re:publica 2012 – Tag 3
Meine Soziophobie nahm am letzten Tag noch ausgeprägtere Züge an als am zweiten: Ich hoffte sehr, dass mich niemand ansprach, und das hat auch ganz gut geklappt. Trägt wahrscheinlich nicht gerade zu meiner Reputation als echt netter Mensch bei, aber das war alles ein bisschen zu viel von allem. Abends im reinstoff in kleiner Runde konnte und wollte ich stundenlang reden, tagsüber in der Masse dagegen verschwinden und einfach nur zugucken, zuhören, aufnehmen, mich inspirieren lassen.
Dafür war das erste Panel nicht ganz so geeignet. EU-Kommissarin Neelie Kroes las ihren Vortrag fast komplett ab (auf Papier!!einself!), und dementsprechend fiel es mir etwas schwer, dabei zu bleiben. Könnte aber auch an ihren Thesen gelegen haben, die in meinen Augen keine waren: Sie wünscht sich ein möglichst freies Internet, aber zum Beispiel Kinder müssten auch geschützt werden. Äh. Ja. Das klang zwar enthusiastischer als das meiste, was deutsche Politiker_innen von sich geben, aber alleine für diese Aussage hätte ich keine halbe Stunde Zeit gebraucht.
Dafür entschädigte das nächste Panel für so manches: Marcel-André Casasola Merkle (@zeitweise) überlegte laut, wie es wäre, wenn Spieleentwickler wie er Gesetze machen würden. Der Titel des Panels klang für mich so an den Haaren herbeigezogen, dass ich es unbedingt sehen wollte – und ich kam äußerst begeistert wieder raus. Viele, viele tolle Ideen – toll, weil viel, aber auch doof, weil zu viel, um sie sich zu merken. Ich habe gerade noch im Kopf: Wenn Menschen Regeln selbst entwickeln, halten sie sich viel eher daran als wenn ihnen diese von außen aufgezwungen werden. Beispiel Twitter, wo die User selbst „Regeln“ aufstellen, wie zum Beispiel Hashtag-Nutzung, an die sich auch alle halten. Und Twitter als Anbieter hat auf diese Regeln reagiert, indem sie Hashtags irgendwann klickbar machten. (Ich hoffe, ich erinnere mich da jetzt korrekt.)
Merkle sprach über verschiedene Reaktionen, die er in den Berichten von Spieletester_innen wiederfindet: das Gefühl von Ohnmacht, Überforderung, Verkrustung, Ungerechtigkeit. Das seien auch Dinge, die der Gesetzgeber ausgleichen müsste. Monopoly diente als Beispiel für eine Möglichkeit, den Spieler_innen über einen längeren Zeitraum die Möglichkeit zur Teilhabe zu garantieren: Wer über Los zieht, bekommt automatisch Geld und kann weiter mitspielen. Der Weg zum bedingungslosen Grundeinkommen ist gedanklich kürzer als die Zeit, die ich brauche, um diesen Satz aufzuschreiben.
Oder die Tatsache, dass sowohl Spiele als auch Gesetze nicht ergebnisorientiert sind. Wir spielen, um uns gemeinsam zu unterhalten. Und Gesetze sind nicht dazu da, jemanden zu bevorzugen, sondern um ein möglichst gerechtes Miteinander aller zu ermöglichen. Aus diesen Gedanken entstand der Satz, der mein Lieblingstweet der ganzen rp12 ist: „Spiele sind nicht ergebnisorientiert. Außer Strip-Poker. Oder russisches Roulette.“ Gefolgt von: „Mensch-ärgere-dich-nicht ist nur dazu da, damit Kinder lernen, dass die Welt scheiße ist.“
Ich kann dem Panel nicht gerecht werden, weil ich nicht mitgeschrieben habe, daher fallen mir jetzt nur noch diese wenigen Fragmente ein. Ich hoffe sehr, dass der Beitrag vielleicht online gestellt wird, damit ihr ihn nachlesen könnt, denn es lohnt sich sehr. Das fand auch der sehr volle Saal; das Panel hat den bis dahin längsten Applaus bekommen, und ein Fragesteller meinte, er beantrage hiermit eine zweite Staatsbürgerschaft in dem Land, das Merkle mit Gesetzen beglücken würde. Dito.
(Edit: die taz hat Merkle interviewt.)
In hochphilosophischer Stimmung schlenderte ich zu Stage 2, um mir eben diese ruinieren zu lassen, denn dort lieferte Herr Schwenzel einen seiner traditionell unterhaltsamen Vorträge ab. Diesmal trug er den Titel Soylent Green, äh, the internet is people. Da war zwar null Neues für mich dabei (Menschen machen das Internet – ach was), aber ich würde Felix auch bei einem Vortrag Bananen sind Südfrüchte zuhören. Nach 30 statt 60 Minuten waren wir durch, und es gab keine Fragen, was die Moderatorin erstaunte, Felix aber nicht: „Ich hab keine Fragen erwartet. Ich hab ja alles erklärt.“ Genau.
Nach einer kurzen Pause, die ich zum Rumlungern auf dem Affenfelsen nutzte, dem Abblocken per Tweet/DM aller Kontaktwünsche (ich kam mir immerhin scheiße und asozial vor) und für ein paar dutzend Seiten in meiner derzeitigen Lektüre, ging ich zu Stage 1, wo Katie Jacobs Stanton, Vice President of Market Development @ Twitter, uns bergeweise Zahlen zur Twitterentwicklung und -nutzung um die Ohren warf. Sie erwähnte lustigerweise eine Sache, die auch Felix besprach: dass Fernsehen durch Twitter wieder zu einem Gruppending geworden ist. Wir gucken zwar alle auf unserer eigenen Couch, diskutieren aber mit hunderten oder tausenden Nutzern über den gleichen Inhalt. Felix erwähnte den #esc, auf den ich mich auch schon sehr freue, Katie zeigte Schaubilder zu American Idol oder den Debatten bei den republikanischen Vorwahlen, wo die Zuschauer_innen die Glaubwürdigkeit der Kandidaten per Twitter-Hashtags bewerteten, was Fox News live begleitete. Mich hat auch fasziniert, dass 90 Prozent aller NBA-Spieler auf Twitter vertreten sind und wieviele Regierungen dieses Medium nutzen (darauf kam auch der nächste Sprecher Steffen Seibert noch mal zurück). Eine Zahl ist mir auch im Gedächtnis geblieben: Bis Twitter die erste Milliarde Tweets voll hatte, vergingen drei Jahre und ein paar Monate. Heute reichen für diese Zahl gerade mal drei Tage.
Und dann brach schon das letzte Panel an: der eben angesprochene Steffen Seibert setzte sich unter großem Applaus auf die Bühne und beantwortet zunächst Fragen der Moderatorin (deren Namen ich leider vergessen habe), bevor die Fragen ans Publikum weitergereicht wurden.
Bei dem Panel wurde mir sehr deutlich bewusst, wer als Profi da oben sitzt und wer nicht. Ich unterstelle dem allergrößten Teil des Publikums, dass es nicht die CDU wählt, und trotzdem hingen alle an seinen Lippen und waren äußerst beifallfreundlich. Seibert wusste ganz genau, was für eine gute Werbeveranstaltung er da ablieferte, und er wusste auch, wie er das Publikum in den Griff kriegen konnte. Erstmal nett sein und danke sagen, dass man eingeladen wurde, zugeben, dass man ein bisschen nervös sei (habe ich ihm nicht abgekauft), dann ein paar kleine Witze in Richtung der Piraten – „Wenn wir dann das Problem der Piraten am Horn von Afrika gelöst haben … (Lacher im Publikum) … am Horn von Afrika, meine Damen und Herren“ (noch mehr Lacher) – und schließlich äußerst charmant und leutselig über die Regierung plaudern wie wir über unsere Kolleg_innen plaudern. Warum er überhaupt mit dem Twittern angefangen habe, wurde er gefragt, woraufhin er meinte, dass viele Regierungen dieses Medium nutzten: „Downing Street No 10, der Élysée-Palast, das Weiße Haus, der Kreml, der Vatikan – und man sollte doch technisch nicht hinter dem Vatikan herhinken.“
Das Panel war jetzt auch nicht übermäßig neu oder inspirierend, aber wie gesagt, ich fand den Kontrast zwischen der Professionalität des Sprechers im Gegensatz zu vielen anderen, sehr überzeugend. Und ja, ich habe mich gut unterhalten. Dafür gab’s dann auch den längsten Applaus (ich habe bei Merkle länger geklatscht, so, bäh) und den vollsten Saal, soweit ich das überblicken konnte, wobei ich ahne, dass Herr Lobo am ersten Abend ähnliche viele Zuschauer_innen gehabt hatte.
Diese re:publica hat sich für mich sehr anders und doch sehr vertraut angefühlt. Neu war: Ich habe alle Panels geguckt, die ich gucken wollte oder eben kurzfristig den Plan umgeschmissen, aber ich war dauernd in irgendwas drin. Ich habe keine Zeit zum Rumlungern oder Quatschen genutzt, sondern war jeden Tag von 10 bis 16 Uhr in Panels, am ersten Abend sogar bis 18 Uhr. Das war bisher gar nicht möglich, weil alles überfüllt war. Dafür habe ich sonst weitaus mehr Menschen getroffen bzw. mich länger als 30 Sekunden mit ihnen unterhalten. Ich weiß nicht, woran es lag, dass ich dieses Mal wirklich nur zuhören und nicht aktiv teilnehmen wollte; vielleicht weil es endlich mal ging.
Mir persönlich hat es jedenfalls sehr, sehr gut gefallen. Die Location ist großartig (nein, sie ist nicht am Arsch der Welt, sondern eine Fußminute von einer U-Bahn-Station weg), wenn mir auch ein bisschen das urbane Umfeld fehlt, das in Mitte die Mittagspausen etwas abwechslungsreicher gemacht haben. Die Vorträge waren fast durchgehend von exzellenter Qualität, und die Bandbreite hat mich sehr erstaunt und noch mehr erfreut. Ich mochte Kleinkram oder begleitende Ideen: die Monoblock-Stühle zum Rumschleppen, die man am letzten Tag sogar käuflich erwerben konnte. Die überklebten Kloschilder, weil die ursprünglichen Bilder einfach doof waren. Das Abspielen der Nyan-Cat-Musik vor jedem Panel, wo sonst in den Pausen entspannter Chillkram lief, der einem auch nach drei Tagen nicht auf den Keks ging. (Edit: klick!) Dass in der republica-space (ich habe sie bisher „open space“ genannt) wieder gemalt wurde, siehe obiges Bild. Und die Begrüßung vom Typ am Kaffeestand: „He, du warst doch gestern auch schon hier.“ Genialer Satz. Trefferquote von fast 100 Prozent, würde ich schätzen.
Liebes re:publica-Team: Tolle Veranstaltung, gerne wieder. Danke.