November-Journal, 15. und 16.11.2012

Mittwoch

Der lange Uni-Tag. Erster Kurs immer noch der, auf den ich mich am meisten freue: die Musikgeschichte 1700–1830. Die letzten beiden Male hatten wir die Frage „Was ist Musik?“ auf zwei Arten beantwortet: einmal ist sie die Nachahmung der Natur (wir erinnern uns: das Zeitalter des Rationalismus, Musik bildet die Natur bzw. menschliche Regungen nach und folgt dabei strengen Regeln); dann hatten wir das Zeitalter der Empfindsamkeit, wo Fantasie und Improvisation höher geschätzt wurden als die bis eben gültigen Regeln. Musik sollte bewegen und die Gefühle des Komponisten hörbar machen. Das 18. Jahrhundert, das kleine Chamäleon, hat aber noch eine weitere Richtung zu bieten: die romantische Musikästhetik. Musik ist nach ihr „eine abgesonderte Welt für sich“ (Ludwig Tieck, ja, der mit der Shakespeare-Übersetzung).

Wo vorher die Vokalmusik wegen ihrer leichteren Verständlichkeit geschätzt wurde, gilt nun die Instrumentalmusik als höherwertig. Dabei ist die romantische Ästhetik ein rein deutsches Phänomen; viele deutsche Dichter befassten sich mit Musiktheorie, der schon genannte Tieck zum Beispiel oder E.T.A. Hoffmann (der auch komponierte), Friedrich Schlegel (der andere mit der Shakespeare-Übersetzung) oder Jean Paul. Ganz vorneweg war Wilhelm Heinrich Wackenroder, dessen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ schon im Titel eine gewisse Schwärmerei erkennen lassen. Für ihn war Instrumentalmusik „die wunderbarste aller Künste“ und er schrieb ihr eine „göttliche Qualität“ zu. Was eben noch bemängelt wurde – die Unverständlichkeit der Instrumentalmusik – war auf einmal ihre Stärke; sie galt als Indiz für die metaphysische Qualität der Töne, sie war ein „Medium göttlicher Offenbarung“, die „höchste Stufe der Erhabenheit“. Musik ermöglicht den Kontakt mit der Irrealität und den eigenen Träumen – da stören Worte nur. Selbst die Flüchtigkeit eines musikalischen Erlebnisses wurde auf einmal geschätzt: Genau wie Wolken und Wind war es himmlischen Ursprungs.

E.T.A Hoffmann regte an, die ollen Opern doch mit einer herrlichen Symphonie zu beenden; dieser Vorschlag wurde allerdings nicht umgesetzt. Aber: Es gab in den Jahrzehnten danach durchaus Komponisten, die die Oper nicht mehr mit Worten enden ließen, sondern nach den letzten Sätzen ein bisschen Instrumentalmusik anboten. Der Dozent meinte: „Ich spiele Ihnen mal ein Beispiel eines solchen Schlusses vor“, legte eine CD ein, drückte auf Play – und ich kämpfte mit den Tränen. Es war der Schluss der „Götterdämmerung“, der mich auch im Opernhaus jedesmal fertig macht, aber da habe ich vier Stunden Zeit, mich darauf vorzubereiten. Hier wurde ich in meine Lieblingsmusik geschmissen und war so ergriffen wie selten. Als die drei Minuten verklungen waren, fragte der Dozent: „Das kennen Sie, oder?“, worauf der halbe Kurs gelangweilt murmelte: „Götterdämmerung.“ Die kennen das! Die sind 20 und kennen das! An mein Herz, Jugend von heute!

In der Kunstgeschichte 500 bis 1500 sind wir gerade in der Gotik. Der Dozent quengelte mal wieder, dass wir durch die neue Studienordnung für nix mehr Zeit hätten, weswegen die Gotik nur lausige zwei Sitzungen bekäme. Jetzt, wo ich mit ihm virtuell durch die unfassbaren Kathedralen von Laon, Chartres, Reims und Amiens spaziert bin, quengele ich auch.

Der Dozent erwähnte das schöne Wort „Turmwut“, weil in der Gotik gerne mal auf alles Türmchen gesetzt wurde, und ballerte uns, wie jede Woche, mit Fachausdrücken voll, die ich mir allmählich mal auf Karteikarten schreiben und auswendig lernen sollte. Das klingt dann ungefähr so: „Ein dreischiffiges Lang- und Querhaus in Kreuzstruktur, fünfschiffiger Chor mit doppeltem Umgang und Kapellenkranz, über dem Arkadengeschoss das Triforium mit vier Fenstern – wir sagen trotzdem TRIforium dazu –, Lanzettenfenster im Obergaden, polygone Dienste um die Säulen, runde Dienste um die Pfeiler.“ Und ich nickte und guckte auf die Folien vorne und war verknallt in die französischen Baumeister, die vor 800 Jahren so viel filigrane Schönheit in die Gegend gebaut haben.

Abends mit @fehlpass und dem temporären Mitbewohner das Hollandspiel geguckt und es in jeder Sekunde bereut. Immerhin gab’s Flips und Bier. Für unsere Verhältnisse total früh im Bett gewesen und erstaunlich wenig Alkohol getrunken. (Meine Leber freut sich sehr auf die eigene Wohnung. Der Rest ist hin- und hergerissen. Es ist halt doch ganz schön gemütlich hier, und es bringt einem dauernd jemand gekühlte Getränke. Womit wir wieder bei Punkt 1 wären: Meine Leber freut sich sehr auf die eigene Wohnung.)

Donnerstag

Vom Stromausfall nix gemerkt, vom iPhone geweckt worden, wir hatten Strom, das einzige, was ich noch mitbekommen habe, waren die brechend vollen U-Bahnen um 9.30 Uhr in Richtung Uni. Das war aber wider Erwarten sehr amüsant, weil wir einen klasse Fahrer hatten, der „meine“ vier Stationen fast komplett durchgequatscht hat (bitte entschuldigen Sie die fürchterliche bairische Transkription, für Verbesserungsvorschläge wäre ich sehr aufgeschlossen): „Jetzt rückts amoi zusamm, dann kimma auch alle nei. … Erst aussteign lossn, dann nei mit eana … nah, jetzt fahrn ma los, wir nehmen auch keine blonden Frauen mehr mit … jetzt lossts amma den Rollstuhlfahrer nei … kimmats hier nach vorn, do ist noch Platz, die lächeln auch alle …“ Beim Aussteigen zeigten viele Mitfahrende dem Fahrer den Daumen nach oben oder bedankten sich für den Spaß, den sie hatten.

In der ersten Vorlesung „Die Messe in der Renaissance“ schaffte es der Dozent allen Ernstes, in 15 Minuten einen gedanklichen Bogen von der Messe zu Musik in Computerspielen zu schlagen, Stichwort Gebrauchsmusik. Ich kann das nicht wiedergeben, ich habe beim faszinierten Zuhören das Mitschreiben vergessen. Und ich kann endlich diesen seltsamen „Mittelalter-Klang“ (ja, ich weiß, die Renaissance ist nicht das Mittelalter, aber fast) benennen, also den Tonabstand, den ich immer mit dieser Zeit da ganz früher verbinde: Es ist die olle Quarte, die langweilige Tante.

Bei den „Skulpturen der Romanik“ gab’s dieses Mal endlich was Nachvollziehbares, nicht wie sonst ein hysterisches Springen von Kirche zu Kirche, um ein Kapitell hier und ein Tympanon da anzugucken. Das hat mir diese Vorlesung bis jetzt jedenfalls eher madig gemacht; ich schreibe hektisch mit, weil der Dozent seine Folien nicht rausrückt und habe einen Riesenbildband gekauft, um jetzt stumpf Bilder auswendig zu lernen, die eventuell in der Klausur drankommen könnten. (Mir fällt keine andere Art ein, mich vorzubereiten.) Mir fehlt aber die Begeisterung, die bis jetzt alle anderen Dozierenden in mir wecken konnten – vielleicht weil sie besser einordnen, weil sie aufzeigen, was so toll an den Dingen ist, die sie uns nahebringen. Diese Vorlesung ist ein nicht enden wollender Diavortrag, und er ist nicht besonders gut.

Dieses Mal hat’s aber funktioniert: Wir blieben in Cluny bzw. St-Madeleine in Vézelay, wo wir wunderschöne Kapitelle zu sehen bekamen, die eben keine Einzelmeister waren, sondern in sich einen geschlossenen Zyklus bildeten. Wenn Sie sich das bitte mal selbst in der Wikipedia durchlesen möchten? Vor allem die „mystische Mühle“ fand ich großartig. Zum ersten Mal habe ich die Schönheit der romanischen Skulptur nachvollziehen können – aber vielleicht klappt das auch nur, weil ich in anderen Kursen inzwischen was über die Ottonen und die Karolinger gelernt habe und nun weiß, woher die Romanik ihre Formen bezieht.

Telekom-Mensch beim Anschließen des Routers zugeguckt. Konnte danach trotzdem kein W-LAN in meiner leeren Wohnung einrichten, weil ich den Adapter für das Netzkabel vergessen hatte. Das MacBook Air ist so wunderschön und ich liebe es sehr, aber diese nicht vorhandenen Anschlüsse machen mich fertig.

Der temporäre Mitbewohner guckte sich die Jahreshauptversammlung des FC Bayern vor Ort an; ich ließ mich als Schönwetterfan beschimpfen, aß Brezn, lungerte auf dem Sofa rum, guckte Serien und checkte bei der Lufthansa ein. Ab nach Hause.