am Telefon, um die zuständige Sachbearbeiterin ans Telefon zu bekommen. Unfassbarerweise erreiche ich sie irgendwann, und sie ist ziemlich pissig. Warum ich denn dauernd anrufen würde, mir wäre doch mündlich zugesichert worden, bis zum 28. Zeit zu haben. Ich denke so, fuck mündlich baby, frage aber trotzdem noch mal freundlich nach einer erneuten Bestätigung, worauf sie fassungslos meint, der Brief sei doch schon längst korrigiert und unterwegs und ich solle mir doch bitte keine Sorgen machen. Sie wünscht mir alles Gute und legt auf.
Mittwoch, 5. September, Hamburg
Ein Brief von der Uni München, in dem steht, dass sie meine Immatrikulationsfrist bis zum 28. September verlängern. Ich beginne, viel zu trinken.
Donnerstag, 13. September, Hamburg
Ich frage telefonisch in Hannover und in Bremen nach, wie das denn so mit den angeforderten Dokumenten sei. In Hannover behauptet man, irgendwer würde ich da schon drum kümmern, wenn ich alles brav schriftlich angefragt hätte. Nein, bloß nicht vorbeikommen. In Bremen sagt man mir, da kümmert sich zurzeit niemand drum, das Sekretariat für Studierende sei seit Wochen und bis zum 15. nicht besetzt, weil gerade Immatrikulation sei. Nein, bloß nicht vorbeikommen. Aber eine Mail könnte ich zusätzlich noch schicken. Ich schicke eine Mail, trinke viel und schlafe schlecht.
Freitag, 20. September, Hamburg
Ich warte seit fünf Wochen auf Belege und ahne, dass keine mehr kommen werden. Ich kopiere die Steuerunterlagen meiner Eltern und frage auf Twitter, ob irgendjemand irgendjemand an der Uni Bremen kennt. Keine Ahnung, was das bringen soll, aber mir fällt nichts mehr ein. Im Internet suche ich die Öffnungszeiten der jeweiligen Sekretariate heraus. Bremen ist Montag und Mittwoch vormittags für mich da, Hannover quasi immer. Ich kann keine Nacht mehr durchschlafen.
Montag, 24. September, 9.30 Uhr, Bremen
Da ich eine ewig lange Schlange vor dem Sekretariat erwarte – schließlich ist gerade Immatrikulation –, nehme ich einen frühen Zug aus Hamburg und bin um 8.23 in Bremen. Die Tramfahrt zur Uni dauert 15 Minuten, bis ich das Sekretariat gefunden habe, vergehen noch einmal 40. Das Gebäude ist nicht ausge- oder beschildert, die zehnte Person, die ich nach der Richtung frage, hat Recht, und ich entdecke innen im Halbdunkel hinten im Gang ein Schild, auf dem „Sekretariat für Studierende“ steht. Dort wartet mit mir ein einziger junger Mann vor den vier Türen, über denen ein rotes und ein grünes Licht darauf hinweisen, ob man eintreten darf oder nicht. Für den jungen Mann wird es grün, als ich neben ihm Platz nehme, für mich eine Minute später. Im Büro fragt mich die Sachbearbeiterin nach meiner Matrikelnummer, ich zücke die Kopie meiner alten Immatrikulationsbescheinigung – das Original liegt in 17 Sichthüllen verpackt zuhause und ich vergewissere mich jeden Abend, dass es noch da und nicht zu Staub zerfallen ist –, die Dame tippt, druckt und reicht mir nach nicht einmal drei Minuten meinen Studienverlauf, meine Exmatrikulation (kann ja nicht schaden) und als Bonus noch einen Bescheid für die Rentenkasse über den Tisch. Drei. Verdammte. Minuten.
Montag, 24. September, 11.30 Uhr, Hannover
Der IC nach Hannover fährt fünf Minuten, nachdem ich am Bahnhof ankomme. In Hannover gehe ich zum Hauptgebäude durch den Haupteingang und steuere direkt auf ein Riesenschild „Servicecenter“ zu. Dort trage ich mein Begehr vor, bekomme eine Wartemarke, setze mich und gehe nach zehn Minuten ins Nebenzimmer zu dem Schreibtisch, auf dem „Immatrikulationsamt“ steht. Dort sagt man mir, dass ich leider nicht mehr im System erfasst bin, weil meine Studienzeit schon zu lange her sei. Man würde aber im Archiv nach mir suchen und könne mir den Studienverlauf gerne zuschicken, das dauere ein paar Tage. Aber da würde auch nicht mehr draufstehen als jetzt schon auf der Exmatrikulation, und die habe ich ja. Misstrauisch verlasse ich das Sekretariat, und erst im Zug fällt mir ein, ich hätte ja mal nach einer Bescheinigung fragen können, dass ich dagewesen sei und dass das Zeug noch kommt. Zu spät.
Dienstag, 25. September, Hamburg
Ich beginne einen epischen Blogeintrag, in dem ich über meine lustigen Immatrikulationserlebnisse berichte. Ich kann nicht schlafen und glaube, mit dem Blogeintrag die Götter herausgefordert zu haben. Ich werde bestimmt nicht immatrikuliert.
Mittwoch, 26. September, München
Die schon bekannte Strecke, Flughafen, S8, Marienplatz, U3, Station Giselastraße, die Schlange für die Zweiteinschreiber. Ungefähr vier Plakate alle zehn Meter brüllen mir entgegen: „HABEN SIE WIRKLICH ALLE KOPIEN DABEI?“ Ich verneine innerlich und füge mich in mein Schicksal.
Nach zehn Minuten Wartezeit darf ich eintreten und bekomme den gleichen Tisch zugewiesen wie beim letzten Mal. Heute sitzen da aber keine zwei Mädels, von denen die eine ständig die andere fragt, ob das so richtig sei, sondern ein junger Mann, der ein bisschen den Eindruck vermittelt, schon alles gesehen zu haben.
„Ich bräuchte den Online-Immatrikulations-Antrag und den Personalausweis … dann den Nachweis für die Krankenkasse … dann Ihr Abiturzeugnis … dann die Zulassungsbescheide für Haupt- und Nebenfach … Sie haben schon mal studiert, sehe ich gerade … haben Sie ein Abschlusszeugnis? “
Ich so innerlich Nelson-Ha-ha, äußerlich: „Nein, ich habe nicht abgeschlossen.“
Er so: „Okay, dann bräuchte ich die Exmatrikulation aus Hannover … und aus Bremen … hm … in Ihrem Antrag haben Sie fünf Semester Bremen angegeben, ich sehe hier aber nur vier …“
„Da habe ich mich blöderweise verzählt.“
„Stimmt. Gut. Hm. Hier steht, dass Sie Ihr Studium in Bremen im Sommersemester begonnen haben?“
„Nee, da hat sich Bremen verschrieben. Ich hab hier noch eine alte Immatrikulationsbescheinigung, da steht, dass mein erstes Semester das Wintersemester war. Brauchen Sie davon eine Kopie?“
„Nein, ich seh’s ja … Haben Sie einen Studienverlauf aus Bremen dabei? … Danke …“
Und in dem Moment bin ich sicher, ich bin raus, denn jetzt kommt bestimmt die Frage nach dem Studienverlauf in Hannover, und den habe ich nicht und ich bin raus und wieso musste ich diesen Scheißblogeintrag vorschreiben? Aber:
Die Frage kommt nicht.
Der junge Mann greift zum Stapel der grauen Mappen neben sich, auf denen „Studienunterlagen“ steht und auf die ich schon seit Minuten hypnotisiert starre. Er zuzzelt einen Aufkleber aus einer langen Reihe Aufkleber, tippt die Nummer in den Rechner und klebt den dazu passenden Aufkleber auf ein Schriftstück, das er mit mehreren anderen in die Mappe legt. Ich halte inzwischen den Atem an, und da meinte der junge Mann, dem ich in wenigen Sekunden innerlich einen Heiratsantrag machen werde:
„Moment … ich muss mal eben was fragen gehen.“
Das war’s. Das waren genau die Worte, die letztes Mal der Anfang vom Ende waren. Der junge Mann geht raus und sucht nach jemandem mit mehr Ahnung, der oder die wird sofort bemerken, dass noch was fehlt und ich darf wieder nach Hause fliegen. Ich sitze stocksteif auf dem Stühlchen vor dem Tischchen mit dem Rechner und werde zum Chamäleon. Bloß nicht auffallen. Ich gehöre hierher, ich bin sowas von Unimaterial München, ich werde eins mit dem verdammten Büro.
Der junge Mann kommt mit einer Dame im Schlepptau wieder, die er mit dem Namen anspricht, der unter dem ersten Brief mit dem falschen Verlängerungsdatum stand. Ich setze mein bestes „Ich liebe euch doch alle“-Gesicht auf. Der junge Mann so: „Die Dame ist schon im Rechner erfasst …“ Die Sachbearbeiterin freundlich: „Ja, weil die Dame schon mal hier war und … (sie wirft einen Blick auf meinen Stapel Unterlagen) … anscheinend eine Verlängerung von uns bekommen hat. Wie schön.“
Ich so (piepsig): „Ja, total schön.“ (Fresse, Gröner.)
Der junge Mann nickt, tippt noch irgendwas ein, die Sachbearbeiterin verschwindet, und dann lehnt sich mein zukünftiger Gatte und Gebieter über den Tisch, reicht mir den Ordner mit den Studienunterlagen, erklärt mir, was da drin ist und begrüßt mich an der Universität München. Ich piepse nur „Dankeschön“ und renne so schnell wie möglich aus dem Gebäude, bevor sie es sich noch mal anders überlegen.
Donnerstag, 27. September, Hamburg
Post aus Hannover: Mein Studienverlauf ist da. Ich glaub, den schmeiß ich weg. Brauch ich garantiert nie wieder.
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Ich mein ja nur
(Ein paar Ergänzungen zu PatschBellas Ratschlagsammlung, die sie zu ihrem Geburtstag bekommen hat. Jedenfalls hätte ich diese Ratschläge gerne gehabt, als ich noch in den Zwanzigern steckte.)
1. Du musst nicht auf diese blöden Unipartys gehen. Oder auf die blöden Arbeitspartys. Oder überhaupt auf blöde Partys. Es ist völlig in Ordnung, zuhause auf dem Sofa zu sitzen und ein Buch zu lesen. Und du musst dich auch nicht dafür rechtfertigen, nicht auf Partys gehen zu wollen. Dir entgehen allerdings eventuell ein paar One-Night-Stands.
2. Menschen, die gut küssen, können auch andere Dinge gut. Wenn du nicht gut geküsst wirst, kannst du dir den Rest gleich schenken.
3. Egal wie viele Flaschen Wein, Bier oder Wodka du intus hast – zum Abschminken und Zähneputzen ist immer Zeit, bevor du ins Bett fällst.
4. Du wirst nie so viel über die Menschheit und ihre Eigenarten lernen wie als Kellnerin und Barkeeperin in einer Kneipe, die bis morgens um 5 geöffnet hat. Aber du solltest da nicht zu lange bleiben.
5. Was du als selbstverständlich ansiehst, könnte ein Talent sein. Vor allem, wenn dir deine Freunde sagen, dass es eins ist. Glaub ihnen einfach mal.
6. Beweg dich, weil es dir Spaß macht, nicht weil es Kalorien verbrennt. In diesem Zusammenhang: Kalorien verbrennen macht nie Spaß und wird sehr überbewertet.
7. Wenn dir jemand mehr als einmal weh tut, wird er oder sie es immer wieder tun. Schmeiß ihn oder sie aus deinem Leben. Auch wenn das noch mal weh tut.
8. Freunde oder Geliebte kommen genau dann, wenn man es nicht darauf anlegt und nicht damit rechnet. Manche Freundschaften halten ewig. Andere hören einfach irgendwann auf. Beides ist völlig in Ordnung.
9. Frag deine Eltern, wie sie sich kennengelernt haben. Bitte deine Omi um dein Lieblingsrezept und schreib es auf. Schreib überhaupt viel auf.
10. Das Leben packt dir nie mehr auf die Schultern, als du tragen kannst.
Und:
11. WIRF DEINE UNI-UNTERLAGEN NICHT WEG!
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#609060 oder: Mein Problem mit dem Mem
(Bevor’s weitergeht, bitte alle noch mal die Ãœberschrift lesen: MEIN Problem mit dem Mem. Nicht deins, nicht euer. Meins.)
Journelle schrieb vor einigen Wochen einen sehr schönen Artikel, in dem sie sich darüber aufregte, dass es für sie, eine Größe 40/42-Trägerin, kaum Klamotten gibt, die anständig passen und dass die Modefotografie weiterhin auf eher kleine Damengrößen setzt bei der Kleidungspräsentation – was Menschen, die eine größere Größe als 32/34 tragen, nicht wirklich weiterhilft bei der Entscheidung, ob dieses Kleidungsstück denn nun gut an einem aussehen könnte. Ihr Artikel endet folgendermaßen:
„Mir wurde klar, dass es keinen logischen Grund gibt, warum Mode nicht an normalen Körpern gezeigt werden sollte.
Die einzige Erklärung die mir einfällt ist, dass irgendwelche Leute Interesse daran haben, modediktatorisch ihre persönlichen Vorlieben durchzusetzen und das so geschickt anstellen, dass wir alle glauben, dass wir und nicht sie sich irren.
Da ich ein Freund von Serien bin, habe ich beschlossen, mich jetzt regelmäßig vor dem Verlassen des Hauses zu fotografieren und bei Instagram und Facebook hochzuladen. Nicht weil mein Modegeschmack besonders erlesen wäre, sondern einfach weil ich meinen normalen Körper eingepackt in Oberbekleidung sichtbar machen möchte.“
Seitdem fotografieren (wunderbar!) sich mehr und mehr Menschen, weiblich und männlich (wunderbar!), in ihrer Oberbekleidung und posten die Bilder bei Instagram (wunderbar!). Tolle Idee. Aber.
Mein erstes Problem ist ein Teil des Artikels, mein zweites und drittes eins, das mit den Bildern zu tun hat. Aber 4. wird dann total hoffnungsvoll.
1. Im Artikel wird das Wort „normal“ verwendet. Ich stehe sehr auf Kriegsfuß mit diesem Wort, weswegen ich es in meinem Buch auch konsequent in Anführungszeichen geschrieben habe. Denn wer definiert, was normal ist? Momentan definieren das genau die Menschen, die sich anfangs fotografiert haben – die Damen und Herren, denen ich aus meiner Dickenwarte unterstellen möchte, sie seien schlank. Inzwischen tauchen die ersten Bilder mit dicken Menschen auf, was mich sehr freut, aber sie wirken genau so, wie wir dicke Menschen eben auch in der nicht-digitalen Öffentlichkeit wirken: nicht normal. Nicht einer Norm entsprechend.
Das mag jetzt das totale Haarespalten sein, um die Aktion doof zu finden. Ist es nicht. Ich hatte nur von Anfang an das Gefühl, dass diese Fotogalerie keine ist, in der ich auftauchen möchte. Ich will mit meinem nicht-normalen Körper nicht in einer Reihe von Mädels stehen, die – und hier unterstelle ich mal ganz fies etwas – beim Anblick meines Körpers als erstes NICHT denken, wow, total normal, sondern: Puh, bin ich froh, dass ich nicht so aussehe. Weil es eben nicht normal ist so auszusehen wie ich aussehe.
Trotz des fürchterlichen Hypes um die angebliche Adipositas-Epidemie BOOGA BOOGA BOOGA gibt es längst nicht so viele fette Menschen, wie die meisten nicht-fetten Menschen glauben (möchten?). Vielleicht guckt ihr euch mal kurz in eurem Büro, eurer Uni, auf der Straße oder im Bus um? Da sind ne Menge Menschen, die so aussehen wie ihr und sehr wenige, die so aussehen wie ich. Ihr seid die Norm. Ich bin es nicht.
2. Es gibt in der Fatosphere eine Angelegenheit, die so ziemlich jede/n Blogger/in, der oder die sich mit dem Thema Fat Acceptance befasst, aufregt: die sogenannten „headless fatties“. In den allermeisten Artikeln, in denen es um die angebliche Adipositas-Epidemie BOOGA BOOGA BOOGA geht, ist ein Bild zu finden, auf dem ein dicker Mensch zu sehen ist. Nein, meist ist es ein fetter Mensch, gerne mit engen Shirts, aus denen Fettwülste quellen, Hosen, die kurz davor sind zu platzen, unbedeckte Arme, damit man die Bingo Wings gut sehen kann. Und: Diese Menschen haben keinen Kopf. Wozu auch? Sie dienen schließlich nur als angsteinflößende Bebilderung – sieh her, Kind, das sind die Klopse, die deine Krankenkassenbeiträge verfressen!
Die Methode, Menschen nicht mehr als Menschen wahrzunehmen, indem man sie nur als Körper oder Körperteil zeigt, ist alt und billig. Sehr viele sexistische Anzeigen arbeitet mit dieser Methode, und feministische Blogs prangern zu Recht an, dass Frauen gerne mal auf Brüste und Arsch reduziert werden. Genauso widerlich finden wir Dicke es, auf unsere Üppigkeit reduziert zu werden. Wir sind kein Schreckensszenario, wir sind Menschen. Größere als die meisten von euch, aber trotzdem: Menschen.
Mit diesen „headless fatties“ im Hinterkopf habe ich bei den ersten #609060-Bildern scharf die Luft eingezogen. Weil sie für mich in der unseligen Tradition stehen, zu reduzieren. Ihr fotografiert euch ohne Kopf, ihr reduziert euch selbst auf eure Kleidung, auf eure Äußerlichkeit – also genau auf das, auf das ich mich ums Verrecken nicht reduzieren lassen will. Ich muss dem Rest der Welt jeden Tag beweisen, dass ich mehr bin als eine dicke Hülle. Deswegen liebe ich eine bestimmte Flickr-Gruppe sehr: Fatshionista. Darin zeigen sich dicke Menschen ebenfalls in ihrer Kleidung, aber von Kopf bis Fuß. Man sieht eine gesamte Persönlichkeit und nicht nur Klamotte.
3. Zum Abschluss ein ganz persönliches Problem, das ich mit vielen dicken Menschen teile, die Fotos von sich ins Internet stellen: Gerade unsere Bilder tauchen gerne mal auf widerlichen Facebookseiten auf, wo sich Arschlöcher einen darauf runterholen, wie eklig wir aussehen. Mir ist das netterweise noch nicht passiert, aber ich lese genügend Fat-Acceptance-Blogs, um zu wissen, dass das kein Einzelfall ist. Ja, das kann schlanken Menschen auch passieren, aber ich ahne, dass da der Spott keine 200 beschissenen Kommentare lang ist. (Das ist aber nur eine Vermutung. Bekanntlich lese ich extrem selten Kommentare, vor allem zum Thema Dicksein, weil meist gleich einer der ersten fünf die üblichen Vorurteilsfässer aufmacht, die ich schlicht nicht mehr lesen will und muss.)
4. Obwohl ich selbst Bauchschmerzen bei der Aktion habe, gestehe ich jeder/m zu, sie großartig zu finden und sich an ihr zu beteiligen. Mir persönlich hat es in meiner Körperwahrnehmung und -annahme sehr geholfen, bei Fatshionista Frauen zu sehen, die mir ähneln. Man fühlt sich weniger allein, wenn man weiß, dass man es nicht ist. Daher ahne ich, auch wenn es mir persönlich schwer fällt, es nachzuvollziehen, dass auch 40/42-Frauen andere Frauen brauchen, die ihnen ähneln. Für mich ist ja jede Frau unter 44 schlank, aber ich weiß, dass das meine 48/50-Brille ist. Wenn euch diese Bilder also helfen, dann her damit, mehr damit, nicht aufhören. Ich werde nicht in der Galerie auftauchen, aber wenn auch nur eins der Bilder euch hilft, den Satz zu sagen, den ich seit Monaten zufrieden sage, wenn ich vor dem Spiegel stehe, dann bitteschön.
Der Satz lautet:
Das bin ich, und so sehe ich aus.
—
Abenteuerurlaub in Oberfranken
Der Plan für mein wundervolles Opernwochenende in Bayreuth vor gut einer Woche: morgens einstündiger Flug von Hamburg nach Nürnberg, einstündige Zugfahrt von Nürnberg nach Bayreuth, am Bahnhof noch ein Brötchen kaufen, Taxi ins Hotel, bisschen was essen (denn ich frühstücke seit Längerem nur noch einen Cappuccino), bisschen schlafen, langsam für die Oper aufdotzen, um 15 Uhr den Hotelshuttle zum Festspielhaus besteigen, entspannt und weihevoll ankommen, ab 16 Uhr „Parsifal“ genießen, ab 22.30 Uhr viel trinken.
Ja, mach nur einen Plan.
Ich bin eisenharte Lufthansa-Fliegerin, bei anderen Lines gucke ich gar nicht, die sind doof (aus einem mir nicht mehr nachvollziehbaren Grund, aber da war bestimmt mal was – UND JETZT IST DA AUCH WIEDER WAS). Meine geliebte Fluglinie bot allerdings als einzigen Flug am Samstag nur einen an, der bereits um 8 Uhr morgens in Nürnberg landete. Da siegte die innere Schlafmütze – ich buchte misstrauisch Air Berlin, die gegen 10 landen sollte, packte mein Köfferchen und wollte es morgens abgeben.
8 Uhr, Hamburg
Schalterdame so (fröhlich): Ah, nach München?
Ich so (häh?): Nee, nach Nürnberg.
Schalterdame so (fröhlich): Nee, nach München. Der Nürnbergflug wurde gestrichen. Sie fliegen um 9.35 nach München, und von dort bringt Sie ein Busshuttle nach Nürnberg.
Ich so (HÄH?!?): …
Schalterdame so (fröhlich): Guten Flug!
Ich so … innerlich am Rechnen: über eine Stunde später abfliegen, in München längere Wartezeit aufs Gepäck als am Zwergflughafen Nürnberg, zwei Stunden extrem ungeplante Busfahrt, eventuell noch Wartezeit am Bahnhof (Zug fährt einmal pro Stunde), eine Stunde Fahrt bis Bayreuth … ich twitterte sehr pissig, guckte spaßeshalber auf bahn.de, ob ich es mit dem Zug schneller schaffte (natürlich nicht), rief panisch einen Freund in München an, der UNFASSBARERWEISE noch schlief und meine Hysterie daher jetzt auf der Mailbox hat (bitte löschen) und ahnte allmählich, dass ich mir einen Mietwagen nehmen müsste, um halbwegs rechtzeitig in Bayreuth zu sein. Denn wie es sich für ein anständiges Opernhaus gehört: Wenn der Akt angefangen hat, kommt keiner mehr rein.
Generell ist Mietwagen ja eine schöne Option. Mein persönliches Problem damit ist: Ich bin seit anderthalb Jahren kein Auto mehr gefahren. Mein wundervoller Fast-Oldtimer hat nämlich so fiese Sitze bzw. einen so tiefen Einstieg, dass mein Rücken irgendwann die Kombi aus altem Auto und langen Stunden in der Agentur nicht mehr so großartig fand. Deswegen begann ich, vermehrt Öffis zu benutzen und stellte überrascht fest: Ich kann viel mehr lesen, ich stehe nicht mehr im Stau (und wenn, kann ich dabei lesen), ich kriege mehr Bewegung, muss gerade mal 20 Minuten früher aufstehen, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein, komme auch sonst überall hin und kann überhaupt viel mehr lesen. Irgendwann vermisste ich mein Auto überhaupt nicht mehr, vergaß diese Option der Fortbewegung völlig und hatte vor allem keine Rückenschmerzen mehr. Wenn ich mit Kollegen unterwegs war, wurden Züge gebucht oder ich verkroch mich auf den Beifahrersitz (ein Superplatz zum Rausgucken oder ZUM LESEN). So erklärt sich jedenfalls mein Panikanruf beim Kumpel: Ich wollte schlicht nicht Auto fahren, weil ich es a) schon sehr lange nicht mehr gemacht hatte und b) wusste, dass ich noch sechs Stunden im Festspielhaus auf den unbequemsten und rückenfeindlichsten Stühlen der Welt zubringen würde, weswegen ich mein Kreuz vorher nicht übermäßig belasten wollte.
Aber das war jetzt egal. Ich wurde gegen meinen Willen nach München geflogen (steckt euch euer Schokoherz sonstwohin) und musste irgendwie nach Bayreuth. Also: Mietwagen. Hilft ja nix. Jemand twitterte: „Doch, das hilft super.“ Stimmt. (Ja, im Nachhinein ist mir das etwas peinlich, meinen Kumpel mit der Bitte geweckt zu haben, mich doch mal eben 250 Kilometer in der Gegend rumzufahren. Ihr müsst das verstehen: Es ist BAYREUTH.)
11.30 Uhr, München
Schalterdame so (fröhlich): Was kann ich für Sie tun?
Ich so (hektisch): ICHBRAUCHEINAUTOMITNAVI!
Schalterdame so (fröhlich): Golfklasse?
Ich so (SEH ICH SO AUS?): Wenn’s geht, einen Audi. Irgendeinen. Darf gerne größer sein.
Schalterdame so (fröhlich): Hab ich leider keinen einzigen da. Wie wär’s mit nem 1er BMW?
Ich so (SPRECH ICH SPANISCH?): Najut.
Wenn ich schon ungeplant Geld raushaue, dann wenigstens für ein schönes Auto und keinen ollen Ford. Insofern: 1er geht. Gebucht, noch ein Brötchen gekauft (denn mein geplanter Bäckereibesuch in Bayreuth am Bahnhof fiel ja flach und allmählich wurde ich hungrig), Koffer ins Parkhaus gezerrt, Auto gesucht, Koffer in den Kofferraum gewuchtet, eingestiegen.
Ich so im Parkhaus: *navisuch*
Ich so wieder am Schalter (hektisch): DAISTKEINNAVI!
Schalterdame so (fröhlich): Oh, stimmt, das ist mobil, habe ich vergessen. Ich hol’s mal schnell.
Ich so: *fingernägelkau*
Schalterdame so (fröhlich): Bitteschön. Das nächste Mal können Sie auch unser Servicetelefon im Parkhaus nutzen, dann hätten wir Ihnen ein Gerät gebracht.
Ich so: Alles klar. (Innerlich: DAS NÄCHSTE MAL GIBST DU MIR DAS DING GLEICH!)
Navitäschchen unter den Arm, Koffer ins Parkhaus gezerrt, Koffer in den Kofferraum gewuchtet, eingestiegen.
Ich so im Parkhaus: *navikonfigurier* Wie, “GPS is off”? Hm. Liegt bestimmt am Parkhaus. Geht bestimmt, wenn ich auf der Autobahn bin. Hab jetzt eh keine Zeit mehr.
12.30 Uhr, A9 bei München, der Moment, in dem ich eigentlich im Hotel in Bayreuth gewesen wäre
Den Weg bis nach Ingolstadt finde ich auch ohne Navi, daher wusste ich immerhin, auf welche Autobahn ich musste. Sobald es ging, fuhr ich rechts ran, um das widerspenstige Navi einzustellen. Keine Chance. Die Adresse konnte ich eingeben, aber es dachte ständig, ich sei schon in Bayreuth, wo es mich minutenlang durch einen Kreisverkehr zum Hotel schicken wollte. Ich quälte mich durch sämtlich Untermenüs, klickte alles an, was ging, klickte es wieder weg, googelte zwischenzeitig mit dem iPhone die Bedienungsanleitung … und warf das Navi schließlich sehr laut fluchend auf den Rücksitz, um wieder Gas zu geben.
Dummerweise nicht lange.
13 Uhr, A9, immer noch ziemlich nah an München
Der erste Moment, in dem ich wirklich dachte, das war’s, das schaffst du nicht mehr. 250 Kilometer vor dir, gefühlte 2 hinter dir. Meine gesamte Blogleserschaft wird sicherlich meinem Aufruf Folge leisten und sich brav den „Parsifal“ anschauen, alle meine Twitter-Follower werden Opernpartys schmeißen und sich vor Fernsehern und in Kinos zusammenrotten, alle, alle, alle werden dieses Ding sehen – nur ich nicht, weil ich im Stau stehe und heule. Denn das tat ich jetzt wirklich, weil ich mich seit Monaten auf diese Aufführung gefreut hatte und nun wirklich glaubte, sie nicht mehr zu schaffen.
Was mir den Glauben an die Menschheit wiedergab: die Schilder entlang des Staus. Denn die sagten – mit freundlichen Smileys untermalt –, wie viele Kilometer Stop-and-go noch vor einem lagen. Keeping the hope alive! Sobald ich das Ende erreicht hatte, beschleunigte mein kleines Auto wieder auf 180, das iDrive ließ sich blind bedienen (in den Audi-Katalogen schreibe ich zum MMI immer was von „intuitiv“), die Musik war mitsingfähig, und das Tollste war: Mein Rücken zickte nicht. Ich war 200 Kilometer hin- und hergerissen zwischen panischem Heulen und – verdammt gut gelauntem FUCK YEAH 180. Ich hatte wirklich vergessen, wie großartig Autofahren ist.
Um kurz vor 14 Uhr war ich fast in Bayreuth, nachdem mich die hervorragende und hiermit gepriesene deutsche Autobahn-Ausschilderung auch ohne Navi dorthin gelotst hatte. Mein zwischenzeitiger Plan – notfalls fahre ich im Mietwagen bis zum Kassenhäuschen und gehe im durchgeschwitzten Shirt, in Turnschuhen und ungeschminkt in eines der begehrtesten Opernhäuser der Welt, verdammt noch mal – löste sich in Wohlgefallen auf. Um 14.30 Uhr war ich eingecheckt im Hotel, das netterweise direkt an der Autobahnabfahrt lag, was ich von der Reservierungsbestätigung erfuhr, die ich Sichthüllenkasper brav ausgedruckt auf dem Beifahrersitz liegen hatte. Spießigkeit rules! Technik sucks!
14.55 Uhr, Bayreuth
Bis 14.55 Uhr schaffte ich es zwar nicht, mein Brötchen zu verzehren, aber dafür blitzzuduschen, mir ein bisschen Farbe ins Gesicht und ein paar vorzeigbare Klamotten auf den Leib zu werfen und stand quasi bei Abfahrt am Shuttlebus, wo ich auch endlich meine Mama zu Gesicht bekam, die schon händeringend auf mich wartete. Schließlich hatte sie vier Euro für die Shuttlefahrt gelöhnt, und das wäre doch sehr doof, wenn ich das jetzt verfallen ließe. In meinem Kopf ploppte die Mietwagenrechnung für zwei Tage auf, und ich lächelte sphinxhaft, während ich versuchte, meinen hektischen Blutdruck unter Kontrolle zu kriegen. Ich war noch nie so unentspannt vor einer Opernaufführung, was das Gesamterlebnis wirklich schmälert. Es ist eben kein Kinofilm, den man sich mal nebenbei reintut, es ist – für mich – immer noch etwas Besonderes, ganz gleich wie oft ich das Stück schon gesehen habe oder wie oft ich schon in diesem betreffenden Opernhaus war. Und das ist auch der Grund, warum ich immer noch pissig auf Air Berlin bin. Dass ein Flugzeug mal ausfallen kann – geschenkt. Aber ein Bayreuth-Erlebnis kriegt man, wenn man Glück hat, eben nur alle fünf bis sieben Jahre. Und das habt ihr mir versaut. (Ja, die Irrationalität dieser Bemerkung ist mir bewusst, aber ihr müsst das verstehen: Es ist BAYREUTH.)
Der erste Akt im „Parsifal“ ist der längste; in den Applaus nach zwei Stunden mischte sich mein unüberhörbares Magenknurren, dem aber in der einstündigen Pause abgeholfen wurde. Stilecht mit Brezn und Obazda, auch wenn beides eher so meh war. Dafür war der Riesling umso besser, die Gesellschaft äußerst charmant, und nach weiteren zwei Akten bzw. gut drei Stunden schlug ich mir den Bauch noch im Hotelrestaurant voll.
Blöder Nebeneffekt: Ich will ein neues Auto haben und wieder 180 fahren. Vielleicht kann Air Berlin mir da als winzige Wiedergutmachung bei der Anzahlung etwas unter die Arme greifen. Ich nähme auch ne Bayreuth-Karte für nächstes Jahr. Aber dann fliege ich wieder mit dem Kranich.
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Frau Gröner trifft eine Entscheidung. Oder doch nicht. Oder doch. Ach, frag mich in zehn Minuten noch mal.
Als die Zusage aus Dresden eintraf, stand ich, wie beschrieben, schreiend in der Küche, weil ich davon ausging, dass das die einzige Zusage bliebe. Ich sah auf bahn.de, dass ich in vier Stunden und für nicht viel Geld nach Hause kommen könnte, suchte im Internet nach Wohnungen, war begeistert über die Preise und die Aussicht, demnächst jeden Tag den Zwinger und die Semperoper sehen zu können und vielleicht öfter als bisher auch mal reinzugehen.
Dann kam die Zusage aus München – und stürzte mich in eine tiefe Sinnkrise. Denn von allen Orten, an denen ich mich beworben hatte, war München natürlich der dämlichste: wahnwitzig weit weg von Hamburg und wahnwitzig teuer. Aber: München hat eine Fächerkombi, die die anderen Unis nicht haben. Wo ich in Hamburg, Dresden und Berlin Kunstgeschichte mit dem Nebenfach Geschichte studiert hätte, könnte ich in München das Nebenfach Kunst, Musik, Theater wählen (mit dem Hauptfach Kunstgeschichte also zum Beispiel Musikwissenschaft). Aber: wahnwitzig weit weg von Hamburg und wahnwitzig teuer. Aber: Musik und Theater. Aber: wahnwitzig … (ad infinitum)
Der Brief aus München kam am Freitag abend, weswegen ich in Bayreuth von Samstag bis Montag nur am Grübeln war – wenn ich nicht gerade in der Oper vor mich hinentspannte. Und gerade dieses Erlebnis ließ mich immer mehr in Richtung München kippen. Weil Musik eben glücklich macht. Weil die Beschäftigung mit ihr glücklich macht. Auch wenn sie an Orten stattfindet, die wahnwitzig weit weg und so weiter.
Ich hatte mich also quasi schon entschieden, als am Mittwoch eine E-Mail aufploppte. Die Universität Hamburg würde sich auch total freuen, mich als Studentin begrüßen zu dürfen. Und damit ging in meinem Kopf der Stress wieder los. Ja, Geschichte ist vielleicht nicht ganz so toll wie Musik und Theater, aber MEINE WOHNUNG MEIN KERL MEIN JOB. Alles da. Ich muss nicht umziehen, ich muss nicht mein ganzes Geld, das nicht mehr mein ganzes ist, sondern höchstens noch mein halbes von dem, was ich jetzt verdiene, für Flüge und doppelte Wohnungen rauswerfen, nein, ich bleibe einfach da, wo ich jetzt bin.
He, Moment.
„Ich bleibe einfach da, wo ich jetzt bin“ war genau der Satz, der mich irritierte. Denn genau das will ich ja nicht, zumindest was meine Bildung und persönliche Entwicklung angeht. Aber natürlich hat das Hierbleiben auch Vorteile, wovon der größte „keine Wochenendbeziehung“ ist. Und so drehte mein Kopf sich lustig weiter, zwei Engelchen prügelten sich ihre Harfen um die Ohren und brüllten abwechselnd „HAMBURCH!“ oder „MINGA!“, ich entschied mich für eine Stadt, nur um mich zehn Minuten später wieder für die andere zu entscheiden und wusste irgendwann wirklich nicht mehr wohin. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Und dann ging ich singen.
Die erste Frage meiner Gesangslehrerin ist immer „Wie geht’s?“, worauf sie wirklich eine Antwort haben will. Ich kippte in 30 hysterischen Sekunden meinen derzeitigen Geisteszustand auf sie runter, und sie legte mir ein neues Lied auf den Notenständer, denn mit neuen Dingen kann man mich prima ablenken. Jedenfalls klappt das sonst ganz gut. Dieses Mal nicht, ich war hibbelig, knautschte an den hohen Noten rum und war überhaupt so unentspannt wie lange nicht mehr. Auch die große Les-Mis-Dramaschnulze On My Own, bei der ich sonst leidenschaftlich rumleide, konnte mich nicht locker machen.
Und dann nahm meine Lehrerin die Hände vom Klavier, drehte sich um und fragte: „Auf was freust du dich eigentlich am meisten beim Studium?“ Ich sagte: „Ich freue mich darauf, in einem Hörsaal zu sitzen, in dem mir jemand 90 Minuten lang Dinge erzählt, die ich noch nie gehört habe. Ich freue mich aufs Lernen.“ Und sie sagte: „Dann singen wir jetzt Yentl.“
„The more I live – the more I learn.
The more I learn, the more I realize
The less I know.
Each step I take – (Papa, I’ve a voice now!)
Each page I turn – (Papa, I’ve a choice now!)
Each mile I travel only means
The more I have to go.
What’s wrong with wanting more?
If you can fly – then soar!
With all there is – why settle for just a piece of sky?
Papa, I can hear you …
Papa, I can see you …
Papa, I can feel you …
Papa, watch me fly!“
Ich liebe dieses Lied. Ich liebe seine Botschaft. Und genau das hat mir gestern völlig das Genick gebrochen. Die ersten Zeilen gingen wunderbar, aber beim Teil, wo es ums Lernen und Wissen und Mehr-Wollen geht, war alles vorbei. Wo ich sonst gerne mal ein bisschen zu schniefen anfange, wenn mich Lieder emotional erwischen, brachen hier alle Dämme und ich heulte wie früher in der Therapie. Aber danach war Ruhe. Im Kopf, im Herz, die Engel kloppten sich nicht mehr, und ich wusste: München. Weil ich lernen will. Alles andere funktioniert schon irgendwie. Geld kommt immer irgendwo her, meine Agentur will mich sowieso weiter beschäftigen, eine Wohnung habe ich auch schon in Aussicht, und die freundliche Lufthansa bringt mich in einer Stunde zum Mann meines Herzens.
München, watch me fly.
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Bayreuth 2012, „Der Fliegende Holländer“
Neben dem Parsifal, der mich fast genauso umgehauen hat wie beim ersten Mal, stand in diesem Jahr noch Der Fliegende Holländer auf dem Bayreuth-Programm meiner werten Frau Mama und mir. Im Vorfeld hatte ich eher mäßige bis miese Kritiken gelesen; direkt nach der Radioübertragung der Premiere sprach eine Kritikerin von „Rumstehtheater“ (ein wundervolles Wort). Ich war also nicht sonderlich enthusiastisch, was die Inszenierung anging, freute mich aber trotzdem sehr auf die Aufführung, denn der Holländer ist schon ein feines Stückchen romantischer Musik. Ich mag ihn sehr.
Die Story steht auf der Wikipedia, wenn Sie sich da mal kurz rüberbemühen würden? Und Bilder der Aufführung finden Sie hier oder ein bisschen größer hier.
Der Holländer bietet weitaus weniger Spielraum für die Interpretation als andere Wagner-Opern, denen man wunderbar wilde Gesellschaftsentwürfe überstülpen kann. Aber ein bisschen geht eben doch, um das Werk für heute relevant zu machen: zum Beispiel die Liebesgeschichte zwischen Senta und dem Holländer. Wobei man selbst die noch aufdröseln kann: Senta wird gerne als hysterisches Weib dargestellt, die sich für irgendeinen hergelaufenen Fredel opfert. Auch der Holländer selbst gibt gerne mal den Verfluchten, der für sowas Irdisches wie Zuneigung gar keine Zeit hat. Weitere Motive: die Geldgier Dalands. Untergeordnet (habe ich jedenfalls noch nie als Hauptmotiv irgendwo auf einer Bühne gesehen) die vergebene Liebe von Erik zu Senta, die ihm quasi sagt, he, lass uns Freunde bleiben, was verständlicherweise nicht so supi bei ihm ankommt. Auch mit der Natur könnte man was machen oder den verfluchten Seelen der holländischen Mannschaft. Regisseur Jan Philipp Gloger hat sich die Liebesgeschichte rausgepickt, und damit hatten viele Kritiken ein Problem, weil es so belanglos sei. Ich habe mich den ganzen Abend gefragt, wo bitteschön denn die Liebe belanglos ist, aber das mag meine persönliche Einstellung sein.
Das erste Bild spielt eigentlich in einer Bucht, in der Dalands Mannschaft anlegt und in der schließlich das Schiff des Holländers auftaucht. In Bayreuth sehen wir dagegen das Innere eines Rechners – Lichtblitze symbolisieren Datenströme, Zahlen rattern fast unaufhörlich nach oben, keine Atempause, die Kohle wird gemacht. Daland und der Steuermann sitzen in einem kleinen Ruderbötchen, das ich ein bisschen inkonsequent fand, denn es war die einzige maritime Andeutung im ganzen Stück. Einen Konferenzraum oder eine Flughafenlounge hätte ich stimmiger gefunden. Denn Daland ist ein Seniorchef, der Steuermann sein Kronprinz, was er unter anderem dadurch zeigt, dass er Dalands Gesten versucht zu imitieren, ihm ständig unterwürfig zustimmt und überhaupt den Speichellecker vor dem Herrn gibt. Benjamin Bruns hat mir außerordentlich gut gefallen; sein heller Tenor war strahlend klar und sein komödiantisches Timing hervorragend. Ich habe selten so viel in einer Wagner-Oper gelacht.
Die Firma, in der Daland und der Steuermann arbeiten, produziert ein großartiges Produkt: Ventilatoren, die auch noch einen großartigen Namen haben: N1-H1L oder: nihil (nichts). Die sehen wir im zweiten Akt, dessen Bühnenbild leider nicht an die Brillanz des ersten Akts rankommt. Es ist das Innere der Produktionsstätte, und die Mädchen, die eigentlich an Spinnrädern sitzen, verpacken hier im Gleichtakt die Ventilatoren. Ein Pärchen wickelt das Kabel auf, ein anderes klebt ein Siegel auf, die dritte Gruppe packt das Gerät in einen Karton, die vierte klebt diesen zu – und eine letzte Gruppe fährt die Kartons von der Bühne, während fast im gleichen Augenblick eine andere Gruppe Nachschub anliefert. Das ganze wirkt irritierend perfekt, alle haben ihre ewig gleichen Arbeitsschritte verinnerlicht, genau wie Daland und der Steuermann ihre kapitalistische Rolle nicht mehr hinterfragen, sondern sie besinnungslos ausfüllen.
Ganz anders der Holländer und sein verfluchtes Team: Sie sind schon gekennzeichnet vom ewigen Streben nach Gold, vom ewigen Hamsterrad. Ihre Haut ist durch schwarze Geschwüre verunstaltet; es sieht fast so aus, als ob ihre roboterhafte Seite, die keine Gefühle kennt, sondern nur das Geld, durch ihre menschliche Hülle durchbricht. Wenn sie nicht bald erlöst werden, werden sie an ihrer sinnlosen, unmenschlichen Arbeit zugrunde gehen.
Die Schätze, mit denen der Holländer Daland davon überzeugt, ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sind in einem typischen Businesskaspertrolley, den er ständig mit sich führt. Und wo Daland, der Steuermann und die norwegische Mannschaft den Geschäftsquatsch total dufte finden und sich überbieten mit Beckerfäusten, Victory-Zeichen und dem albernen Kollegenabklatschen (körperlos umarmen, jeweils zweimal auf die Schulter klopfen, schnell wieder trennen, bevor es schwul aussieht), wirkt der Holländer die ganze Zeit nur gequält und verzweifelt. Er bewegt sich langsam statt stakkatoartig schnell wie die anderen, er lächelt nie, er versucht, seinen Arm aufzuritzen, um zu bluten und vielleicht so etwas zu spüren, was ihm im Businessalltag abhanden gekommen ist – erfolglos. Auch die Statistinnen, die ihn umschwirren – eine Sekretärin, eine Wellness-Tante, eine Prostituierte – können ihn nicht begeistern. Bis er Senta erblickt.
Diese hat inzwischen den fleißigen Bienchen ihre Ballade vorgesungen – und dabei sogar Mary erreicht, die in fast jeder Inszenierung sehr stiefmütterlich wegkommt. Natürlich gibt ihre Rolle das vor; sie ist die Aufpasserin und spinnt als einzige weiter, während die Mädels sich kurz ablenken lassen. Eine muss es ja machen, und wir haben schließlich ein Produkt zu verschiffen. Hier darf sie etwas ausbrechen: Eben noch mit streng zurückgekämmten Haaren und perfekt als Geschäftsfrau kostümiert, löst sie im Laufe der Ballade ihre Haare, nimmt ihre Brille ab und wagt es sogar, einen Knopf ihrer Bluse zu öffnen, so sinnlich und begeisternd erzählt Senta vom verfluchten Holländer, der die Treue einer Frau benötigt, um endlich sterben zu können.
Die Fabrik, in der sich alles abspielt, besteht aus einer Reihe Pappkartons, und es wird sehr simpel klargemacht, dass Senta nicht in diese Welt passt. Anstatt ihre Kartons als Verpackungsmaterial für ein Produkt zu nutzen, das zu nichts anderem nutze ist, Luft, Nichts, zu verwirbeln, hat sie sich aus Kartons eine kleine Burg gebaut, sich Flügel aus Pappe gebastelt, eine Holländerfigur (statt des eigentlich vorgesehenen Bildes, das sie ansingt), eine Fackel. Sie ist außerdem der einzige Farbklecks im gedeckten Businessgraublau mit ihrem leuchtend roten Kleid und den rot bemalten Accessoires. Das kann man alles albern und kindisch finden – mich hat es berührt, weil es eben so schlicht war.
Noch mehr berührt hat mich die Story zwischen dem Holländer und Senta. Die beiden dürfen sich bei ihrem ersten Treffen gerne dramatisch gegenüberstehen, und selbst in den Augenblicken, in denen Senta ihm Treue schwört und ihm damit ihre Liebe gesteht, gibt’s selten mehr als Händchenhalten, weil sich beide ja des großen Moments bewusst sind. Sehr geehrter Herr Holländer, ich biete Ihnen an, Sie zu erlösen – das ist nett, vielen Dank, sehr gerne. Hier wird stattdessen gelacht und geknutscht und sich gefreut, und der Funke zwischen den beiden ist bis zu den Zuschauern gesprungen. (Jedenfalls bis zu mir.) Das kann auch an der wundervollen Adrianne Pieczonka gelegen haben, deren Sopran für mich sehr modern klang, ich habe leider kein besseres Wort. Ihre Ballade war keine Ballade, sondern eine Liebeserklärung, ihr Duett war nicht hysterisch-schwelgerisch, sondern schlicht verliebt und glücklich. Und deswegen verzeihe ich der Inszenierung auch das Rumstehen, denn das taten die Figuren wirklich sehr oft – wenn sie nicht knutschten oder Ventilatoren verpackten oder sich mit Beckerfäusten aufputschten, noch mehr Geld zu machen.
Der Holländer wurde von Samuel Youn gesungen, der nur wenige Tage vor der Premiere einspringen musste. Er wirkte leider des Öfteren noch unbeweglicher als die anderen, aber ich ahne, dass das schlicht mit fehlender Probezeit zu tun hat. Stimmlich mag ich ihn sehr gerne, auch wenn ich mir bei ihm etwas mehr Drama, Baby! wünschen würde, was seine darstellerischen Qualitäten angeht.
Im dritten Akt kamen dann endlich die beiden Mannschaften mit meinem Lieblingschor aller Lieblingschöre; es gibt für mich keinen schöneren Opernmoment als diesen, wenn sich gefühlt 60 Männer und 30 Frauen aus voller Kehle ansingen. Die Mannschaft des Holländer war kurz schon im ersten Akt zu sehen, wo sie ein herrliches Gegenbild zu den Victory-Deppen in ihren hellgrauen Anzügen boten – sie tragen dunkle Anzüge, haben alle den obligatorischen Starbucks-Becher in der Hand und sehen äußert genervt aus. Hier tauchen sie ganz plötzlich aus dem Bühnenhintergrund auf und singen die Norweger richtig schön in Grund und Boden.
Natürlich ist Kapitalismuskritik keine ganz neue Idee, ich erinnere mich an eine Aufführung der Deutschen Oper in Berlin, wo quasi die gleiche Grundidee genutzt wurde und alles in einem herrlichen Schlussbild in einem Trading Room voller Nutten und Koks endete. Hier war diese Idee für mich aber eher die Tapete, im Vordergrund stand die Liebe zwischen Holländer und Senta, die hier netterweise mal wenig von aufopfern, leiden, erlösen hat, sondern schlicht sagt: Die beiden gehören zusammen, fertig. Trotzdem hat das Geschäft des letzte, sehr clevere Wort. Nachdem Senta sich umbringt, um den Holländer zu erlösen, vereinen sich die beiden für immer in einer innigen Umarmung. Der Vorhang fällt, das Orchester spielt die letzten Takte, wir haben alle was gelernt – da öffnet sich der Vorhang noch einmal, und wo eben das Plakat für den Ventilator N1-H1L hing, hängt nur eins, das den Holländer und Senta in ihrer letzten Pose zeigt. Darunter steht 3T3R-N4L, eternal (ewig), und auf ewig werden die beiden jetzt als Spieluhr (?) ihr Dasein fristen, während Daland weiter Geld zählt und der Steuermann seine Mannschaft anfeuert, noch schneller zu arbeiten.
Dem Rest des Publikums gefiel es anscheinend genau wie mir (wobei der Regisseur nur bei der Premiere auf die Bühne kommt, in der wir nicht saßen, weswegen er auch nicht ausgebuht werden konnte). Musikalisch war es wunderschön; ich kann mich bei Thielemann nie entscheiden, ob ich alles glattgebügelt-mainstreamig finde oder eben wunderschön. Dieses Mal war ich mir sicher: wunderschön. Straff und äußerst zügig durchdirigiert – wir waren nach gerade einmal 2.15 Stunden fertig –, aber trotzdem noch genug Zeit für die großen Balladen vom Holländer und von Senta. Dirigent und Orchester bekamen dann auch den verdienten Jubelsturm. Schade, dass die Musiker_innen nicht auch auf die Bühne kamen wie beim Parsifal (machen sie eigentlich nur bei der letzten Aufführung der Spielzeit), denn durch den verdeckten Orchestergraben sieht man sie eben gar nicht und kann sie nur stellvertretend durch den Dirigenten beklatschen. Wo ich so gerne persönlich allen Streicher_innen zu verstehen gegeben hätte, dass ich das Meer noch nie so haben tosen hören.
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„Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können …“
Und ich dachte noch, ein dünner Umschlag ist nie was Gutes. Aber dann war’s das doch.
Seit gut anderthalb Jahren gärt es in mir. Das fing in Rom mit Raffael und Michelangelo an, das ging mit Bayreuth weiter – das Wissen, dass das, was ich täglich tue, zwar gut und schön und ertragreich ist, aber es mich nicht mehr erfüllt. Erfüllt im Sinne von: mich herausfordert, mich zwingt, Neues zu wagen, mich in unbekannte Gefilde stürzt. Und gleichzeitig: mich beruhigt, mich erdet, mich glücklich macht. Ganz simple Anforderungen eben (haha).
Was die Arbeit angeht, gibt es bei mir ein Muster. Wann immer ich in einem Job alles erreicht hatte, was ging, wurde gekündigt. Der Sprung in die Selbstständigkeit veränderte meinen Job zwar nicht, aber das Gefühl, mit dem ich jeden Tag in eine Agentur ging. Das Gefühl, für mich zu arbeiten und nur für mich.
Was es allerdings nicht änderte, war die Tatsache, dass ich fachlich gesehen ziemlich auf der Stelle trat. Natürlich baut Audi dauernd neue Autos, die neue Kataloge brauchen, natürlich geht die technische Entwicklung stetig weiter, aber es bleiben eben Autos. Was ich jahrelang als beruhigend empfand – ich weiß, was ich tue –, war auf einmal beunruhigend: Ich weiß, verdammt noch mal, was ich tue. Jeden Tag, immer wieder. Und das fing im letzten Jahr an, mich sehr zu stören.
Ich will wieder etwas tun, von dem ich noch nicht weiß, wie es ausgeht. Ich will wieder lernen. Ich will mich wieder anstrengen. Und noch mal: Ich will wieder lernen.
Zunächst begann ich mit kleinen Veränderungen, die meinen Tag wieder spannender machen sollten: Ich nahm wieder Gesangsunterricht, ich trank viel Wein und merkte mir neue Geschmäcker und Düfte, ich pilgerte zu Fußballstadien, Museen und Opernhäusern, verliebte mich in eine neue Stadt und investierte viel in Bekanntschaften, aus denen tollerweise inzwischen Freundschaften geworden sind.
Das rettete mich durch viele Tage, aber es wurde mir immer klarer, dass nicht meine Freizeit eine Veränderung braucht, sondern meine Arbeitszeit.
Anfang des Jahres begann ich, mich in Jobbörsen umzusehen, die irgendwas mit der Oper zu tun haben, aber mir wurde relativ schnell klar, dass ich a) doch zu gerne Geld verdiene, als in diesem Bereich zu arbeiten und b) ich Oper lieber weiter als Zuschauerin wahrnehmen möchte anstatt hinter den Kulissen im Marketing oder in der PR. Mal abgesehen davon glaube ich, dass es im Theaterbetrieb noch mehr Irre gibt als in der Werbung, und die reichen mir schon.
Nachdem Musik als Glücklichmacher ausfiel, war ziemlich schnell klar, wohin die Reise gehen sollte: in die Kunst. Genauer gesagt, in die Kunstgeschichte.
Ich habe mich an vier Universitäten zum Studium der Kunstgeschichte beworben, ohne einen Hauch von Ahnung zu haben, was ich damit soll. Im Hinterkopf verbinde ich natürlich schon meine Fähigkeit zum hübschen Formulieren mit einem Abschluss in diesem wunderbaren Orchideenfach und sinniere über Dinge wie endlich mal lesbare Ausstellungskataloge, Audioguides, denen man gerne und fasziniert zuhört oder generell die Möglichkeit, Kunst nahbarer zu machen, indem man von diesem össeligen wissenschaftlichen Schreiben etwas runterkommt. Aber das ist, wie gesagt, alles im Hinterkopf. Im Vorderkopf steht schlicht der Wunsch, zu lernen.
Gestern war der oben erwähnte dünne Umschlag im Briefkasten. In ihm teilte mir das Immatrikulationsamt Dresden mit, dass ich gerne in ihrer schönen Stadt studieren dürfe, wenn ich das denn wolle. Ich warte noch auf drei andere Städte, die mir das bitte auch mitteilen sollen, auch wenn mir das schon sehr vermessen vorkommt. Ehrlich gesagt, habe ich mit keiner einzigen Zusage gerechnet, weswegen ich gestern schreiend in der Küche stand. Ich hatte schon ganz vergessen, wie sich das anfühlt, Post von Universitäten zu kriegen. Vor allem welche, auf die man wartet.
Wenn sich Hamburg fieserweise gegen mich entscheidet – die anderen beiden Städte waren eh nur auf Platz 3 und 4 der persönlichen Hitliste an Wunschstudienorten –, werde ich im Herbst zumindest tageweise nach Dresden ziehen. Denn den Kerl kriegen keine zehn Pferde aus der angeblich schönsten Stadt der Welt, und mal ehrlich, so eine klasse Wohnung finden wir auch nie wieder. Nebenbei würde ich auch gerne ein bisschen weiter über Autos schreiben, denn wie schon angemerkt: Geld verdienen ist schon toll.
Aber auch das ist erstmal in den Hinterkopf gerutscht. Vorne tanzt dafür ein hysterisches dickes Frauchen, das sich ständig selbst zubrüllt: FUCK YEAH ICH GEH WIEDER STUDIEREN! Abwechselnd mit: Ach du Scheiße, ich geh wieder studieren!
Vielleicht ist das nur eine Midlife-Crisis, die ich mit dem Erlangen eines Jodeldiploms bekämpfe. Vielleicht merke ich schon im ersten Semester, warum ich vor gefühlten hundert Jahren mein erstes Studium nicht abgeschlossen habe: weil mir Unis und Studierende auf den Zeiger gingen und ich Geldverdienen schon immer toll fand. Vielleicht finde ich eine Wochenendbeziehung zu anstrengend. Vielleicht geht mir Sächsisch (oder Berlinerisch oder Bayerisch) zu sehr auf die Nerven, um es mindestens drei Jahre fast täglich zu hören. Aber selbst wenn: Es ist eine Veränderung. Und genau die wollte ich haben.
FUCK YEAH ICH GEH WIEDER STUDIEREN!
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Terrine München
Frau Kaltmamsell bat mich in die Terrine in München, und da lasse ich mich natürlich nicht lange bitten. Ich war wieder zu faul zum Notieren, und das gelbliche Licht ist nicht besonders fotofreundlich, aber glauben Sie mir bitte: Das war große Klasse. Kann an der netten Begleitung gelegen haben, aber die Terrine verwies kurzfristig das reinstoff in Berlin in meiner Hitliste auf die Plätze. Inzwischen ist die weinselige Euphorie etwas verflogen. Wie gesagt, große Klasse, aber dann doch nicht ganz so irrwitzig toll wie das reinstoff.
(Edit: Nach der Veröffentlichung dieses Eintrags bekam ich eine freundliche Mail von Matthias, der die „Augenkrebsigkeit“ der Bilder bemängelte und sie mir bearbeitet noch mal schickte. Sie sehen deutlich besser aus als vorher, vielen Dank!)
Los ging’s mit einem Stück Melone, das in Rosenwasser mariniert wurde. Ein Hauch Pfeffer dran, ein kleiner frischer spitzer Haps. Dazu kredenzte der Sommelier einen Pinot-Noir-Rosé, dessen Namen ich leider nicht erfrug. Zur Melone war er toll, zum nächsten Häppchen auch, aber dann versagte er kläglich. Ich komme darauf zurück.
Der überaus wortgewandte Sommelier war übrigens geschätzt höchstens 20. Wahrscheinlich hat der Mann mit sieben angefangen, Wein zu trinken. Wir müssen ihn uns als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Nächster Spaß: Forellenkaviar, Waldmeister und Ingwerluft. Hach! Hier ging’s los mit den verschiedenen Texturen, über die ich mich persönlich bei jedem Gang am meisten freue. Das widerstandslose Zerplatzen der Kaviarkügelchen, der frisch-kühle Waldmeister, dazu ein Hauch kapriziöser Ingwer. Und der Rosé, der alles fruchtig zusammenhielt.
Eigentlich sollte jetzt das Chef’s Menu losgehen, aber die zuvorkommende Bedienung erwähnte, dass sie gerade total zufällig La-Perle-Blanche-Austern da hätten, ob’s welche sein dürften? Wir entschieden uns für jeweils zwei. So richtig mit Schale und Schlürfen habe ich erst einmal Austern gegessen, und die waren deutlich meerwassriger. Die hier waren sehr fein, einen Hauch salzig, aber auch deutlich größer, was bedeutete, dass ich ein bisschen kauen musste. Was ich bei Muscheln gerne vermeide, denn je länger ich den Kram im Mund habe, desto mehr fange ich an, über die seltsame Konsistenz nachzudenken. Deswegen muss ich die Viecher auch nicht dauernd haben, aber wenn ich schon so freundlich gefragt werde, sage ich natürlich nicht nein. Hier habe ich auch zum ersten Mal kapiert, dass die Zitrone, in Maßen drübergeträufelt, den Meergeschmack noch verstärkt anstatt alles in irgendwas zu verwandeln, was an Kloreinigerduft erinnert.
Dafür war der Rosé jetzt bockig: Nach einer Auster nahm ich einen Schluck und hatte auf einmal das Gefühl, auf brackigen Kieselsteinen rumzukauen. Die Fruchtigkeit vom Wein war weg genau wie die Meeresbrise der Auster.
Erster Gang: Donauwaller mit Navetten, Pfifferlingen und Zitronen-Nussbutter. Dass der Donauwaller wohl ein Fisch sein soll, konnten wir noch erraten, aber nach den Navetten haben wir gefragt: Das ist eine Form der Mairübe. Und, wie ich jetzt weiß, eine äußerst schmackhafte. Zart und knackig, der Fisch zart und bissfest, die Pfifferlinge zart und rauchig. Ein sehr liebevoller Reinkommer, der mir außerordentlich gut gefallen hat.
Dazu gabe’s einen Sauvingon Blanc „Animale Celeste“ 2011, der genauso liebevoll war. Ich rieche beim Sauvignon blanc immer schwarze Johannisbeere, Frau Kaltmamsell ergänzte um Ananas, und wir beide waren sehr glücklich und zufrieden.
Der zweite war mein liebster Gang des Abends: Seeteufel, Erbse, Toast-Avocado, grüne Mandel. Grüne Mandel hatte ich vor ein paar Monaten im reinstoff das erste Mal gegessen und war schwer beeindruckt (wobei der Grüne-Mandel-Gang da auch der Kracher war). „Toast-Avocado“ ist Restaurantdeutsch für „geröstete Avocado“, und Frau Kaltmamsell und ich sagten beide, dass man da auch mal selber hätte drauf kommen können. Mir hat an diesem Gang der Gesamteindruck am besten gefallen: alles war mild-fluffig-süßlich, und das scheint die Geschmacksrichtung zu sein, mit der man mich ins Bett kriegt.
Der Wein dazu war ein Anjou „La Lune“ 2010, der aus Chenin-Blanc-Trauben gekeltert wird. Er sorgte dafür, dass das Essen nicht in seiner eigenen Lieblichkeit erstarrte, sondern hielt frisch und kernig dagegen – natürlich ohne die milde Fluffigkeit zu ruinieren. Jetzt lag auch die Kaltmamsell im Bett.
Der dritte Gang: Schwarze-Bohnen-Essenz mit Ziegenkäseravioli und Tomate. Ich finde Essenz generell spannend, weil mein Kopf auf das ganze Gemüse wartet und ich bloß eine Flüssigkeit schlürfe. So auch hier: Die Erdigkeit der Bohnen, die einem elegant die Speiseröhre auskleidete, passte hervorragend zur Zickigkeit des Ziegenkäses, der von der säuerlichen Frische der Tomaten ergänzt wurde. Kein großer Aufreger, aber stimmig – und deutlich hübscher als das miese Foto. Entschuldigung.
Der Wein blieb der „La Lune“, mit dem wir immer noch sehr glücklich waren. Ich ahne, dass mein Agenturempfang demnächst wieder eine Kiste annehmen und mich nölig anrufen wird: „Hier ist schon wieder Alkohol für dich!“
Der vierte Gang war der unspektakulärste, aber wir brauchen ja auch nicht immer Feuerwerk: Foie Gras, Kirsche, schwarze Olive. Wie schon bei der grünen Mandel hatte ich reinstoff-Flashbacks, denn dort wurde eben diese Mandel mit Foie Gras kombiniert – für mich eine großartige Kombination. Hier war mir die Gänseleberpastete ein bisschen zu warm, und die Kombination mit der Kirsche erschien mir zwar halbwegs passend, aber doch einen Mikrometer daneben. Der Wein allerdings machte eine Menge wieder wett. Wo ich das Gefühl hatte, dass Kirsche und Foie Gras nur widerwillig miteinander auf dem Teller lagen, sorgte der Ramos Pinto Ruby Port dafür, dass sie sich in meinem Mund ganz hervorragend verstanden.
Der übliche Magenaufräumer: ein Sorbet. Ich glaube, Ingwer. Passt.
Der Hauptgang war, wie schon in der Küchenwerkstatt, Reh, genauer gesagt Poltinger Reh mit Mangold, Verjus und Brombeere. Ich liebe die Kombination von Wild mit Obst, wobei das Wild kaum nach Wild schmeckte (was, glaube ich, der Witz an Reh im Sommer ist anstatt zu Weihnachten). Sehr schöner Gang, ohne Höhen und Tiefen, aber dafür eben absolut ausgewogen.
Beim Wein ritt mich meine charmante Begleitung schön rein. Der Sommelier setzte gerade an, uns den 2004er Reserva „Finca de Ganuza“ schmackhaft zu machen, indem er darauf hinwies, dass er zu 90 Prozent aus Tempranillo bestehe, woraufhin Klatschbase Kaltmamsell rumpiepste: „Meine Freundin mag keinen Tempranillo.“ Ich zuckte schamhaft zusammen, beteuerte, der totale Fan von Tempranillo zu sein, dachte aber innerlich, es gibt Milliarden von Rotweinen, wieso muss es ewig der olle Tempranillo sein? Freund Sommelier bot mir sofort einen Ersatz an, aber so leicht kriegt man mich nicht. Ich gehe davon aus, dass die Jungs und Mädels sich was bei der Zusammenstellung gedacht haben, und deswegen bestand ich fast auf dem verdammten Tempranillo. Der dann – natürlich – überraschend gut war. Erstmal (für mich) belanglos, weil ich die Traube eben belanglos finde, aber: Die zehn Prozent, die eben nicht von der Schnarchnase stammten, machten aus dem Wein etwas Besonderes. Sie bestanden zu fünf Prozent aus Graciano und jeweils zweieinhalb Prozent aus Viura und Malvasia. Ich konnte ihr Aroma überhaupt nicht festnageln, sondern faselte nur angetan vom Geist über dem Wasser, der meine Nase hochkletterte. (Ja, mir geht’s gut, danke.)
Laut ausgedruckter Speisenfolge, die ich mir nach dem Festessen erbat, kam jetzt das „Pre-Dessert“. Wieder ein schönes Wort für die interne Datenbank. Das Vorspeischen war eine Schokoladencreme plus Himbeersauce, und eins von beiden war mit Eukalyptus aromatisiert. Die Kombi Schokolade plus X gewinnt bei mir immer, Himbeeren sind super und Eukalyptus wird von Koalas gegessen – what’s not to love?
Der Abschluss war dann noch mal ein Kracher, der in meiner persönlichen Hitliste direkt hinter der erbsigen Avocado landete: Tannennadeleis (!), Rosenwasserpfirsich, Marzipanespuma. Frau Kaltmamsell meinte zu Recht, vor uns wäre nun kein Nadelbaum mehr sicher, denn das Eis war unglaublich gut. Mehr Frucht als Tannenbaum, sehr frisch, ein bisschen herb, aber eigentlich hat es nur grün geschmeckt. Wie grün halt so schmeckt. Dazu das weichgespülte Marzipan und die feinfruchtigen Pfirsiche – ich war begeistert. An den Wein erinnere ich ich in meiner Süßspeisenseligkeit nicht mehr, aber er war bestimmt genauso toll wie die anderen: ein 2010er Vouvray „Le Clos du Bourg“.
Terrine
Amalienstraße 89 (Amalienpassage)
80799 München
Geöffnet Montag bis Samstag ab 18.30 Uhr (Küche bis 22.30 Uhr) sowie Dienstag bis Freitag 12 bis 15 Uhr (Küche bis 14 Uhr).
Telefon: 089/28 17 80
E-Mail: geniessen@terrine.de
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Zehn Jahre Nabelschau
Heute vor zehn Jahren, am 1. Juli 2002, erschien mein erster Blogeintrag auf ankegroener.de. Auf dieser Website war vorher schon ein wenig los, das netterweise kaum noch von webarchive.org gefunden wird – die ersten Kinokritiken, ein paar Kurzgeschichten, von denen ich wenige ins Blog rettete, schon damals ein Amazon-Wunschzettel und der im Nachhinein unfassbare Hinweis, doch bitte den Internet Explorer zu nutzen.
Es hat sich einiges geändert. Nein, sogar eine Menge, wie ich beim Wühlen im eigenen Archiv feststellen durfte. Denn eigentlich sollte hier ein Eintrag stehen, der noch mal nachvollzieht, was genau sich alles so geändert hat. Der wurde allerdings immer länger und länger, fing mit Blogplattformen an, darf man mit Bloggen Geld verdienen, unser Blogs!-Buch, die ersten Shitstorms, die damals noch keinen Namen hatten, sind Blogs der neue Journalismus, sollten Journalist_innen bloggen, machen Blogs die Welt schlechter oder besser oder machen sie überhaupt irgendwas außer da sein und plappern.
Zu den allgemeinen Dingen, mit denen ich mich beschäftigte, kam meine eigene Entwicklung, meine Depressionen, das In-den-Griff-Kriegen derselben, die Wandlung von der Singlefrau zum Pärchenbestandteil (dem das Kennenlernen eines Manns vorausging, dessen Blog ich las und der meins las), der erste Gesangsunterricht, Golfspielen, Opern, Gottesdienstbesuche, Bücher, Filme, Serien, Karl, drei Autos, zwei Werbeagenturen, der Weg vom Angestelltendasein in die Selbständigkeit, der Eintrag über Opa, der schließlich in einem Museum landete, mein Patenkind (SIE IST INZWISCHEN ACHT!), irgendwann dann gutes Essen und weniger Filme, der zweite Schwung Gesangsunterricht und kein Golfen mehr, Körperakzeptanz, Feminismus, Fußball, mein Buch … und über und zwischen allem das Fragen nach dem Warum und Wohin, das Hadern oder Abschließen mit Vergangenem und die Suche nach dem Morgen.
Ich habe tagelang an diesem Eintrag rumgefeilt und ihn schließlich gelöscht. Ich weiß, was sich in den letzten zehn Jahren geändert hat, denn ich habe fast täglich darüber geschrieben. Wer das nicht weiß, darf sich durch mein Archiv wühlen, das bemerkenswert unredigiert hier rumsteht; die Favorite Entries sind dabei ein guter Startpunkt. Ich bin über einige Einträge gestolpert, die ich so heute nie wieder schreiben würde; ich bin aber auch über viele, viele Einträge gestolpert, auf die ich stolz bin (ein paar davon sind oben verlinkt). Die glückliche Momente beschreiben – oder ganz und gar unglückliche. Die Veränderungen an mir zeigen, die ich für wichtig halte. Oder einfach die, die Augenblicke festhalten, damit ich sie nicht vergesse.
Mir ist auch aufgefallen, über was ich alles nicht geschrieben habe. Das vergessen viele Leser_innen ja gerne mal: dass man weitaus mehr ist als diese Pixel hier. Das vergesse ich in anderen Blogs oder, noch schlimmer, bei Twitter übrigens auch gerne. Deswegen will ich gar keine große Rückschau halten oder den vergeblichen Versuch starten, zehn Jahre in einen Eintrag zu quetschen. Stattdessen gibt es nur eine kleine, sehr hoffnungsvolle Essenz aus zehn Jahren Weblogschreiben:
Es hat mein Leben verändert. Und es verändert es täglich weiter, weil ihr da draußen auch Weblogs schreibt. Danke dafür.
(Eintrag vom 24. September 2002)
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Küchenwerkstatt
Frau Kaltmamsell weilte in Hamburg und wollte mit mir essen gehen, was ein triftiger Grund war, mich endlich mal in die Küchenwerkstatt zu trauen, um die ich bis jetzt immer nur alleine und hungrig rumgeschlichen war. Bei einem Essen dieser Güte finde ich es immer schön, jemanden dabei zu haben. Man fällt dann nicht so aus dem Rahmen, wenn man stundenlang vor sich hinseufzt, weil alles so großartig aussieht, duftet und schmeckt oder versonnen die Nase ins Weinglas steckt, weil der Inhalt so glücklich macht.
Wir gönnten uns das Acht-Gang-Menü mit Weinbegleitung, davor noch einen Martini, danach noch Kaffee und Schnaps und eine handgefertigte Praline, und wir haben dafür beide mit ordentlich Trinkgeld knapp 200 Euro bezahlt. Wie immer in solchen Läden: völlig zu Recht.
Ich war wieder notizfaul, deswegen sind die Beschreibungen leider etwas unfundiert und nicht ganz so exakt wie ich sie gerne hätte. Ich könnte auch unter alle Bilder „LECKERGEILWUNDERSCHÖN!” schreiben, aber ich gebe mir mal etwas mehr Mühe. Außerdem fehlen die genauen Weinbezeichnungen; ich habe die Liste leider noch nicht zugemailt bekommen, aber ich bin natürlich viel zu ungeduldig, um darauf zu warten. Die editiere ich dann irgendwann rein und mache euch lautstark auf Twitter darauf aufmerksam.
Soweit ich mich erinnere, war das mittlere Bröckchen Schweineohr mit Schnittlauchblüten; es war jedenfalls mein Liebling des Küchengrußes, weil es so herrlich knusprigsalzigwürzigfrisch war. Auf dem zartflauschigen „Brötchen“ lag etwas Fischiges, der „Keks“ rechts war salziger Mürbeteig (auch großartig). Im Gläschen gab es fermentiertes Gemüse, wobei ich da mit etwas mehr Ooomph gerechnet hatte; ich dachte, eine Fermentierung sorgt dafür, dass alles intensiver schmeckt, aber hier waren Radieschen, Gurke und Rübe eher gedimmt. Wobei das vielleicht die Intention war: alles ein bisschen verzärteln. Im Hörnchen war Blutwursteis – oder etwas, das so geschmeckt hat. Schöne Kombi aus kühlem, sehr würzigem Schmelz mit dem leichten, knusprigen Hörnchen.
Laut Website Tunfisch-Sashimi, Artischocke, Ziegenjoghurt. Wobei die Artischocke sowohl als Creme vorhanden war als auch frittiert (und ich glaube, der Schaum war auch artischockig). Unter ihm verbargen sich noch ein paar Kaviarperlen. Alles zusammen war ein sehr schöner, leichter Reinkommer. Auch noch etwas vorsichtig in der Gesamtkomposition, aber deswegen genau richtig.
Der erste Wein war ein Sauvignon Blanc, den ich immer gerne als Einsteigerwein verschmähe, aber der hier war toll. In der Nase das übliche „NajaeinSauvignon“, aber im Mund dann winzige schwarze Johannisbeeren mit ein bisschen Grün dran, das der kalte Morgentau zackig gefressen hat. Ne Kiste zum Mitnehmen, junger Mann? Danke.
Frühlingspilze gebraten, geschmort, roh mariniert. Dazu in der Vertiefung Pilz-Pannacotta und Pilz-Tee. Leider wählte ich eine doofe Bildperspektive – von vorne sah der Teller aus wie ein mittelalterliches Schlachtengemälde. Tausend Details, an denen man sich erstmal satt sehen kann, bevor man sich satt isst.
Vor dem Gang hatte ich ein bisschen Respekt, denn Pilze stehen nicht ganz so oft auf meinem Speiseplan. Ich muss mich immer wieder mit ihrer Konsistenz anfreunden – aber netterweise war das bei diesem Teller nicht oder kaum nötig. Denn neben der für mich sehr beeindruckenden Optik kamen hier ebenso beeindruckende Texturen und Temperaturen zusammen. Da war ein Bissen sauer und kühl, ein anderer knusprig und warm, dann wurde es scharf, dann sehr mild, dann bröselte Krokant, dann floss Pannacotta. Das einzige, was mir am ganzen Abend nicht gefallen hat, war allerdings auch auf diesem Teller: der Pilz-Tee. Den fand ich zu gewöhnungsbedürftig, um mehr als ein, zwei Probeschlucke aufzulöffeln.
Garnele, weiteres Meeresgetier, Gurkensorbet und eine Sellerievinaigrette, die sich hier hinter dem Sorbet versteckt. Auch hier kostete ich eher zögerlich, denn genau wie bei Pilzen finde ich einige der Konsistenzen von Meeresbewohnern gewöhnungsbedürftig. Im Nachhinein bin ich aber mal wieder dankbar dafür, dass mich solche Menüs dazu zwingen, etwas zu essen, das ich sonst nicht bestellt hätte. Die Meeresschnecke war dann auch das einzige, auf dem ich etwas misstrauisch rumgekaut habe; die rohen Fischstücke dagegen waren alle großartig, genau wie das Grünzeug, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. Die Alge oder was auch immer das war, bestand gefühlt aus lauter kleinen kühlen Perlen, und genauso hat sich das im Mund auch angefühlt. Aber so richtig toll waren die grünen „Krönchen“, von denen ich gerne eine Salatschüssel voll gegessen hätte. Bei diesem Gang verglichen die Kaltmamsell und ich mal eben unsere Eismaschinen und bastelten im Kopf schon Gurkensorbetrezepte. Ach, und das weiße Knusperzeug war genau das: weißes, leicht meeriges Knusperzeug. Nehme ich auch gerne noch ne Tüte von.
Und von dem Wein auch: ein Riesling Spätlese. Der kam völlig ohne jede Mineralität daher, die ich für Riesling als so charakteristisch empfinde. Er fing schon mit einer kleinen Walderdbeere in der Nase an, hatte die Säure irgendwo beim Erdbeerpflücken fallengelassen, und je länger er im Glas war, desto mehr war da Party. Irgendwann waren wir bei Erdbeerbowle auf einer Terrasse mit Verdi auf 120 Dezibel, und ich wollte jeden Schluck heiraten.
Gierig verwackelt: dreimal Kabeljau, Fenchelsaft, Senfblätter. Neben dem offensichtlichen Stück Kabeljau gab es Kabeljauperlen und – großartig – Kabeljau-Brandade. Gleichzeitig fein und mit Wumms, weichmildes Püree mit festen Stückchen, wobei sich die warme Brandade herrlich mit dem kühlen Fenchelschaum und den Senfblättern vertrug. Irgendwo verbargen sich hier ein paar Pfefferkörner, die dem Riesling ein bisschen, haha, Pfeffer unter dem Arsch gemacht haben, wo er sonst entspannt-waldspaziergangig vor sich hinfloss.
Der Magenaufräumer: Kürbisgewächse, Shiso, Tonic-Sorbet, Yuzu. Oder anders: Melone und Paprika, eiskalt und gut. Vor allem das Tonic-Sorbet hat sehr viel Spaß gemacht, wobei ich seit dem Restaurantbesuch begeistert den Kopf darüber schüttele, dass Paprika und Melone zusammenpassen. Die Zucchini-Kügelchen sahen immerhin hübsch aus, haben für mich sonst aber keinen Zweck erfüllt. Nörgeln auf sehr hohem Niveau.
Der erste und einzige Rotwein des Abends wurde geöffnet, ich hörte nur „Tempranillo“ und quengelte innerlich ein bisschen, weil ich den meist entweder belanglos oder anstrengend finde. Der hier roch zumindest erstmal anstrengend, nämlich nach Pferdeschweiß. Im Mund hatte man dann aber wieder den ganzen roten Obstkorb und kein Pferd mehr, aber ich werde mit dieser Traube einfach nicht so recht warm.
Zum Essen war er aber natürlich trotzdem perfekt. Es gab Reh aus der Göhrde mit jungen Rüben. Ich muss zugeben, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Reh ist, hätte ich es nicht erkannt. So oft esse ich Bambi nicht, aber ich verbinde es von diversen Familienessen mit Weihnachten, Rotkohl und viel Sauce und einem leicht-herben Wildgeschmack. Hier hätte ich blind auf Lamm getippt, das vielleicht mal ein Rind in der Verwandschaft hatte: wundervoll. Und sehr zart, wozu die deutlich erdigen Rüben einen schönen Kontrast bildeten. In einem Extratöpfchen wurde uns noch Heubutter serviert (das Heu war noch im Topf, wie ich beim wilden Löffeln feststellte), die viel zarter war als ich sie erwartete. Sie war die letzte Begleitung für die drei, vier Brotsorten, mit denen wir auch sehr viel Vergnügen hatten und ich jeden Teller leergeputzt habe.
Bei den salzigen Gängen waren die Pilze mein Favorit, bei den beiden süßen der hier: Kokosnuss, Erdbeere, Banane, Basilikum. Genauer gesagt war die Kokosnuss gefühlt schockgefroren, pulverisiert und wieder zu einem Baiser zusammengebaut, weswegen sie luftig vor sich hinbröselte. Bananencreme, Erdbeersalat und das Basilikum als frische Spitze dazu – ein Traum. Die Weinbegleitung war ebenso traumhaft: ein Süßwein, der fruchtigfrisch duftete, aber im Mund alles liebevoll auszuckerte und mit einer Blätterteig-Pfirsichtorte runterspülte.
Der Rausschmeißer: Süßholzwurzel, Blüte und Schokolade. Die charmante Ansage zum Teller: „Die Steine bitte nicht mitessen.“ Für den Hinweis war ich sehr dankbar, denn ich hätte sie gnadenlos angeknabbert. Mit Schokolade kann man bei mir ja nie was falsch machen, daher habe ich die Rolle und die Mousse, auf der erstere ruhte, dann auch genüsslich verspeist. Die Blüte war niedlich, die Erdbeercreme fruchtig, die Süßholzcreme eher nicht so. War noch nicht lakritzig genug, um mich zu verschrecken, aber diese Geschmacksrichtung ist noch weniger meins als Schleimpilze und Glibberfische (die wir heute beide nicht hatten).
Mein Getränk dazu war ein herrlicher Sherry, dem ein heißzuckriger Espresso folgte und ein klarer, milder Nussbrand. Plus eine Jasminpraline, während Frau Kaltmamsell sich als Rausschmeißer … äh … irgendwas anderes aus der liebevoll präsentierten Patisserie-Box gönnte.
Wie immer nach solchen Abenden bin ich schlicht glücklich, glücklich, glücklich, weil ich etwas derartig Schönes essen durfte – nachdem ich die Schönheit mit Gabel und Messer zerstört hatte, sorry. Sehr, sehr gerne wieder. Solltet ihr euch auch dringend gönnen.
Küchenwerkstatt
Hans-Henny-Jahnn-Weg 1 (Eingang Hofweg)
22085 Hamburg
Geöffnet von Dienstag bis Samstag von 19 bis 24 Uhr, Küchenannahme bis 21 Uhr.
Mittwoch bis Freitag auch 12 bis 15 Uhr, Küchenannahme bis 14 Uhr.
Reservierungen unter 040 – 22 92 75 88, per Mail unter mail@kuechenwerkstatt-hamburg.de oder direkt über die Website.
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Kunst gucken: Alte Nationalgalerie, Berlin
Man kommt ja hier zu nix. In der Alten Nationalgalerie war ich einen Tag, bevor die re:publica ihre Tore öffnete – also vor fast einem Monat –, weswegen die Eindrücke leider nicht mehr ganz so frisch sind. Verdammt. Beste Lösung: einfach noch mal hinfahren, denn es gab genügend Bilder, die mich fasziniert haben. Zu quengeln habe ich höchstens über den Audioguide, der mich das komplette dritte Stockwerk (in dem man anfängt) allein gelassen hat. Oder ich war zu blöd, das Kopfhörer-Symbol an den Bildern zu entdecken.
Was im dritten OG so rumhängt, beschreibt die Webseite der Alten Nationalgalerie so:
„Die Kunst der Goethezeit ist mit Landschaften Jakob Philipp Hackerts, mit Porträts von Anton Graff und seinen Zeitgenossen und mit Werken der in Rom tätigen Nazarener vertreten: Peter Cornelius, Friedrich Overbeck, Wilhelm Schadow und Philipp Veit schufen mit den Fresken zur Josephslegende ein bedeutendes Auftragswerk für die Casa Bartholdy in Rom.
Zwei Säle im Obergeschoss der Nationalgalerie bieten Platz für Preziosen der Romantik: Gemälde von Caspar David Friedrich aus allen Schaffensphasen veranschaulichen die Entwicklung des Hauptmeisters der deutschen Romantik. Die programmatischen Architekturvisionen Karl Friedrich Schinkels zeigen den Architekten als ingeniösen Landschaftsmaler. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Werke Karl Blechens, der mit sprühender Farbigkeit und unkonventionellen Bildthemen seiner Zeit vorausgreift. Gezeigt werden ferner Porträts von Philipp Otto Runge und Gottlieb Schick, Landschaften von Joseph Anton Koch und Carl Rottmann. Das Biedermeier ist vertreten durch Berliner Stadtansichten von Eduard Gaertner und Johann Erdmann Hummel sowie durch Landschaften, Genreszenen und Porträts von Carl Spitzweg bis Ferdinand Georg Waldmüller.“
Klingt toll. Gleich das erste Bild, das ich mir notierte, kommt in obigem Text nicht vor, aber das macht ja nichts: Alexander von Humboldt von Friedrich Georg Weitsch. Ich mochte die Freundlichkeit, die mir aus dem Gemälde entgegenkam, genau wie die simpel eingeflochtenen Tätigkeiten Humboldts: seine Reisen, botanische Entdeckungen, die Dokumentation des Ganzen und vielleicht ein bisschen Abenteuerlust, symbolisiert durch das Fernrohr.
Ferdinand Georg Waldmüller hängt auch in jedem Museum rum, zu dem ich bisher Notizen gemacht habe, aber mit ihm konnte ich bisher nicht so viel anfangen: zu viele Landschaften, zu viel Putzigkeit, zu viel Zeug, das ich, wenn es Keramik wäre, unter „Nippes“ ablegen würde. In der Alten Nationalgalerie hängt aber unter anderem die Mutter des Hauptmanns von Stierle-Holzmeister, vor der ich länger stehenblieb. Mich fasziniert an Porträts generell die Kleidung, die Haartracht, an welchem Finger sitzen Ringe und wie sehen sie aus, welche Farben kommen vor, wie verziert sind Hauben, Stecktücher, Westen, Schleifen, Borten? Wahrscheinlich sprechen mich Porträts deshalb mehr an als Landschaften oder Szenerien, in denen auch Menschen vorkommen: Im Porträt sitzen oder stehen sie eben ganz einfach vor mir, schlicht, unprätentiös, fast schutzlos. Und ich trete in einen stillen Dialog mit ihnen und frage mich, wie wohl ihr Tag ausgesehen haben mag und zu welchen Gelegenheiten diese Kleidung rausgeholt wurde außer zur Porträtsitzung.
Deswegen stand ich auch länger vor Julius Hübners Bildnis der Pauline Charlotte Bendemann, seiner späteren Ehefrau, deren Gesichtsausdruck ich als sehr fordernd empfand, ganz anders als die vielen sittsamen, braven Frauenbildnisse, die ich im Hinterkopf habe. Wieder ein anderer Schnack: Liszt am Flügel von Josef Danhauser. Hier ist es kein Porträt, das mich beeindruckte, sondern das genaue Gegenteil: eine lebendige, fast verwuselte Szene, in der Liszt selbstvergessen vor sich hinklimpert, während der Rest des Salons sich ihm zuneigt. Hier habe ich eher auf die Notenblätter geachtet, auf das Teppichmuster, auf die Frisuren (immer toll). Und natürlich war wieder ein von Schadow dabei, genau wie in der Neuen Pinakothek. Diesmal war es das Selbstbildnis mit Ridolfo Schadow und Bertel Thorvaldsen, das sehr stilisiert und gekünstelt daherkommt und mir genau deshalb so gut gefallen hat.
Im zweiten Stock wartet Folgendes:
„Reichhaltig und qualitätvoll ist auch der Bestand an impressionistischer Malerei. Meisterwerke von Edouard Manet, Claude Monet, Auguste Renoir, Edgar Degas, Paul Cézanne und Skulpturen von Auguste Rodin wurden frühzeitig erworben.
Die Malerei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist mit Werken von Hans Thoma, Anselm Feuerbach, Arnold Böcklin, Hans von Marées, Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner reichhaltig vertreten. Darüber hinaus präsentiert die Nationalgalerie ihren großen Bestand an Gemälden von Max Liebermann.“
Okay, über das beknackte Wort „qualitätvoll“ sehe ich jetzt mal gnädig hinweg, denn in den zweiten Stock wäre ich gerne eingezogen. Davor hätte ich allerdings ein paar Menschen entlassen müssen, denn gefühlt stand in jedem der Räume und Kabinette mindestens ein_e Wärter_in, der/die einem dabei zuguckt, wie man was anguckt. Die Alte Nationalgalerie war nicht so richtig gut besucht, im Gegensatz zur Nationalgalerie nebenan, wo noch die Gerhard-Richter-Ausstellung lief, weswegen die Jungs und Mädels nicht viel zu tun hatten. Ich kam mir deshalb manchmal sehr beobachtet vor, aber ich nehme an, das steht so in der Jobbeschreibung: „Achten Sie bitte darauf, dass die verdammten Besucher_innen nicht so nah an die Kunstwerke rangehen.“ Trotzdem. Es reicht doch, wenn ihr demonstrativ im Türrahmen steht – ihr müsst mich nicht bei jedem Schritt bewachen.
Aber davon habe ich mir das Stockwerk nicht vermiesen lassen; das ging auch gar nicht, denn alle meine Lieblinge hingen hier, nur für mich, schön rausgeputzt und mit liebevollen Audioguide-Erklärungen.
Zuerst stand ich vor der Toteninsel von Arnold Böcklin, vor der so ziemlich alle standen, die sich bei 28 Grad Außentemperatur in ein Museum verirrt hatten. Oder sie standen im Richter-Zyklus 18. Oktober 1977, der lustigerweise hier mitten im 19. Jahrhundert hängt – und mich deshalb nicht so bewegt hat, wie er mich hätte bewegen können, weil ich im Kopf gerade ganz woanders war.
Neben Böcklin war auch Herr Feuerbach wieder da, von dem ich dringend eine Biografie und ein bebildertes Werksverzeichnis brauche. Ich kann mich daran erinnern, dass mir der Audioguide etwas über die ungewöhnliche Bildkomposition von Ricordo di Tivoli erzählte: die Teilnahmslosigkeit der Kinder, ihre diagonale Anordnung im Bild und dass sie den Betrachter nicht anschauen. Notiert habe ich mir sein Selbstbildnis, finde beim Googeln danach aber peinlicherweise mehrere und kann mich partout nicht erinnern, welches in Berlin hängt. Dafür erinnere ich mich an diverse Anna-Risi– bzw. Nanna-Bilder, die mir alle gefallen haben.
Und dann kamen auch schon die französischen Impressionisten, bei denen ich sinngemäß fasziniert twitterte: „Schönes Gefühl, in einen Museumssaal zu treten und beim ersten, schnellen Rumgucken zu wissen: Degas, Monat, Cézanne.“ Von Monet hängt unter anderem Saint-Germain-l’Auxerrois in Berlin, wo ich sofort Herrn Gombrich im Hinterkopf hatte, der Impressionismus unter anderem so erläutert: Es ist gar nicht nötig, jedes Detail zu malen – unser Auge bzw. unser Gehirn ergänzt, was es nicht sieht, um sich ein Bild zu schaffen, das es kennt. So reichen hier grüne und weiße Kleckse, und mein Gehirn weiß, ah, Kastanien. Und gleichzeitig zeigt mir diese Malart eben eine neue Sicht auf Altbekanntes.
Auch Paul Cézanne fasziniert mich mehr und mehr, je länger ich auf seine Bilder starre. Diese Fähigkeit zur Abstraktion, das Reduzieren auf geometrische Formen, ohne das Ganze zu zerstören, das Weglassen bzw. Nicht-Auftragen von Farbe, um damit einen bisher ungesehenen Effekt zu erzielen. Es fühlt sich fast albern an, es aufzuschreiben – „Oh hey, ich mag Cézanne, weil …“ –, denn das wurde schließlich alles schon tausendmal gesagt, aber ich finde es so begeisternd, selbst Unterschiede zu sehen, je öfter man sich mit diesen Werken beschäftigt. Ich mag dieses stückchenweise Wissensammeln und mit eigenen Eindrücken ergänzen gerade sehr gern.
Ich habe mir noch mehr Bilder notiert, unter anderem von Johann Sperl oder Franz von Lenbach, aber als Rausschmeißer will ich doch wieder Wilhelm Leibl erwähnen, der mich in Hamburg in der Kunsthalle atemlos gekriegt hat, weswegen ich mich über ein Wiedersehen in der Neuen Pinakothek so gefreut habe. In der Alten Nationalgalerie hängen wieder Atemlosmachbilder, zum Beispiel die Dachauerin mit Kind. Sie hat mich stark an die Drei Frauen in der Kirche erinnert, die mir in Hamburg so gut gefallen haben. Feinste Pinselstriche im Kontrast zu auslaufenden Farbflächen erzeugen einen fast irrealen Eindruck – aber der unnachgiebige, unbestechliche Blick der Frau holt einen sofort wieder in die harte Realität des 19. Jahrhunderts zurück. Vor dem Bild blieb ich am längsten stehen und kam nach einer weiteren Runde durch die Impressionisten auch noch mal zurück. Leibl-Groupie mit Herz und Seele. Ich glaube, ich plane meinen Sommerurlaub um die Museen rum, in denen weitere Leibls hängen. Hallo, Köln!
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Sights and Sounds of Munich (CL-Wochenende-Nachklapp)
Freitag
– Die Champions-League-Werbung am Flughafen: an gefühlt jeder Drehtür und jeder zweiten Werbefläche. Viele Media-Badges, die offen getragen werden. Wenige Trikots. Ein Berg von Abholmenschen mit CL-Schildern.
– Die fünf Meter lange Schlange an der Kasse des Bayern-Fanshops am Flughafen. Das rote Shirt zum Finale ist fast ausverkauft. Ich kaufe es und werde es wahrscheinlich nie wieder anziehen.
– Die angenehme Wärme im Freien im Kontrast zum kühlen Treppenhaus, in dem ich rumlungere, weil der Gastgeber sich unerwartet verspätet. Das Geräusch der Hardcover-Buchseiten, die ich umblättere. Das mehrfach geäußerte „Servus“, als das halbe Haus an mir vorbei muss. Das grinsende innerliche Umstellen auf die bayerische Grußform, sobald ich hier bin.
– Das sehr laut aufgedrehte Dreiklangdimensionen im Auto nach dem gemeinsamen Einkaufen. Zum ersten Mal der Gedanke „Oh, die Ecke kenne ich.“ Orientierungsmaulwurf Gröner erobert eine Stadt sehr langsam.
– Das Geschrei der Fans an der Säbener Straße. Wir verpassen die Abfahrt der Spieler nach dem Training um wenige Augenblicke. Die Schlange im Fanshop ist kürzer als am Flughafen. Ein Kunde zeigt mir, wo die Fahnen sind, die ich suche, und der Gastgeber schenkt mir eine Badeente, die „Stern des Südens“ spielt. Zuhause mithilfe eines Wassereimers die überraschende Entdeckung, dass die Ente auch „BAYERN! BAYERN!“ brüllen kann wie eine ganze Fankurve.
– Abends in der Innenstadt: das gemeinsame Zusammenschrecken, als der adidas-Trailer an der Hirmer-Fassade VERDAMMT LAUT losplärrt.
Samstag
– Die S-Bahn auf dem Weg ins Olympiastadion. An jeder Station wird die Bahn voller mit roten Trikots. Sehr viel gute Laune, sehr wenig Schlachtrufe wie sonst auf dem Weg in die Arena.
– Der erste Blick auf das Olympiagelände. Die wunderschöne Dachkonstruktion, das viele Grün. Irgendwo da unten steht die Trophäe, mit der man sich fotografieren lassen kann. Tausende von rot gekleideten Fans, ein strahlend blauer Himmel. Es riecht nach Frühling, Sommer und Urlaub gleichzeitig.
– Das Sitzschalengefühl im Olympiastadion (mein Hintern vergleicht gerne Sitzschalen). Die kurze Rührung, als Paul Breitner gegen Edwin van der Sar im All-Stars-Game einen Elfmeter verschießt. Der wehmütige Blick zur Anzeigentafel, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Die Ehrfurcht vor der Größe des Stadions. Und immer wieder der Blick nach oben zum Dach und zu den riesigen, eleganten Flutlichtmasten. Über den Rand des Stadions hinaus ist die Allianz-Arena in der Ferne sichtbar.
– Ich trinke Wasser, die anderen Bier. Hinter mir ein Fan, der jeden Schlachtruf der letzten 20 Jahre ausprobiert. Der Rest unseres Grüppchens plaudert und stößt miteinander an, ich sitze still am Rand und gucke schweigend um mich rum. Inmitten der Partystimmung empfinde ich eine tiefe, ruhige Zufriedenheit und habe völlig vergessen, dass heute abend noch ein Champions-League-Finale mit meiner Mannschaft ansteht.
– Nach dem Spiel in Hauptbahnhofsnähe die einzige unschöne Begegnung mit Chelsea-Fans, durch die wir durchgehen müssen. Deutlich mehr rote Trikots, viele singen. Es ist eine andere Freude als an normalen Spieltagen. Entspanntes Vorjubeln.
– Die Schlange im Fanshop im Hauptbahnhof geht fünfzehn Meter weit in den Bahnhof hinein.
– Im Biergarten mein erster Steckerlfisch. Salzige, knusprige Haut, festes, rauchigmildes Fleisch. Zwei Gentlemen, die mir entgrätete Stücke bereitlegen. Das Prinzessinnengefühl im Gomez-Trikot. Der erste Schluck Augustiner: Jetzt ist es München. Auch hier wieder die kurze innere Einkehr. 5.000 überwiegend rot gekleidete Menschen um mich herum, und ich bin eine kleine zufriedene glückliche warme satte Insel.
– Beim Dallmayr das Gefühl, Scheiß auf Fußball, ich setz mich jetzt hier hin und esse die nächsten acht Stunden durch.
– Knapp zwei Stunden vor Spielbeginn kurz in den Livestream der Bayerischen Staatsoper geguckt. Im Trikot auf dem Sofa sitzen, mit Erdnussflips versorgt werden, Bier trinken und Bellini über Kopfhörer zuhören, während auf dem Fernseher die Hysterie in der Stadt beschworen wird, die ich nicht so empfunden habe.
– Die vom Gastgeber wortlos gereichte Après-Sonnenlotion, damit ich aufhöre, an meinen roten Unterarmen rumzukratzen.
– Während des Spiels 83 Minuten gut gelaunte Anspannung – und immer das Gefühl, das wird. Das gehört uns. Torjubel. Fünf Minuten später die kalte Dusche, die sich genau so anfühlt, nur ohne Wasser. Ab da nur noch der Wunsch, lass es schnell vorbei sein, egal wie es ausgeht.
– Die ersten Tränen, die ich wegen eines Fußballspiels vergieße. Die dankbare Wahrnehmung der Trosttweets in der Timeline. Die kurze Fassungslosigkeit ob der wenigen Arschlochtweets. Handy weg. Mehr Bier. Viel mehr Bier.
– Fußballdiskussionen bis morgens um 5. White Russian. Zigaretten auf dem Balkon. Der Sommer hängt immer noch in der Stadt, die das alles nicht interessiert, was wir hier gerade hitzig, enttäuscht, wütend, traurig, fassungslos, resigniert und irgendwann lachend diskutieren. Das Zwitschern der Vögel, als ich ins Bett gehe.
Sonntag
– Frühstück. Das hohle Gefühl im Magen: Wir haben verloren. Aber es gibt Kaffee. Und Weißwurst. Und süßen Senf. Und Laugenbrezeln. Mein inneres Bayerisch scheitert immer an „Brezn“.
– Die vom Gastgeber wortlos gereichte Sonnenmilch.
– Im Auto auf dem Weg zum Biergarten. Offene Fenster, laute Musik. Wir singen zu dritt Mad World mit. Der Schmerz kommt kurz wieder, aber der Tag ist zu schön dafür.
– Im Biergarten der inzwischen sichere Griff durch den Henkel des Maßkrugs. Die klebrige Kühle der Einbuchtungen im Glas, der weiche Schaum am Mund. Augustiner FTW. Das Schild, auf dem steht, dass man sich gerne zentnerweise Brotzeiten mitbringen dürfe, nur das Bier sollte bittschön hier gekauft werden. Um uns herum diverse Tupperdosen, Picknickkörbe, Decken, Blumenvasen (!). Ein paar versprengte rote Trikots neben unseren. Das beruhigende Klacken der dickwandigen Krüge.
– Das klickende Suchen nach S-Bahn-Verbindungen auf dem Smartphone, das mir bewusst macht, dass mein Kurzurlaub zuende ist. Wie gestern beim Dallmayr: Scheiß auf den Flug und auf den Montagsjob, ich bleib hier acht Stunden sitzen und kriege Sonnenbrand. Das verantwortungsvolle innere Engelchen, das zur Eile mahnt. Der hektische Abschied, die Erschöpfung in der S-Bahn, die Müdigkeit im Flieger. Zum ersten Mal um Alkohol gebeten. Mit ollem Warsteiner das München-Wochenende verlängern wollen. Keine gute Idee.
– In Hamburg das einzige rote Trikot am Flughafen. Das Gefühl des Deplatziertseins statt des Nachhausekommens. Das stille Taxi, die Treppe in die Wohnung. Der Kerl wartet. Doch nicht deplatziert. Alles richtig so. Wenn auch ohne Augustiner und einen Champions-League-Sieg.
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reinstoff, das zweite Mal
Der erste Besuch liegt ein Jahr zurück; inzwischen hat das reinstoff einen zweiten Stern bekommen, und ich behaupte von mir, ich hätte einen Hauch mehr Ahnung von gutem Essen und gutem Wein. Beste Voraussetzungen also, um einen tollen Abend zu haben. Ich nehme die Pointe vorweg: hatten wir. Ich nehme allerdings noch was vorweg: Das schöne, klare, weiße Licht, das wir im letzten Jahr hatten, ist leider einer gelblichen Raumbeleuchtung gewichen. Das macht den Laden zwar etwas heimeliger, meine iPhone-Bilder allerdings sehr fies. Netterweise hat mir Herr Knüwer einige seiner Bilder überlassen, die deutlich schicker sind. Und noch was: Ich habe mir keine Notizen gemacht, was für den Blogeintrag sehr, sehr doof ist. Insofern ist das hier keine angemessene Kritik, sondern eher ein Merkzettel für mich, damit ich noch in drei Wochen weiß, was ich gegessen und getrunken habe.
(Foto: Thomas Knüwer)
Wir starteten mit einem Rieslingsekt, um uns die Wartezeit bis zu den Vorspeisen zu verkürzen. Die bestanden aus, copypaste von der Speisekarte:
„Eisblume und Vinaigrette“ – genauer gesagt ein bisschen Sorbet (?) mit säuerlich-frischer Vinaigrette. Schöner Reinkommer.
„Cracker“ – mit Rhabarbergelee. Weder süß noch salzig, aber herrlich. Zuerst knistert, dann schmeichelt es.
„Aubergine und Miso im Umschlag“ – kleine Gemüsewürfel in Esspapier. Mein Kommentar an dem Abend: die erste Aubergine, die nach was schmeckt.
„Eingelegter Hering, traditionell“ – genau so.
(Foto: Thomas Knüwer)
Der Gruß aus der Küche war ein „Lammburger“ – genauer gesagt, ein grünes Macaron, das mit einem winzigen Salatblatt und Lammfleisch belegt war, serviert an einem Klecks Senfdressing auf knitterigem Pergamentpapier. Den Burger in die Hand genommen, durch den Senf gezogen, in einem glückseligen Haps verspeist und mit den Fingern noch den Rest Dressing vom Pergament gerettet.
Dann ging es an die Hauptgänge, zu denen Stevan, Thomas, zwei weitere Menschen, von denen ich nicht weiß, ob sie genannt werden möchten, mit denen man aber einen sehr netten Abend verbringen kann, und ich die Weinreise orderten. Also zu jedem Gang ein Glas passenden Wein. Inzwischen bin ich so weit, dass ich an den Weinen fast mehr Spaß habe als am Essen, weswegen es mich noch mehr ärgert, mir keine Notizen gemacht zu haben.
„Morchel ,Royale’ mit Pinienkernen, Zwiebelbouillon und Verjus 8“, dazu gab es einen Amontillado V.R.O.S, Bodegas Tradicion, Jerez. Kein Foto, und der Gang wurde von den Erinnerungen an die folgenden leider in die hinterste Hirnecke gedrückt. War garantiert toll.
„Garnelen aus der Normandie, Buschbohne, Seemoos und Aioli“, dazu einen Riesling R „Monzinger Halenberg“, Emrich-Schönleber von der Nahe, 2008. Wie ich schon twitterte: der beste Riesling, den ich je getrunken habe. Bitte kauft ihn mir nicht weg, ich muss ihn dringend noch mal trinken. Garnelen und ich werden wohl nie richtig dicke Freund_innen, aber die hier waren (erwartungsgemäß) ausgezeichnet. Vor allem das grüne Sößchen hatte es mir angetan, und ich musste mich sehr zusammenreißen, nicht den Teller zu kippen und den Rest auszutrinken.
Wieder ohne Foto: „Ei, geschmortes Huhn, Johannisbeerblätter und verflüssigte Kräuter“, dazu einen Manzoni Blanc de Plana, Vigna Dogarina, Veneto, 2008. Das nächste kleine Wunderwerk aus verschiedenen Texturen, die für mich so spannend waren, dass ich den Geschmack fast vergessen hätte. Knusprig, flüssig, eine Beilage, die zuerst spröde und dann schmelzig im Mund war, dazu das weiche Ei – herrlich. Der Wein dazu war ebenso komplex: viel Frucht, viel Ooomph.
„Gänseleberterrine, Erd- und grüne Mandel“, dazu einen Cantocuerdas Moscatel, Bernebaleva, Vinos de Madrid, 2009. Bei dem Wein jauchzte ich peinlicherweise ein bisschen auf, was den schnuckigen Sommelier aber nicht aus dem Konzept brachte. Seit Frau Cucina Casalinga mir einen Moscato kredenzte und ich im trific grundsätzlich den Gelben Muskateller vom Pollerhof anhimmele, will ich mich in die Richtung fortbilden. Der hier war eine gute Fortbildung – so eine von der Sorte, wo ich schon bei der ersten Nase weiß, dass ich davon gerne eine Kiste nach Hause tragen wollen würde. Lieblich, aber mit genug Muckis, um gegen die Gänseleber anstinken zu können. Bei der Beschreibung dachte ich, das wird ein feister Angebergang mit nem vorsichtigen Wein dazu. Stattdessen machte sich der Moscatel im Mund breit, während die Gänseleber fein vor sich hinschmolz und die grünen Mandeln charmante Akzente setzten. Ach, und das Brot! Fluffigst.
„Blauleng, Tomatensaft, Austernkraut und Muscheln“, dazu ein Sotorrondero, Jimenez Landi, Mentrida, 2009. Der Gang, bei dem selbst der Koch am Tisch fragen musste, was bitte ein Blauleng sei. Der Racker ist ein Fisch, der angeblich ein bisschen nach Forelle schmeckt. Kann ich nicht beurteilen, war aber – natürlich – sehr gut. Zartes und gleichzeitig kräftiges Fleisch, dazu die ansatzweise zähen Muscheln, was ich als positiv empfand; sie rutschten nicht so uninspiriert weg, sondern ergänzten den Fisch um eine zusätzliche Textur. Mit dem Wein musste ich mich erst anfreunden: Die Nase zuckte vom Glas weg – Rauch! Also nicht nur ein bisschen Holz irgendwo hinten in den Nasenflügeln, sondern wirklich so, als ob man den Kopf in einen Kamin steckt. Sobald ich aber einen Bissen vom Essen nahm, verschwand der Kamin, und aus allem wurde eine wunderbare Einheit. Hach, Wein!
„Berliner Weiße ,eiskalt’ und Löwenzahnlimonade“, genauer gesagt, ein Schlückchen Dandelion & Burdock. Ein köstliches Sorbet mit Himbeerpüree und einer mit dem Skalpell zerteilten Himbeere zum Magenaufräumen. Über die Löwenzahnlimo war man sich am Tisch nicht ganz so einig: sehr süß, und ich hatte seltsame Zahnarzterinnerungen, weiß der Geier woher. Aber das Himbeerpüree hätte ich geheiratet. Und ich habe Klee gegessen.
„Wald und Wiese: Kronenstück vom Kalb, Salatspitzen, Knollenkerbel“, dazu ein Dominio de Atauta, Ribera del Duero, 2009. Der Gang, der uns am meisten beeindruckte. Schon optisch ein Volltreffer, aber das ist ja fast albern zu erwähnen, und ich streue wirklich zutiefst traurig Aschenberge auf mein Haupt wegen des miesen Bilds. Dann der erste Bissen: Das Fleisch wurde bei Niedrigtemperatur gegart; außen war es lieblichbraun, innen vollständig rosa. Und ich meine: rosa. Sämtliche Stücke hatten die gleiche Struktur und Farbe und steckten voller Kraft und Anmut. Wo wir bisher das gesamte Essen durchgequatscht hatten, war auf einmal Ruhe am Tisch. Fünf Menschen, die sich andächtig mehreren kleinen Stücken Fleisch widmeten, dem bissfesten Spargel, den luftigen Kräutern, der konzentriert-aromatischen Sauce, die alle mit Brot auftunkten, weil es schlicht ein Sakrileg gewesen wäre, auch nur einen Tropfen davon zu verschwenden. Dazu ein tiefroter, vollfruchtiger Wein, an den ich aber kaum eine Erinnerung habe. An das begeisterte Schweigen um so mehr.
Das Dessert für Herrn Knüwer war „asiatisches Müsli und geeiste Zuckererbse“, wir anderen ließen uns „Emmental Grand Cru, Sauerklee und Kernobst“ schmecken. Dazu hatten wir einen Chardonnay R, Ökonomierrat Rebholz, Pfalz, den ich mal wieder nicht als Chardonnay erkannt hätte (dass ich jemals Chardonnay erkennen würde, hatte mir Vinoroma eigentlich auch schon ausgetrieben). Ich gackere zwar immer noch ein bisschen über die Kombination Käsename + Grand Cru (hey, es ist Käse!), aber auch dieser Gang hat mich sehr glücklich gemacht. Erstens sah er aus wie ein Kandinsky zum Essen – ich unterstelle der Küche, den Teller mit Geodreiecken rechtwinklig ausgerichtet zu haben –, und zweitens gab es neben den Obststücken ein Früchtebrot, das so dermaßen allen anderen Klötzen dieses Namens, die man zu Weihnachten kriegt, in den Arsch tritt wie es fester kaum geht. Das war quasi nur Luft mit einem Sauerteighauch und Fruchtsüße. SO. GEHT. FRÜCHTEBROT.
(Foto: Thomas Knüwer)
Die Rausschmeißer nach den acht Gängen waren „Erfrischungsstäbchen“, die ähnlich wie die Billovariante schmeckten, aber kunstfertig handgedrechselt aussahen, weswegen Stevan anfing, darüber nachzudenken, wie man die wohl herstellt. „Kaffeesahne karamellisiert“ war ein dekonstruierter Milchkaffee – das Stichwort „Milchmädchen“ fiel; mich erinnerte es an einen mit Gold überzogenen Starbuckssirupkaffee, und ich hätte gerne viel mehr davon gehabt. Der „Energieriegel“ war ein dünnes Segel aus Nüssen, bei dem ich mich fragte, ob die Küchencrew Yoga macht, um so ruhige Hände zu haben, die man braucht, um diesen Hauch zusammenzubauen. Und das „Schokokissen und Kümmel“ war Luft mit würziger Schokolade ummantelt.
Ein letztes Knacken im Mund, ein wehmütiger Blick auf die leergegessenen Platten und ausgetrunkenen Gläser. Zum Abschluss noch ein Espresso und ein Nussbrand, von dem ich mir blöderweise die Marke nicht erfragt habe, denn es war der erste Schnaps, der so mild war, dass er dazu verführt, deutlich mehr als 2 cl davon zu trinken. Wenn ich mich richtig erinnere – und irgendwann war ich, wie beim letzten Mal, nicht mehr fähig, klar zu denken, weil ich in Glückshormonen badete –, haben wir fast fünf Stunden für das Festmahl gebraucht. Ich war danach weder angetrunken noch überfressen, sondern hätte gerne gleich für den nächsten Tag wieder einen Tisch gebucht.
Ehe ihr fragt: mit Trinkgeld 275 Euro. Jeden Cent wert. Logisch.
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Kunst gucken: Neue Pinakothek, München
Ich erwähnte schon einmal kurz meinen Besuch in der Neuen Pinakothek („neue“, gnihihi), aber ich wollte euch noch ein paar meiner Lieblinge ans Herz legen. Für euren Besuch und für meinen nächsten. Die drei Stunden, die ich hatte, waren viel zu wenig bzw. nach einer gewissen Zeit konnte ich eh nicht mehr richtig gucken. In diesem Zusammenhang weise ich auf eine Studie hin, die sich mit dem Museumserlebnis beschäftigt:
„Man muss offenbar nicht unbedingt großes Vorwissen mitbringen, um mit zeitgenössischen Werken etwas anfangen zu können. Das mag viele überraschen, denn immer mal wieder hört man ja, die moderne Kunst sei so furchtbar voraussetzungsreich. Eine Heerschar von Pädagogen lebt eben davon: den Besuchern alle Hintergründe, Absichten, Verweise beizubringen, damit sich ihnen der eigentliche Kunstwert erschließe. Tröndles Studie weist nun die Richtig- und Besserwisser in die Schranken. Die Kunst, so zeigt seine Untersuchung, ist nicht so sehr Kopfsache. Sie ist vor allem eine körperliche Erfahrung.“
(via Christina Brunn auf quote.fm)
Während meines Rundgangs habe ich mir ein paar Werke notiert, ein paar andere mit dem iPhone fotografiert, nur um später zu bemerken, dass nicht nur der Ausstellungskatalog, sondern auch mein Handy alles andere als geeignete Medien sind, um die Bilder wiederzugeben. Binsenweisheit, aber: Wenn man vor einem Bild steht, sieht man es zum ersten Mal.
Zunächst sah ich mir die eine oder andere Berglandschaft an, dann ein Goethe-Porträt, dann kam ein Raum, an dessen vier Wänden jeweils ein Bild hing: ein Ausblick von einem römischen Haus über die Stadt, jeweils aus einer anderen Himmelsrichtung. Ich habe nur den Petersdom wiedererkannt, aber es sah so aus, als ob er auf einer relativ großen, freien Fläche stünde. Gerade mal 150 Jahre her und trotzdem ein ganz anderer Anblick. (Ja, auch ne Binsenweisheit, ich weiß.)
Das erste Bild, vor dem ich länger verweilte, war Karl Friedrich Schinkels „Dom über einer Stadt“. Einerseits blieb ich stehen, weil, ja … weil man gar nicht anders kann als vor diesem Bild stehenzubleiben. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, weil ich das Gefühl hatte, es seit total auf Effekt hin gemalt worden. Aber vielleicht ist mein Gehirn auch zu werbeverseucht und unterstellt überall eine „LOOK AT ME LOOK AT ME“-Mentalität.
Johan Christian Dahl faszinierte mich mit mehreren Bildern: einmal mit dem „Morgen nach einer Sturmnacht“ und zum zweiten „Frederiksholms Kanal in Kopenhagen mit dem Brauhaus Christians IV“. Letzteres, weil es, genau wie Schinkels Bild, Licht effektvoll einsetzt, was sich aber nicht so mitten in die Fresse rein anfühlt. Bei der „Sturmnacht“ mochte ich schlicht die Gestaltung: Der Hauptaugenmerk liegt auf dem weinenden, erschöpften Seemann, der sich an Land retten konnte, während auf der linken Seite, fast schon im Hintergrund, noch das Schiff vom Meer durchgeschüttelt wird.
An den Caspar David Friedrichs bin ich diesmal nicht hängengeblieben, auch wenn ich sie mir brav angeschaut habe (und innerlich dachte, ha, die in Hamburg sind cooler). Dafür zog mich eine Dame unwiderstehlich in ihren Bann: „Bildnis der Fanny Ebers“ von Wilhelm von Schadow.
Ich weiß ja immer noch nicht, von wem Luise stammt oder auch so ganz genau, von wann (wir sind irgendwo zwischen 1840 und 1850). Seitdem Luise bei mir ist, gucke ich Bilder aus der Zeit anders an: Finde ich Kleidung, die der von Luise ähnelt, oder eine Haartracht? Das habe ich bei Fanny zwar nicht gefunden, aber die Wirkung, die dieses Bild auf mich hatte, ist der Wirkung von Luise sehr ähnlich. Ich mochte die Ruhe, die das Bild ausstrahlt, genau wie die vielen feinen Details: der zarte Schal, die Blätter im Hintergrund, die Falten des Gewands.
Nebenbei scheine ich zum von-Schadow-Fan zu werden, denn ich besitze ein Buch, auf dem ein weiteres Bild von ihm auf dem Titel zu sehen ist. Das Buch heißt „Die Kunst des Biedermeier“ (seitdem ahne ich, dass Luise zu jung für ein Biedermeier-Bild ist), und auf dem Titel ist das „Porträt des Felix Schadow“ zu sehen, was mir außerordentlich gut gefällt. Das Buch steht direkt neben meinem Raffael-Wälzer, und ich sehe es jedesmal, wenn ich auf dem Sofa rumlungere. (Während Luise fieserweise hinter mir hängt.)
Das nächste Bild, an dem ich hängenblieb, war August Riedels „Eine Mutter aus Alvito“. Der sehr gute Audioguide erzählte mir etwas von den vielen Deutschen, die sich im 19. Jahrhundert in Italien aufhielten und aus ihren Alltagserlebnissen äußerst romantische Bilder zauberten.
Ich hatte an dem Morgen, als ich in der Neuen Pinakothek war, das zweifelhafte Vergnügen, ein ähnliches Tempo zu haben wie eine französische Schulklasse, die anscheinend zwei Stunden Zeit totschlagen musste. Sie hatten keine Führung, sondern bummelten oder gingen eilig durch die Säle. Mal waren sie vor mir, dann hinter mir, und deswegen gefiel mir jedes Bild, was mich kurz aus dem spöttischen Stimmengewirr rausreißen konnte. Das klappte auch bei Karl Theodor von Piloty sehr gut, denn sein Bild „Seni vor der Leiche Wallensteins“ ist gut drei mal drei Meter groß, weswegen es in einem würdig-großen Raum hängt, in dem man sich etwas besser verteilen kann als in den kleinen Seitenkabinetten. Hier gefiel mir besonders das Licht, das sich nur auf eine Bildhälfte zu konzentrieren scheint sowie so schlaue Details wie der noch rauchende Docht, der uns sagt, dass Wallenstein gerade erst gestorben ist – nachdem er seine Kerze ausgeblasen hatte. Sein Buch liegt noch offen, die eine Seite scheint sich gerade selbst umzublättern, und das Blut aus seiner Wunde läuft noch nicht in Bächen durch die Gegend; noch ein Zeichen, wie wenig Zeit seit dem Mord vergangen ist.
Spätestens bei Wilhelm Leibl war ich endlich allein, denn wie auch in der Hamburger Kunsthalle blieb ich bei seinen Bildern länger stehen. In der Neuen Pinakothek hängen mehrere Bilder von ihm, und ich unterhielt mich am längsten mit dem „Bildnis der Frau Gedon“, die laut Audioguide total davon genervt war, wie lange Old Leibl zum Malen brauchte. Sieht man dem Bild gar nicht so sehr an wie anderen, wie zum Beispiel der „Falknerin“ von Hans Markart, über den die Wikipedia genauso wie der Audioguide eher wenig Schmeichelhaftes zu berichten haben:
„Man spricht vom Makartstil bei der Wohnungseinrichtung des 19. Jahrhunderts, die durch großen Pomp, Plüsch, schwere Wandbehänge, Vertäfelungen und wuchtige Kronleuchter gekennzeichnet ist. Sie erfreute sich beim Wiener Großbürgertum der Gründerzeit großer Beliebtheit. (…) Seine Arbeiten zeichnen sich durch starke Sinnlichkeit und üppiges Pathos aus – allen ist ein Zug ins Theatralische eigen. Sie sind immer wieder als „Farbenrausch“ charakterisiert worden. (…) Nach seinem frühen Tod war das Gefühl allgemein, dass mit ihm eine Epoche zu Ende gehe, und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er für Jahrzehnte fast zur Spottfigur wurde. Er übte allerdings einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf jüngere Maler aus, so etwa auf Gustav Klimt.“
Shoot me, aber mir gefiel die Dame mit dem Vögelchen auf dem Arm. Ja, auch sie war auch deutlich LOOK AT ME LOOK AT ME, aber dieses Mal fand ich es berechtigt, sie anzuhimmeln. (Ergibt keinen Sinn, weiß ich. Ich rede mich mit „Ist Kunst, die darf das“ raus.) Vielleicht macht ein Detail meine Faszination etwas nachvollziehbarer: Der Stoff des Ärmels war fast fühlbar, die Pinselstriche so dicht und dick und plusterig, dass ich gar nicht anders konnte als auf die Effekthascherei reinzufallen.
(In der Neuen Pinakothek darf man übrigens fotografieren, aber nur ohne Blitz. Ja, ich hab gefragt.)
Allmählich wurden die Augen müde, aber einige Bilder habe ich doch noch im Gedächtnis, zum Beispiel „Medea“ von Anselm Feuerbach, wo ein Bild quasi die gesamte Sage erzählt (und wo im Hintergrund ein außergewöhnlich türkises Türkis des Wassers mich fesselte – sieht man im Link natürlich nicht). Oder den „Münchner Biergarten“ von Max Liebermann, vor dem man einen ganzen Tag verbringen kann, so viele Details gibt es zu entdecken. Dafür sollte man Bier dabeihaben. Und schließlich die ganzen Franzosen, Monet, Manet, Degas, Renoir, de Toulouse-Lautrec, Cézanne, Rodin, alle da, alle toll. Wobei ich es schon lustig fand, dass ich vor 20 Jahren Monet am liebsten hatte und ihn heute eher naja finde, während ich Manet gerade neu entdecke und auch feststelle, dass Degas durchaus mehr zu bieten hat als die ollen Ballerinabildchen.
Dann kam van Gogh; ich erzählte bereits. Direkt neben ihm hängen ein paar Gauguins, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann. Und dann ist man quasi schon durch. Die letzten Säle sind schon 20. Jahrhundert und fühlen sich meilenweit weg an vom ersten Saal, in dem ich noch durch romantische Landschaften gepilgert bin, während mich hier die großformatige gelbe Kornlandschaft von (vergessen) blendete.
Im gut bestückten Museumsshop gleich mal den kompletten Katalog erworben zusammen mit einem Buch von Rilke über Rodin und einem biografischen Roman von Jutta Rebmann über Angelika Kauffmann. Von der habe ich zwar nichts gesehen, aber ich komme ja wieder.
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Pretty when I cry
Bei meinem alten Gesangslehrer arbeitete ich mit Kraft. Und Muskeln. Und viel Konzentration. Was toll war. Natürlich. Singen ist immer toll, ganz egal, ob man darüber nachdenkt, was man tut oder nicht.
Bei meiner neuen Lehrerin arbeite ich mit genau dem Gegenteil von Kraft: loslassen. Wo ich mir vorher vorstellte, einen imaginären Raum nach oben zu drücken, um höher singen zu können, stelle ich mir nun vor, alles auf einer Tonhöhe zu singen. Klappt genauso gut (oder an doofen Tagen genauso schlecht) wie die andere Methode. Ich werfe ab und zu physische Hilfsmittel in der Gegend rum, um nach oben zu kommen (ein kleiner gelber Massageball ist mein Sönnchen, und er hilft besonders bei Avril Lavigne), manchmal nutze ich meine Arme, um Töne hinter mich zu werfen, damit ich sie eben nicht so nach vorne kreische, manchmal boxe ich in die Luft vor mir, wenn ich rumkrampfe, wo ich doch „nur“ ein paar hohe Tönchen von mir geben möchte.
Loslassen ist toll. Loslassen ist aber auch anstrengend, weil man viel mehr loslässt als man möchte.
Bei meinem alten Gesangslehrer habe ich viel Technik gelernt. Ich habe sehr auf Zunge und Lippen und Schultern geachtet, wie ich stehe, was mein Zwerchfell macht, mein Rachen, meine Nase.
Bei meiner neuen Lehrerin achte ich auf den Text. Was fies ist, wenn ich über Textzeilen stolpere, die etwas in mir anrühren, was ich irgendwann mal verschüttet habe. Zugedeckt mit Selbstvorwürfen, Kritik von außen, Erziehung, sozialer Konditionierung. Nicht laut sein. Nicht auffallen. Sich keinen Raum zugestehen. Über Schmerzen hinwegarbeiten. Angst verdrängen. Das erste Mal habe ich bei dem Satz „What I did for love“ geheult, als ich den gleichnamigen Song aus „A Chorus Line“ sang. Das konnte ich mir sogar erklären, weil ich zu dem Zeitpunkt mein Herz mal kurzfristig verschenkt hatte, was nicht so toll war, wie es sich anhört, weil mein Herz eigentlich jemand anderem gehört. Die Situation war belastend, der Song ein blöder Auslöser, und so stand ich weinend hinter meinem Notenständer und fand alles ganz fürchterlich.
So fürchterlich ist es aber gar nicht. Es bedeutet, dass ich mich bei meiner Lehrerin sicher genug fühle, um alle Schutzschilde abzuschalten. Singen ist für mich etwas sehr Persönliches, weswegen ich es auch nur für mich mache. Es hat ein bisschen Überwindung gekostet, den Unterricht nochmal zu beginnen, nachdem ich vor Jahren damit aufgehört hatte, aber dieses unangenehme Gefühl hat sich sehr schnell gelegt. Meine Lehrerin erzählte, dass auch sie gerne mal losflennt und dass Anna Netrebko erstmal durch alle Arien durchheult, bevor sie sie singt. Was mich natürlich immer beruhigt, dieses alberne „Das machen andere auch, dann isses okay“.
Gestern hat mich die Zeile „Nothing’s gonna harm you, not while I’m around“ aus „Sweeney Todd“ fertiggemacht. Und diesmal konnte ich nicht mal sagen, warum. Ich habe keine Ahnung, was ich verschüttet habe, warum mich gerade dieser Satz zum Weinen gebracht hat. Aber ich hatte einen fiesen Flashback zu ewig her seienden Therapiezeiten, wo ich mir in der ersten Sitzung eine Karte aus vielen auswählen sollte, die mir entspricht. Meine Wahl fiel auf „Ich will gehalten werden“.
Ich meinte vor einigen Wochen (wahrscheinlich auf Twitter), dass Gesangsunterricht wie Yoga, Workout und Therapie sei. Gestern war’s nur Therapie. Ich kam nicht so überschwenglich gut gelaunt raus wie sonst. Aber dafür hatte ich das Gefühl, etwas in mir berührt zu haben. Etwas aufgescheucht zu haben, was sich in irgendeiner dunklen Ecke verkrochen hatte und nun bereit war, rauszukommen.
Komm ruhig raus. Nothing’s gonna harm you. Not while I’m around.
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Kunst gucken: Kunsthalle Hamburg
Seit Luise über meinem Sofa hängt und von mir jeden Morgen standesgemäß begrüßt wird, will ich in die Hamburger Kunsthalle, die sich einer großen Sammlung des 19. Jahrhunderts rühmt. Letzten Samstag besuchte ich dann endlich Luises Zeitverwandte. Gleich um 10 Uhr bei Öffnung in der Tür zu stehen, scheint eine gute Idee zu sein, denn die meiste Zeit hatte ich die Bilder so ziemlich für mich allein. In den knapp zwei Stunden, die ich in den Räumen zubrachte, begegnete ich gefühlt zehn Menschlein. Schön für mich, schade für die vielen Bilder, die dort einsam herumhängen. Sie hätten weitaus mehr Publikum verdient.
Wie auch in der Alten Pinakothek in München guckte ich mir nicht jedes Bild und jede Skulptur stundenlang an, sondern warf einen schnellen Blick in die Runde und besah mir dann die Bilder, an denen ich hängenblieb, genauer. Das erste befand sich gleich zu Beginn meines Rundgangs: Die Familie Rauter (1836) von Johann Friedrich Dieterich, hier ganz zu sehen, hier mit halbwegs korrekten Farben. Ich empfand sowohl die Gesichter als auch die Anordnung der Figuren als recht modern. Klar, die (keine Ahnung, ob sie wirklich so heißt) patriarchalische Pyramide mit Papa oben und dem Rest da drunter, aber trotzdem. Die lässige Haltung vom Herrn Vater, die den Bildrahmen zu durchdringen scheint, die seitwärts auf dem Stuhl sitzende Gattin, die mich nebenbei total an Terri Hatcher erinnerte, Sohnemann, der gerade zum Trommelschlagen ausholt, anstatt brav irgendwo rumzusitzen und nebenbei noch nicht mal zum Maler guckt, sondern wer weiß wohin – das fand ich alles sehr charmant und nicht ganz so gestellt wie es natürlich trotzdem ist. Das Gesicht des Vaters gefällt mir am besten, was aber auch daran liegt, dass er „echt“ aussieht, während die holde Mutter wahrscheinlich etwas sehr vorteilhaft gemalt wurde und Kindern sowieso ein winziges bisschen das Eigenständige fehlt, was erwachsene Gesichter charakterisiert. Also das, was wir uns heute wegbotoxen lassen: Falten, Lebenslinien, Zeichen, dass wir schon Erfahrungen gesammelt haben. Die sieht man eigentlich nur im Gesicht des Vaters, obwohl ich der Mutter unterstelle, garantiert auch schon ein paar zu haben. (Oder sie ist mit 14 schwanger geworden. Ich brauche mal ein Buch über die Familie Rauter. Wer war das? Gibt’s Nachfahren, die ab und zu dieses Bild besuchen? Wer das war, frage ich mich bei Luise auch fast täglich.)
Danach kam ein Raum, den fast alleine Caspar David Friedrich beanspruchte. Auf ihn hatte ich mich natürlich gefreut, weil ich alte Romantiknase gerne Bilder mit Mondschein und dunklen Tannen und so Zeug mag. Was in der Kunsthalle hängt, hat mich dann aber leider doch nicht so umgehauen – bis auf Das Eismeer und dem Wanderer über dem Nebelmeer fand ich alles recht artig (ich lese gerade Goethe), aber wenn mich der Audioguide nicht vor den Bildern festgehalten hätte, wäre ich etwas zügiger an ihnen vorbeigelaufen. Aber die beiden sind schon sehr großartig. Man fröstelt, wenn man vor ihnen steht.
Gleich nebenan blieb ich dagegen länger stehen (unfröstelnd): bei Arnold Böcklin. Zuerst vor seinem Selbstporträt, dann vor dem Heiligen Hain. Auch hier ist das Internet mit seinen Farben eher doof: Das Gemälde ist weitaus düsterer als im Link. Der Rauch, der vom Opferstein aufsteigt, ist bläulich, und das Bild teilt sich ganz klar in zwei Hälften; die eine, sonnenbeschienene linke, in der Blätter hingetupft an den Bäumen hängen, und die rechte dunkle, in der die Mönche (?) kaum zu erkennen sind, wie sie aus dem Schatten treten. Hinter den dunklen Bäumen wird es schlagartig hell, und ein Tempel oder ein ähnliches Heiligtum ist erkennbar. Das Bild hatte auf mich die gleiche Wirkung wie ein Aufenthalt in einer Kirche, Moschee, Synagoge: eine tiefe Ruhe. Man kann die kultische Handlung nicht wirklich erkennen oder einordnen, aber man nimmt unwillkürlich an ihr teil und empfängt, wenn man will, einen kleinen Segen, indem man vor diesem Bild steht. (Das mag jetzt aber meine christliche Erziehung sein.)
Beim Rumklicken in der Wikipedia entdeckte ich, warum mir der Name Arnold Böcklin so bekannt vorkam: Nach dem Mann wurde eine Schrift benannt, und seine Toteninsel kenne ich als Bühnenbild der Walküre im Jahrhundertring in Bayreuth. (Ich kriege bei solchen Zusammenhängen immer dieses „IT’S ALL CONNECTED“-Illuminati-Gefühl, das betrunken morgens um 4 sehr unangenehm und nüchtern und zu jeder anderen Zeit total faszinierend ist.)
Das nächste Bild, an dem ich hängenblieb: die Atelierwand von Adolph Menzel. Mein erster Gedanke war zugegebenermaßen, oh Jungs, es sind nur Brüste, jetzt beruhigt euch doch mal. Aber nach dem ersten innerlichen Meckern über die übliche Zurschaustellung weiblicher Geschlechtsmerkmale fiel mir auf, wie lebendig der Torso aussieht im Vergleich zu den Gegenständen bzw. Abdrücken um ihn herum. Der männliche Torso ist längst nicht so strahlend im Blickfeld, die vielen Totenmasken (in der unteren Reihe übrigens Schiller und Goethe), die Werkzeuge, der Tierschädel, all das wirkt grau, traurig, staubig, vergessen, verlassen, während der weibliche Torso das meiste Licht bekommt und aufrecht und stolz das Bild beherrscht. (Ich unterstelle Menzel trotzdem mal, dass er einfach gerne Brüste gemalt hat. Machen die ganzen Comicjungs heute ja genauso. Schnarch. In diesem Zusammenhang: Escher Girls. Via @Supatyp.) Das Tolle an der Atelierwand ist allerdings seine Haptik, die das Internet so gar nicht wiedergeben mag. Die flächigen Striche machen das Bild viel lebendiger als es unter dem Link aussieht. Und der Bildausschnitt ist ungewöhnlich: Das Gemälde fängt irgendwo an und hört mittendrin auf anstatt uns ein aufgeräumtes Stillleben zu präsentieren.
Und dann kam meine Neuentdeckung des Tages: Wilhelm Leibl. Ich hatte von dem Mann noch nie etwas gehört, bin aber jetzt gerade dabei, mich mit Ausstellungskatalogen einzudecken. Vor einem Bild stand ich sehr lange herum und bin auch immer wieder auf meinem Rundgang zu ihm zurückgegangen: den Drei Frauen in der Kirche. In der Wikipedia sieht das Bild sehr unspektakulär aus; wenn man davor steht, traut man sich kaum zu atmen, aus Angst, irgendwas würde verrutschen an der feinziselierten Schürze, bei der man verdammt nochmal jede Falte sehen kann. Jeden Stich der Stickerei auf dem Brusttuch der jungen Frau. Jeden Buchstaben im Gebetbuch der mittleren. Jede Maserung im Holz der Kirchenbank. Falten, verschiedene Hauttöne, die silbrigen Borten auf dem blauen Kleid, selbst der verschiedenfarbige Dreck unter den Fingernägeln war zu sehen. Und das ganze nicht fotografisch perfekt und damit im schlimmsten Fall todlangweilig, sondern schlicht unfassbar fein und extrem genau hingeschaut. Ich hätte gerne einen Klappstuhl dabeigehabt und mich eine Stunde nur vor dieses Bild gesetzt. Am liebsten hätte ich es angefasst und wäre mit den Fingern die vielen Details entlanggefahren. Die Wikipedia weiß, dass Leibl vier Jahre an dem Ding gemalt hat, und genau so sieht es aus. Wunderschön.
Auch Leibls zweites Bild Portrait der Rosine Fischler (Gräfin von Treuberg) begeisterte mich: Es ist nicht fertiggestellt worden, weil es der abgebildeten Dame angeblich nicht gefiel (undankbare Zicke. Ich würd’s sofort nehmen und neben Luise hängen). Nur der Kopf und der Bildgrund dahinter sind fertig, der Rest ist noch im Stadium einer Studie, und lustigerweise macht genau das das Bild sehr dynamisch und modern. Trotzdem hätte ich es gerne fertig gesehen, denn der Kopf ist schon genau so feinst ausgearbeitet wie die drei Frauen in der Kirche und längst nicht so idealisiert wie beim Bild der Familie Rauter. Ich ahne, warum die Gräfin es doof fand.
Und dann steht man plötzlich einem Rodin gegenüber, der so gar nichts Plüschiges hat wie die ollen Verliebten vom Kuss, die man schon nicht mehr sehen kann, weil sie so totgekitscht sind. Pierre de Wiessant ist lebensgroß, und wenn man um ihn herumgeht, hat man die ganze Zeit das Gefühl, dass sich gleich sein Arm bewegt und er einem eine reinhaut, weil man ihm so auf die Pelle rückt. Er ist längst nicht so fein wie seine Marmorgeschwister, sondern zäh und buckelig und hart und irgendwie verwackelt und deswegen auch viel lebendiger; durch seine Haltung natürlich auch aggressiver, aber, so albern das klingt, ich war wirklich der Meinung, er müsse sich gleich bewegen, weil er so dermaßen auf dem Sprung aussieht, dass ich unwillkürlich ein bisschen Abstand zu ihm gehalten habe.
Der Kopf war langsam, aber sicher voll, eine Menge Landschaften, an denen ich vorüberschlenderte, ein Monet, ein paar Manets und Degas’, immer wieder dieses „Ach, von dem haben wir auch was hier? Toll“, das größte Gemälde, das ich je sah (und das mich total langweilte) – Der Einzug Kaiser Karls V. in Antwerpen – und dann stand da eine weitere Skulptur, ganz anders als der Rodin’sche Pierre: die Petit Venus Debout von Renoir. Das Ding macht einfach glücklich, gerade wenn man sich eine Stunde vorher über Herrn Menzel aufgeregt hat. Eine kleine, dicke Statue, eine lächelnde Frau (sieht man so gar nicht im Link, aber ich finde kein besseres Bild) auf einem Sockel und eine lächelnde Frau davor, die sich nicht traut, das iPhone zu zücken, um die Venus zu fotografieren. Machte meinen Tag.
Durch die Seitenkabinette bin ich eher im Schnelldurchgang gehuscht; dort fielen mir eher Details als ganze Bilder auf. Hier eine Straßenszene mit einem Schildermaler, bei dem ich das Kopfsteinpflaster und die schiefe Eingangstür seiner Werkstatt näher betrachtete, dort ein Bild mit dem Titel Der Feldweg – und genau das war dann auch zu sehen: ein belangloser, beigefarbener Feldweg, der irgendwo im Wald endete, kleinformatig, unspannend. Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.
Nach knapp zwei Stunden im 19. Jahrhundert steckte ich noch den Kopf zu den Alten Meistern, aber das 16. Jahrhundert ist dann doch ein ziemliches Kontrastprogramm. Ein letzter Gang zu den drei Frauen in der Kirchenbank, und dann wieder nach Hause. Die Alten Meister kommen das nächste Mal dran.
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Nebenbei: Ich habe keine einzige Malerin entdeckt. Ja, sign of the times, ich weiß. Trotzdem. Hätte mich schon interessiert, wie die Damen diese Zeitspanne abgebildet hätten. (Hier den üblichen feministischen Seufzer vorstellen.)
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Oscars 2012
Ich lungere seit Stunden vor dem Rechner rum, kippe Sekt und hole den Serienkonsum der letzten beiden Wochen nach – und dafür habe ich so gut wie keinen der nominierten Filme gesehen. Egal. Erstmal Kleider gucken. Netterweise hat die NYT eine ständig aktualisierte Galerie, und noch habe ich kein Kleid gesehen, das ich eher bäh fand. Ganz im Gegenteil.
1.46 Uhr. Jean Dujardin charmiert die ABC-Dame. Reicht anscheinend, französisch zu sprechen und Handküsse zu verteilen. (Ja, reicht. Swooon.)
1.48. Farbe des Abends ist violett. Oder knallrot. Oder blau. Oder weiß. Huh. Noch nix Schwarzes gesehen. Dann scheint der Golfkrieg ja jetzt durch zu sein.
1.51. Jennifer Lopez in silbrigweiß mit Nipslipgefahr. Passt aber zu den 1.000 Artist-Nominierungen – sieht ein bisschen nach Stummfilmstar aus. Schick.
1.53. Nick Nolte sieht, laut Rotten Tomatoes aus, als ob er mit ZZ Top getourt sei. Meiner Meinung nach klingt er auch so und hat sich dabei sein Hirn rausgeschlumpft.
1.58. Passt ja, dass nach der billigen Erotikwerbung auf Pro7 die eklig getextete Alfa-Romeo-Giulietta-Werbung kommt.
2.00. Bisherige Favoriten: Tina Fey in dunkelblau, Glenn Close in dunkelgrün, Gwyneth Paltrow in schneeweiß, Penelope Cruz in rauchblau, Emma Stone in kirschrot, alle sehr schlicht und ohne großen Firlefanz. Wunderschön.
2.06. Jetzt, wo ich die ganze Glenn Close sehe: Da ist ne Menge Kleid unten am Kleid. Hm. Hat ein bisschen was von Katamari.
2.07. „Die Gewinnernamen spielen ja bei der Verleihung eine große Rolle.“ Pro7, Idiotenfernsehen at its best.
2.11. Brad Pitt trägt seinen A River runs through it-Look von 199x. Damit kann ich hervorragend leben.
2.13. Yay, Sandra Bullock. Wie immer großartig, elegant, wundervoll, unterhaltsam und überhaupt. Ich will sie heiraten. Seit Jahren.
2.15. Ah, da ist das erste schwarze Kleid. An Angelina Jolie. Hach.
2.20. Hihi, die Menschen im Kodak Theater, die auf ihren Smartphones rumtippen. Stars! They’re just like us!
2.22. Tom Hanks führt uns backstage rum und behauptet, kein Oscargewinner könne sich an den Abend erinnern. Natalie Portman hat fünf Minuten vorher genau das gleiche erzählt. Ich glaube den beiden Schnuffis mal.
2.30. And we’re off. Morgan Freeman begrüßt uns: “We are all mesmerized by the glory of the movies.”
2.31. Die übliche Montage aus den nominierten Filmen – natürlich mit Billy Crystal, unserem Gastgeber. Großartiger Ãœbergang von The Help zu Bridesmaids. Hat was mit Nummer 2 zu tun (“Don’t eat the pie!”). Der Clip endet mit einem Wort: “Showtime”, und dann ist Billy da. (Keine Standing Ovation? Ich bin enttäuscht.)
2.36. “The movies have always been there for us, in good times and bad. Because nothing takes us better through tough economic times than watching billionaires giving out golden statuettes.” Und hier kommt Crystals signature move: “It’s a wonderful time for Oscar …” Allerdings kürzer als sonst, denn wir müssen neun Filme musikalisch verwursten. “Nine is the new five!” Haut mich jetzt nicht so um. (Ich glaube, ich habe mich zu sehr auf Crystal gefreut. Aber warten wir es ab.)
2.41. Tom Hanks beginnt die lustige Statuettenausgabe, aber stellt zuerst einmal Carl Irgendwas vor, der seit 59 Jahren seat filler ist, wenn die Stars auf dem Klo oder backstage sind. Hach! Jetzt wird’s aber ernst. Der Oscar für Cinematography geht an Robert Richardson für Hugo. (Bei beiden Tippspielen daneben gehauen.) Gandalf hält eine kurze, freundliche Rede. Tom Hanks vergibt gleich noch Art Direction … ebenfalls an Hugo: Dante Ferretti (Production Design); Francesca Lo Schiavo (Set Decoration). (Bei einem Tippspiel richtig getippt.) Da bahnen sich ne Runde Trost-Oscars an, weil Hugo aller Voraussicht nach weder den besten Film noch die beste Regie kriegen wird. Ferretti liest mit starkem italienischem Akzent seine Rede ab, während Francesca mit dem gleichen Akzent ganz simpel Oskarchen hochhält: “This is for Italy.”
2.44. Oh, ich dachte, das wär schon wieder Erotikwerbung. Ist aber der Trailer für Germany’s Next Top Model.
2.50. Crystal redet über die alten Kinopaläste. “Now people watch movies on their phones! Give me back me big screen – my iPad!” Danach einer der herrlichen Einspieler mit klassischen Filmszenen, die man auf großer Leinwand gesehen haben sollte. Von “We’re gonna need a bigger boat” über „Life is a box of chocolates” bis „Phone home“.
2.52. Oscar like it’s 1999. I like!
2.53. Jennifer Lopez und Cameron Diaz können in ihren engen Kleidern kaum laufen, schaffen es aber doch bis zum Mikro und vergeben den Oscar für die Kostüme an Mark Bridges für The Artist. Crew, Produzenten, I was just a kid from vergessen, thank you for making a life-long dream come true. Jajaja.
2.56. Und gleich Make-up hinterher. Zwei der Schauspieler aus Harry Potter fassen es gut zusammen: “The magic begins every morning in the make-up chair. … It’s fascinating to look into the mirror and see nothing of you there.” Der Oscar geht an Mark Coulier und J. Roy Helland für The Iron Lady. Roy bedankt sich bei Meryl, die ihn die letzten sieben Jahren beschäftigt hat. Wieder ein wahrgewordener Traum (drinking game?).
3.00. Montage von Schauspieler_innen, die von ihren ersten Filmen erzählen, den sie gesehen haben, die ihre Fantasie anregten, sie beeinflussten. Ja, wegen solcher Montagen dauert die Show sehr, sehr lange, aber genau deshalb mag ich sie. Wir feiern Filme. Dann lasst sie uns auch richtig feiern.
3.05. Meine Zukünftige Sandra Bullock vergibt den besten ausländischen Film. Angeblich auf Chinesisch, aber in Wirklichkeit auf Deutsch. “My Chinese has a slight German accent.“ Der Oscar geht an A Separation aus dem Iran; der erste iranische Film, der diese Auszeichnung erhält. Der Regisseur balanciert das Kuvert, den Oscar, redet schon lustig drauflos und faltet nebenbei die Rede auf DIN-A4 auf. “This is for my country, and a culture that despises hostility and resentment.”
3.09. “Please welcome – beware, you’re in his eye-line – Academy Award winner Christian Bale.” Immer noch mit seinem doofen Bart und mit Batman-Score auf die Bühne begleitet. Er vergibt den Oscar für die beste weibliche Nebenrolle an Octavia Spencer für The Help. Erwartet. Ich hätte ja gerne Melissa McCarthy gesehen, weil sie so schön gegen den Strich gebürstet gespielt hat, aber Octavia ist natürlich auch toll. Standing Ovation, und jetzt muss sie doch ein bisschen heulen. “Thank you to the Academy for the hottest guy in the room …” 1.000 Namen, ein paar Tränen, noch mehr Namen … “Please, wrap me up, I’m freaking out.” Niedlich.
3.18. Einspieler mit einer angeblichen Fokusgruppe von 1939, die The Wizard of Oz gesehen haben. Ziemlich schnarchig, bis auf “I didn’t like the rainbow song.”
3.22. Bradley Cooper und Tina Fey vergeben Film Editing an Kirk Baxter und Angus Wall für The Girl with the Dragon Tattoo, die letztes Jahr schon den Oscar für The Social Network bekommen haben. Die beiden stottern ein bisschen rum, vermissen Fincher und verabschieden sich dann selbstkritisch: “Let’s get out of here, we’re editors.”
3.25. Gleich noch Sound Editing hinterher. Der Oscar geht an Philip Stockton und Eugene Gearty für Hugo. Der eine redet, geht dann aus dem Bild, dann redet der andere, alles sehr unaufgeregt. Die Technikfredis halt.
3.27. Und noch einer: Sound Mixing. Auch an Hugo, genauer Tom Fleischman und John Midgley. Vielleicht sollte ich mir den Film doch mal angucken. Ach schön, endlich mal ein Mann, der ein bisschen flennig drauf ist. (Einer von den beiden, keine Ahnung wer.)
3.30. Meine anfängliche Begeisterung kippt gerade etwas in: „Kann Billy noch einen zweiten Witz machen, der witzig ist?“
3.33. Kermit und Miss Piggy! Endlich! Leider dürfen sie nicht wild flirten, sondern müssen den Cirque du Soleil anmoderieren, der den Zauber von Filmen visualisieren darf. Okay, das ist jetzt endgültig 1999. Wenn ich irgendwas überhaupt nicht vermisse, sind das die peinlichen Tanzeinlagen von früher. Das hier ist nicht viel besser. (Standing Ovations. Ist euch so langweilig?) Crystal: “I pulled a hamstring just watching that.”
3.40. Crystal: “Age doesn’t matter. Look at the nominees. Max von Sydow. Christopher Plummer. He is 82 and still making movies. When my grandfather was 82, we didn’t let him go to the movies.”
3.41. Gwyneth Paltrow auf der Bühne. Robert Downey Jr. kommt mit Steadycam-Begleitung hinterher. “I’m filming a documentary called ‘The Presenter'”. Schrecklicher, gescripteter Quatsch. Verschenkt. Documentary Feature geht an TJ Martin, Dan Lindsay und Richard Middlemas für Undefeated. Huch, da stehen plötzlich fünf junge Herren auf der Bühne. “Last year, we sat in our editing room and someone said, hey, next year, you’ll be at the Oscars. And we said, you’re an idiot. We like to apologize and say, you’re way smarter than we.” 1.000 Namen und schon wird das Mikro abgedreht.
3.44. Chris Rock macht sich über die angeblich harte Arbeit von Stimmen in Animationsfilmen lustig. Hätte ich nicht gedacht, dass ich mal über Chris Rock lache, aber ja. Best Animated Feature geht an Rango. Regisseur Gore Verbinski: “Someone asked if this was a movie for kids. I don’t know but it was certainly created by a bunch of grown-ups acting like children.”
3.51. Ben Stiller und Emma Stone erlösen uns von einem peinlichen Sketch mit Billy und meiner geliebten Melissa McCarthy. Emma hysterisch: “This is my first time presenting an award.” Stiller, deadpan: “I know. … You don’t want to try too hard, kid.” — “Like the guy who dressed up as a character in Avatar?” Schöner Sketch, look it up on YouTube. Sie vergeben Visual Effects an … schnarch … Rob Legato, Joss Williams, Ben Grossman und Alex Henning, Hugo. I’m bored now.
3.57. Melissa Leo vergibt den Oscar für die beste männliche Nebenrolle. Ist mir dieses Jahr sehr egal, die Kategorie. Der Gewinner ist Christopher Plummer für Beginners. Standing Ovations. Er redet mit dem Oscar: “You’re only two years older than me – where have you been all my life?” Er bedankt sich für die gute Gesellschaft in seiner Kategorie, beim Regisseur uswusf, aber alles so gentlemen-like und wohlfeil formuliert, dass ich ihm gerne noch länger zugehört hätte.
4.07. Hehe, auch Billy wechselt seine Klamotten, nicht nur die weiblichen Gastgeberinnen. Jetzt in ziemlich schwarz. Ein weiterer Crystal-Klassiker: ins Publikum zoomen und einfach losquatschen. Ist okay lustig, wie bei Morgen Freeman, wo er diesen fürchterlichen Pinguinfilm zitiert. Oder bei Brad Pitt: “I hope this doesn’t run too long, I’ve got six parent-teacher conferences in the morning.” Danach die obligatorische kurze und stets schnarchige Rede des Präsidenten der Academy. “Thank you, Tom – and thank you for whipping the audience in a frenzy.”
4.12. Penelope Cruz und Owen „Hachseufz“ Wilson vergeben Original Score an Ludovic Bource für The Artist. Fieser französischer Akzent. Isch verschtähe serrr schlescht. “Please accept me because I have so much love to give.” Uuuuh.
4.16. Will Ferrell und Zack Galifianakis in weißen Smokings und mit Becken marschieren krachend ein und moderieren Best Song an. “The winner will join the ranks of Moon River, Somewhere over the Rainbow, White Christmas and It’s hard out here for a pimp.” Der Gewinner aus den zwei nominierten Songs ist Man or Muppet von Bret McKenzie (yay, Flight of the Conchords!) “Once you get to know Kermit, he’s just a regular frog. And like many people here tonight, he is a lot shorter than on screen.”
4.24. “Please welcome the original girl with the dragon tattoo, Angelina Jolie.” Uh. Bein explizit raus aus dem Kleid. Du musst da nicht so beknackt stehen, Kind. We know you’re pretty. Sie vergibt Best Adapted Screenplay an Alexander Payne, Nat Faxon und Jim Rash für The Descendants. Payne: “My mother is here from Oklahoma, and after my first Oscar she said, if you ever win one again, you have to dedicate it to me just like Javier Bardem did. So, Mum: This one’s for you.”
4.29. Gleich noch Best Original Screenplay hinterher. Der Oscar geht an Woody Allen für Midnight in Paris, und der Typ ist wie immer nicht da. Neue Regel: Wer nicht kommt, kriegt keinen Preis. (Wunschdenken.)
4.36. Milla Jovovich in herrlichem Glitzersilberweiß mit dramatischer Intonation. Geht aber „nur“ um die Technical Awards.
4.37. Die sechs Hauptdarstellerinnen der Bridesmaids marschieren ein. Sehr schön. Sie reden über Filme, meinen aber Kerle oder ihre besten Stücke, und es ist genauso fremdschämig wie der ganze Film. Sie vergeben Short Film (Live Action) an Terry George und Oorlagh George für The Shore. Oorlagh ist eine Dame, hat einen tollen Namen und ein wunderschönes blaues Kleid, das ihre üppigen Formen umhüllt. Haben wollen. Und sie widmet ihren Oscar ganz freiwillig ihrer Mama.
Melissa McCarthy und irgendwer vergeben Documentary Short – aber erst, nachdem sie Flachmänner aus ihren Dekolletes gezogen haben, denn sie spielen das Drinking Game „Scorsese“. Der Oscar geht an Saving Face von Daniel Junge und Sharmeen Obaid-Chinoy. Die beiden widmen die Statue allen Frauen in Pakistan, die sich für Wandel und Fortschritt einsetzen. (in Saving Face geht es um Säureattacken auf Frauen.)
Der letzte der Oscar dieser Runde geht raus für Short Film (Animated); Gewinner ist The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore von William Joyce und Brandon Oldenburg. Richtig getippt. Kein Wunder bei dem Titel.
4.50. “Our next presenter was occupying Wall Street before it was cool. Please welcome Michael Douglas.” Der Herr erklärt erstmal, was ein Regisseur so macht (Regisseurinnen gibt’s dieses Jahr mal wieder nicht, hatten wir ja auch grad erst, reicht dann auch) … “visionary blablabla” … Der Oscar geht erwartungsgemäß an Michel Hazanivicus für The Artist. “Yes! I have an Oscar! … I forgot my speech. … (1.000 Namen) I want to thank the financier, the crazy person who put money into this movie.” Och jo.
4.55. “Meryl Streep has been nominated for 17 times and won twice. So for 14 times she had to sit there and watch someone else be happy. Alone for that she deserves another Oscar.” Meryl erzählt ein bisschen über den Governor’s Award, wo James Earl Jones, Oprah Winfrey und Dick Smith ausgezeichnet wurden.
5.02. The death montage, begleitet von What a wonderful world. Bei den Damen steht auch „actor“ statt „actress“. Steve Jobs ist dabei als visionary, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, anstatt als Pixar-Angestellter. Wir enden mit Elizabeth Taylor. Früher wurde durch die Montage durchgeklatscht, jetzt warten alle, bis sie vorbei ist. Naja.
5.11. Der vierte Teil der movie memories. Crystal: “I never had any of those feelings.” Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren zwischen den Legionen von Kerlen gerade drei Frauen: Reese Witherspoon, Julia Robert und Gabourey Sidibe. Wir gehen auch ins Kino, you know?
5.13. Natalie Portman kommt zu Schwanensee auf die Bühne und vergibt – natürlich – den Oscar für den besten Hauptdarsteller. Ich mag das gerne, dass die Presenter in den letzten Jahren immer eine kleine Lobhudelei an die Nominierten loslassen. Natalie spricht zwar hübsch auswendig gelernt, aber ich mag es trotzdem. Ich hätte gerne Brad Pitt, aber es wird (erwartungsgemäß) Jean Dujardin für The Artist. Bevor er die Rede zückt, sorgt er für gutes Klima: “I love your country.” Er erzählt ein bisschen was von der ersten Oscar-Verleihung, die von Douglas Fairbanks moderiert wurde, und endet mit gequietschen Freudenschreien auf franzackig. Boobs Radley twittert: “Thanks for my new roller derby name, Douglas Fairbonks.” Und Andrian Kreye (@akreye): “Best actor für Jean Dujardin?! Ab morgen heißen die Fritten in Hollywood wieder Freedom Fries.”
5.24. Colin Firth wird mit Beethoven begrüßt und vergibt den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle. “Meryl. Mamma Mia. We were in Greece, I was gay, and we were happy.” Und sie kriegt ihn. (Eine winzige Ãœberraschung, ich dachte, Viola Davis wäre hier fest eingeplant gewesen.) Standing Ovation. “When I heard my name I thought I heard half of America saying, oh no, not her. Again. But … whatever. Ha.”
5.32. Ächz. Tom Cruise. Er präsentiert die neun nominierten Filme und vergibt den Oscar für den besten von ihnen an (näh! echt? TOTAL SURPRISE!) The Artist.
Hm. Im Laufe des Abends musste ich öfter an den Spruch denken “Don’t wish too hard – it may come true.” Crystal war charmant und bemüht und freundlich, aber es hat sich leider so angefühlt, als wäre es irgendwann in den 90ern. Und was damals schön war, ist heute eben eher angestaubt. Schade. Ich hatte mich sehr auf den Mann gefreut. Nun gut. Dann eben wieder irgendein neues Gesicht im nächsten Jahr. See you then.
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Newbies entneuen
Vor einiger Zeit lud ich Frau Lu ein, mit mir in die Oper zu gehen. Natürlich in Puccinis Turandot, denn das ist die Oper, mit der ich alle und jeden überzeugen will, dieser Kunstform eine Chance zu geben.
Ich mag an Turandot, dass alles auf der Bühne bzw. im Orchestergraben passiert, was ich persönlich so toll an Opern finde: Bombastklänge, die sich mit ganz zarten Stellen abwechseln. Massive Chöre versus einzelne Arien, wovon die bekannteste natürlich Nessun dorma ist. Und obwohl ich sonst eine Aversion gegen diese Mitsinglieder habe (deswegen mag ich Wagner so gerne) – für Anfänger_innen ist das ganz praktisch, wenigstens ein Stück zu haben, das sie vielleicht schon mal gehört haben. (Behaupte ich mal. Noch hat niemand widersprochen.) Außerdem im Angebot: komische Figuren wie Ping, Pang und Pong versus tragische wie Liù und natürlich eine Story, die viel zu groß ist für das wahre Leben, weswegen sie auf eine Opernbühne gehört. Vom feministischen Standpunkt darf man sich so gut wie keine Oper angucken, daher blende ich die wahlweise kreuzdummen und/oder opferbereiten Frauenfiguren immer aus und konzentriere mich auf ihre Melodien anstatt ihre Texte. Genau wie ich bei Krieg und Frieden nölig überlese, dass auch hier Frauen kleine Hohlbirnen sind, während die Männerwelt das große Drama kriegt. Mein Mantra: Das waren andere Zeiten, da muss ich jetzt durch. Wäre aber trotzdem mal schön, eine moderne Oper mit guten Frauenfiguren zu kriegen.
(Zu diesem Thema gibt’s übrigens ein Buch, das ich aber noch nicht gelesen habe. Wahrscheinlich gibt’s sogar dutzende, aber das hier rennt mir immer über den Weg, wenn ich in diese Richtung rumgoogele.)
Zurück zu Lu und ihrem ersten Opernbesuch. Wenn ich ihren Blogeintrag richtig deute, hat es ihr gefallen, was mich persönlich sehr gefreut hat. Nichts ist schlimmer als jemanden nach zwei, drei Stunden wieder ans Tageslicht zu zerren und zu hören: „Uh, da gehe ich nie wieder hin.“ Sowas hatte ich nämlich auch mal, was ich aber sowohl auf die Starrköpfigkeit meines damaligen Kumpels als auch auf die Stückauswahl zurückführe.
Damals gab es den kompletten Ring in Hannover, und ich bequietsche wieder Hinz und Kunz, doch mal mitzukommen. Heute weiß ich: Wagner mag als Einstiegsdroge funktionieren (meine erste Oper war Siegfried), aber nicht bei jedem. Besagter Kumpel meldete sich todesmutig fürs Rheingold, und ich warnte sofort: „Das ist die sperrigste Oper von den vieren, und es ist eher eine Exposition als ein abgeschlossenes Stück, und eigentlich guckt man das auch nur, weil man die anderen drei eben auch guckt, und außerdem hat es keine Pause, in der man notfalls gehen kann.“ Hat alles nichts genutzt, mein Kumpel kaufte sich eine Karte. Meine Warnungen gingen weiter: „Lies dir den Inhalt durch. Wagner kapiert kein Mensch ohne Sekundärliteratur.“ Damals waren Übertitel noch nicht so gang und gebe, wie sie es heute glücklicherweise sind, weswegen man eben schlicht wissen musste, wer diese seltsamen Wesen da vorne sind und über was sie singen, denn den Text versteht man meist auch nicht. Das weiß man alles, wenn man schon mal in der Oper war, weswegen ich auch nicht müde wurde, es meinem Kumpel zu erzählen, aber er brachte den Krachersatz: „Ich möchte das alles unvoreingenommen auf mich wirken lassen.“
Ich erzählte ihm immerhin vor der Vorstellung noch flugs den Inhalt, den ich mir mal wieder anlesen musste – ich habe den Ring mindestens schon fünfmal komplett gesehen und vergesse trotzdem immer wieder, wer nun mit wem warum und was –, aber nach zweieinhalb Stunden hatte ich ein Häufchen genervtes Elend neben mir, das den zweiten Krachersatz brachte, den ich ihm bis heute übel nehme: „Ich fühle mich wie vergewaltigt.“
UND ICH SAG NOCH, NIMM NE ANDERE OPER, ABER DU …
*seufz*
Ich habe mit dem Mann keinen Kontakt mehr, aber ich bin ziemlich sicher, dass er nicht unbedingt zu einem Opernfan wurde.
Am Sonntag saß ich mit zwei charmanten Damen in der Laeiszhalle, wo die Hamburger Symphoniker neben Auszügen aus Strawinskys Apollon musagète eine Runde Götterdämmerung gaben. Wenn ich richtig zugehört habe, war es die Ouvertüre mit ein bisschen Krimskrams und dann als Rausschmeißer den Schlussgesang der Brünnhilde, die 15 Minuten lang von der Welt Abschied nimmt, die dann auch brav in Flammen aufgeht.
Das Tolle an der Götterdämmerung ist, dass sich in ihr all die vielen Leitmotive wiederfinden, die man drei Opern lang gelernt hat. Das Rheingold, die Rheintöchter, Mime, Siegfried, dessen Schwert Nothung, Wotan, dessen Speer, die Walküren natürlich (das Motiv sollte jeder erkennen), Walhall, der Walkürenfelsen und so weiter und so schön. So hangelt sich das Stück gefühlt an all diesen Motiven entlang, die ich natürlich kannte – und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie sich die Musik für jemanden anfühlt, der nichts davon erkennt (bis auf die Walküren). Ich bin fast ein bisschen neidisch auf die Menschen, die noch nie in der Oper waren, weil sie noch so viel zu entdecken und zu erfühlen haben, was für mich schon fast normal ist. Wenn man sich auf diese überkandidelte, hochemotionale Kunstform einlassen will, belohnt sie meiner Meinung nach mehr als jede Sinfonie. Deswegen war ich sehr auf das Urteil meiner Begleitung gespannt.
Dame 1 meinte, Oper wäre schlicht nicht ihr Ding, Opernstimmen empfände sie als anstrengend (absolut berechtigte Kritik), und daher hätte ihr Strawinsky besser gefallen. Dame 2 dagegen hatte diesen Gesichtsausdruck, den ich auch von mir kenne: dieses leicht fassungslos-faszinierte „Was war das denn? Und wo war das mein ganzes Leben lang?“ Ich behaupte, die Welt ist ein bisschen anders, wenn einen ein Film mitnimmt oder eben eine Oper; man stolpert in die Realität, die sich ein bisschen zu grau anfühlt, während eben alles noch gold war. Und – ja, Fangirlgequatsche – Wagner ist für mich einfach der Meister im „Was war das denn?“-Erzeugen, denn seine Musik ist für mich schlicht einzigartig. Beim ersten Mal wahrscheinlich unbegreifbar, aber deshalb nicht weniger unwiderstehlich. Jedenfalls hat die Dame den bisher besten Satz gesagt, den ich mit Newbies hatte: „Das würde ich mir auch fünf Stunden lang anhören.“
Damit habe ich endlich eine Begleitung für Wagner in Hamburg gefunden. In dieser Spielzeit hätten wir noch den Holländer, Tristan und Isolde, Parsifal und den kompletten Ring im Angebot.
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Auswärtsspiel: Hamburger SV – FC Bayern München 1:1
Seit Wochenanfang fielen die Temperaturen; am Samstag hatten sie zwischenzeitlich minus 9 Grad erreicht. Aber gegen sowas wurde ja der Zwiebellook erfunden. Als ich mich Samstag nachmittag einzwiebelte, musste ich allerdings fünf Minuten später die Wohnung verlassen, sonst wäre ich an Hitzschlag gestorben.
Nach dem letzten Stadionbesuch im November (FCB – Villarreal in der Allianz-Arena, die ich beharrlich mit Bindestrich schreibe) war mir klar: Ich brauche eine Winterjacke. Seit ich meine Kleidung selber kaufe und mir nicht mehr von Mama aufs Bett legen lasse, habe ich keine Winterjacke gehabt. Meistens beschränkte sich mein Winter auf die kurzen Wegstrecken von Auto zu Supermarkt/Arbeitsstelle/irgendwas, und diese wenigen Meter ließen sich auch mit Longsleeve, T-Shirt, Wollpulli und Hoodie bewältigen. Seit ungefähr einem Jahr fahre ich aber überhaupt kein Auto mehr, weswegen ich im letzten Winter (und in diesem nochmal, weil anscheinend abgenommen, ts) eine dickere Jacke kaufte. Endlich kein Schlumpfhoodie mehr, sondern irgendwas, das man so allgemein als „weiblich“ bezeichnet. Die neue Jacke reicht locker, um vom Bus zur Arbeitsstelle zu wandern, aber wie ich im November merkte, reicht sie überhaupt nicht, um bei knapp über null Grad zwei Stunden bewegungslos in einem Stadion zu sitzen. Deswegen ging ich einen Tag nach dem Spiel auf dem Weg zum Terminal 2/Flughafen MUC nochmal einkaufen und erwarb im Fanshop das hier. (Für Vereinsmitglieder gibt’s übrigens Rabatt.) Die Jacke ist zwar alles andere als das, was man so allgemein als „weiblich“ bezeichnet, aber dafür ist sie oh dear God so unglaublich warm. Was an Nicht-Spieltagen im Bus zur Arbeit eher doof ist, aber wie ich Samstag in der Imtech-Arena merkte, ganz, ganz großartig.
Unter der Jacke trug ich ein rotes Longsleeve, ein rotes Shirt und das Gomez-Trikot, unter meiner Jeans zwei Paar Leggings, in meinen gefütterten Schuhen steckten drei Paar Socken. Bayern-Schal um den Hals, Decke, Handschuhe und Mütze im Rucksack. Derartig ausstaffiert wankte ich zum Bus, der mich zur S-Bahn brachte, die mich wiederum mit vielen, vielen weiteren Michelinmännchen zur Arena chauffierte. Oder zumindest bis nach Stellingen, von wo man noch 15 Minuten Fußmarsch vor sich hat, wenn man den Shuttlebus nicht nutzen will. Was @derkutter und ich nicht wollten, weil wir uns vor dem zweistündigen Rumsitzen noch ein bisschen aufwärmen wollten.
Die S-Bahn-Fahrt fand ich schon sehr spaßig, denn mein Wagen war jeweils zur Hälfte mit rot- und blau gekleideten Menschen gefüllt, die sich gut gelaunt Schlachtengesänge um die Ohren brüllten. Die HSV-Fans hatten allerdings eine Killerline in petto, zu der den Bayern-Fans nichts mehr einfiel. Mir eh nicht, ich musste zu laut lachen.
„Hier – regiert – der HSV!“
„Wir hol’n die Meisterschaft … und den Pokal …“
„Ihr seid nur Norditaliener, ihr seid nur Norditaliener …“
„Deutscher Meister wird nur der FCB, nur der FCB, nur der FCB!“
„Wir – ham – ne – Bär-chen-dek-ke!“
Ein freundlicher Bayern-Fan fragte mich nach meiner Jacke, ein anderer meinte, er käme gerade aus dem Hofbräuhaus, wo man mit dem Fanclub in entspannter Runde TV-Übertragungen gucken könnte (Mitglied der Facebook-Gruppe bin ich immerhin, aber zum Fanclub-Beitritt hat es noch nicht gereicht) – also eine angenehme Hinfahrt.
Frau Pleitegeiger hatte mir freundlicherweise zwei Tickets besorgt; meine einzige Bitte war: möglichst nah am Gästeblock. Hat geklappt, wir saßen in 12B, wobei Herr Kutter als 96-Fan darauf bestand, den Sitz zu kriegen, der weiter weg von UNS war. Sein Glück, denn das Pärchen neben ihm gab das ganze Spiel lang keinen Mucks von sich. Sie trugen auch keine Schals und jubelten weder beim Tor für den HSV noch für UNSEREN Ausgleich, weswegen wir uns nach dem Spiel fragten, ob sie überhaupt irgendwem die Daumen gedrückt hatten oder einfach nur mal bei Minusgraden in einer Arena sitzen wollten.
(sorry für unscharf)
Die beiden Jungs auf meiner Seite waren dagegen eindeutig dem HSV zuzuordnen. Darunter mussten die beiden älteren Herren direkt vor uns ziemlich leiden, die als Bayern-Fans zu erkennen waren. Nach dem Führungstreffer für die ollen Hamburger brüllten die beiden Schlachtrufe in einer Tour, wobei sie sich immer schön weit nach vorne beugten, um den beiden Bayern-Fans quasi direkt in die Ohren zu schreien. Der genervten Bitte, das sein zu lassen, wurde nicht nachgekommen, aber immerhin gab es etwas, was die beiden kurz vom Brüllen ablenkte: Bier.
Der Typ neben mir balancierte schon beim Reinkommen Bratwurst und Bier so dusselig, dass meine schöne, schwarze Kuscheldecke erstmal mit Ketchup und Gerstensaft getauft wurde. Egal, kann man waschen, dachte ich noch. Der Typ war aber entweder so blöd oder er hatte schon vor dem Spiel getankt, dass er seinen vor sich auf den Boden abgestellten Bierbecher in schöner Regelmäßigkeit umstieß. Was zur Folge hatte, dass ich irgendwann meinen Rucksack zwischen die Knie klemmte, die Decke nicht mehr bis zum Boden hängen ließ und meine Füße es sich in einer Eispfütze aus Bier bequem machen mussten. (Zu diesem Zeitpunkt verfluchte ich meine Memmigkeit, nicht doch die Zehenwärmer ausprobiert zu haben, die ich als Weihnachtsgeschenk bekommen hatte.) Nebenwirkung des stets leeren Bierbechers: Honk musste sich alle zehn Minuten einen vollen organisieren. Das waren die einzigen Zeiten, in denen die Kerle in der Reihe vor mir Ruhe hatten, denn es dauerte netterweise immer so gut zehn Minuten, bis der Depp wieder da war, ein paar Schlucke trank, die Bayernfans anbrüllte, noch was trank, den Becher vor sich abstellte und ihn fünf Minuten später wieder umtrat.
Nach dem Ausgleich hatten die Herren vor uns immerhin Ruhe vor Honk, der aber inzwischen so blau war (oder eben über eine gewisse Grundbräsigkeit verfügte), dass er auch bei „Steht aaaauf, wenn ihr Bayern seid“ aufsprang und mitsang, was ihn mir wieder kurzfristig sympathisch machte. Überhaupt Gesänge: sehr schöne Stimmung in der Arena. Ich habe sowohl die HSV-Fans als auch UNS ordentlich laut gehört, und es war weitaus mehr los als in der Allianz-Arena, wo die Gesänge leider immer etwas verpuffen. Nach 75 Minuten taten allmählich die kalten Füße weh, aber ansonsten war mir mummelig warm. Tolle Jacke, tolle Decke, alles supi. Laut Anzeigentafel waren es minus 5 Grad in der Arena, also quasi total warm.
Ich war mir todsicher, dass WIR noch das 2:1 schießen würden, denn in der zweiten Halbzeit sah es für mich so aus, als hätten wir die deutlich bessern Karten. Lustigerweise sahen Pleitegeiger und Ned Fuller, mit denen ich mich nach dem Spiel noch traf, das ganz anders: Sie waren sich sicher, dass ihre Jungs noch den Heimsieg holten. Ist jetzt wurscht, hat ja beides nicht geklappt, wobei die HSV-Fans das lausige Unentschieden wie einen Sieg feierten und es sich für mich wie eine Niederlage anfühlte.
Die S-Bahn-Fahrt zurück war dann auch nicht so lustig wie die Hinfahrt. Wo ich auf der Hinfahrt im Bayernpulk stand, geriet ich diesmal in eine blau gekleidete Gruppe und wurde dann auch sofort gefragt, wie’s mir so ginge – „Geht, war ein spannendes Spiel, verdientes Unentschieden“ –, wo ich herkäme – „Hamburg“ –, und nach der Antwort, ob ich denn keinen Stolz hätte. Ich hätte zwar gerne gesagt, he, ich bin wenigstens nüchtern, und ich kann Bierbecher vor mir abstellen, ohne sie unkoordiniert umzutreten, und ich singe nur bei den Fangesängen mit, die zu meinem Verein gehören, aber ich war zu müde.
Immerhin waren meine Füße zu dem Zeitpunkt wieder warm. Und nächste Woche in der Allianz-Arena gewinnen wir, denn bis jetzt haben wir immer gewonnen, wenn ich in der Allianz-Arena saß. Nach dem 1:2 in Hannover und dem Unentschieden fühle ich mich jetzt allerdings wie Auswärtsgift. Vielleicht sollte ich mal zu ein paar Auswärtsspielen des BVB fahren.
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Post aus der Vergangenheit
Wie man es in zwei Sekunden schafft, mich mit einer E-Mail zum Heulen zu kriegen. Könnte daran liegen, dass sie von jemandem kommt, den ich seit 15 Jahren nicht gesehen habe und dass sie mich an jemanden erinnert, der vor zwölf Jahren ums Leben kam.
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Dear Anke,
This morning as I was sweeping, my three-year old son got into my vault of mementos and brought me an envelope I haven’t seen in years. The envelope was from my dear uncle Karl’s good friend Anke. As a teen, I received a few cards/letters from her and saved them. After a mild chiding for disrupting my belongings (the entire contents of the treasure chest on the floor, and the one thing he brought me was the blue envelope with red and blue candy-like stripes), I decided a search for Anke was in order. I facebook-searched her to no avail. I then decided to google “Anke Groner Hanover, Germany” and there was her blog, “Blog Like Nobody’s Watching.” So many interesting subjects and links to choose from! I simply clicked “Favorite Entries” as a starting point and there I found: To Karl with Love. While the babblefish/google translation is a bit jumbly, the sentiment is certainly there. Every memorial touching; I laughed. I cried.
Anke, I hope this is your email address as I would love to correspond with you. Your book sounds entertaining and inspiring, congratulations.
Love,
Kari in Indiana
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Dear Kari,
I don’t know how to begin this e-mail. When I opened you mail yesterday it took me about two seconds to start crying – this was certainly a very surprising and unexpected blast from the past. I still remember you vividly, in the back of Karl’s car, telling me about how fast you went on you boyfriend’s motorcycle. I remember how proud Karl was of you and how often he spoke of you. And of course I remember that it was you who called me to tell me he had died. I don’t even know if the date I wrote into all my blog entries about him is really the day he died – I was in a bit of a shock for weeks afterwards because I simply couldn’t believe that he was gone.
Kari, I really don’t know what to write. This feels very weird and at the same time wonderful.
What I hate most about the fact that Karl isn’t around anymore is that he didn’t get the chance to achieve everything he dreamed of. We met at a very strange time in both of our lives (at least that’s what he said, and I felt the same), and I hope that he is somewhere watching over me and seeing me having become a different (and hopefully) a better person. And I want to believe that his life would have turned out to be as great as mine, and that he would have been happy.
(I’m babbling, forgive me.)
I’ve been living in Hamburg for the past 12 years; I’d just moved here when Karl died. I am a freelance coypwriter for different advertising agencies, and last year I published my first book (as you know). I have a boyfriend, a very old car, an even older apartment, way too many books, and overall I am very happy with how my life turned out to be. And you can find me on Facebook:
https://www.facebook.com/ankegroener
I’d love to hear from you again. Thank your son from me for knocking over you stuff.
Love,
Anke
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Seitdem haben wir mehrere Mails hin- und hergeschickt; ich werde hoffentlich dieses Jahr endlich meinen Hintern hochkriegen und in die USA fliegen, wo ich seit Karls Tod nicht mehr war.
Vielleicht wollte ich nie seinen Grabstein sehen.
Vielleicht ist es jetzt an der Zeit.
—
Bücher 2011