Dezember-Journal: Singalong
Nach sieben Wochen Pause war ich gestern endlich mal wieder singen. Gesungen habe ich natürlich auch in München, aber ohne Zuhörer. Jedenfalls glaube ich, dass die Wände vom temporären Mitbewohner recht dick sind; ich habe von den Nachbarn nie was mitgekriegt. Falls ich doch etwas lauter war – Billy Joel kann niemand schlecht finden.
Gestern also, wie gesagt, mal wieder mit Lehrerin am Klavier und vor allem zum ersten Mal in einem größeren Raum, einem Studio, das schön hallt. Es fühlte sich so an, als würde ich mich zum ersten Mal selbst hören. Bei meinem ersten Lehrer vor 100 Jahren stand ich mit ihm in einem gefühlt zehn Quadratmeter großen Raum, in den gerade wir beide, ein Klavier und ein Tisch passten. Zudem war er schallgedämpft, weil um uns rum im Theater vom „König der Löwen“ noch genug andere Leute Singen geübt haben. Bei meiner Lehrerin stehe ich in ihrem Wohnzimmer, was auch nicht gerade riesig ist. Aber gestern stand ich zum ersten Mal in einem leeren, langen Raum mit Parkettfußboden und einer Akustik, die ihren Namen verdient. Ich habe ganz automatisch weniger gepusht und mich weniger angestrengt, weil meine Stimme auch so den Raum erfüllt hat, was ich sehr unheimlich und gleichzeitig sehr toll fand.
Nach zwei schmissigen Liedern zum Reinkommen lag dann mal wieder „Defying Gravity“ auf dem Klavier. Ich hatte gute Laune, wie überhaupt fast immer in den letzten Wochen (den üblichen „one of those days“ gibt’s ja immer), fing laut und sicher an – und kam genau bis zur siebten Zeile am Ende der ersten Strophe.
„Something has changed within me
Something is not the same
I’m through with playing by the rules
Of someone else’s gameToo late for second-guessing
Too late to go back to sleep
It’s time to trust my instincts
Close my eyes: and leap!“
Dann war mal wieder die Kehle zu und die Tränen flossen. Ich bin in diesen Momenten immer hin- und hergerissen zwischen „Oh wow, was Musik anrichten kann“ und „DAS NERVT!“ Meine Lehrerin sagt dann jedesmal, lass es kommen, das ist okay, das ist eine körperliche Reaktion, freu dich, dass Musik das mit dir macht und so weiter und so fort. Mich nervt es aber trotzdem, weil ich der Musik und vor allem dem Text so schutzlos ausgeliefert bin. Und es ist jedesmal ein anderer Text, dem ich ausgeliefert bin.
Als ich ein bisschen Herzschmerz mit mir rumschleppte, war „What I did for love“ aus „A Chorus Line“ eine ganz blöde Idee. Als mich die Wahl der richtigen Universität plagte, konnte ich kein „Yentl“ singen. Und jetzt, wo ich mir sicher bin, dass die LMU die richtige Wahl war, kommt so was. Ich habe meinen Instinkten getraut und nicht der Vernunft, die mir sagte, lass den Quatsch, bleib in deinem Job, bleib in Hamburg, verdien weiter Geld. Stattdessen räume ich gerade mein Tagesgeldkonto leer und führe eine Wochenendbeziehung – aber dafür bekomme ich in jeder Stunde an der Uni so unglaublich viel zurück. Und natürlich ist das immer noch ein großer Sprung ins Ungewisse: Wie läuft das mit der Arbeit nebenbei, wie gut komme ich mit dem Studium zurecht, wie gut verkraftet meine Beziehung die zeitweiligen Trennungen?
Aber tief in meinem Herzen weiß ich: Das war die richtige Entscheidung. Der Sprung war gut, und er wird sich lohnen. Wahrscheinlich nicht finanziell, aber diese Erfüllung hatte ich die letzten Jahre. Und genau diese Jahre ermöglichen mir jetzt das Studium.
Wenn da nicht der übliche nörgelnde Zweifel wäre. Den habe ich mir während meiner Diätjahre prima rangezüchtet, das ständige Selbstüberprüfen, das dauernde Vergleichen mit anderen, das ewige Runtermachen von eigenen Meilensteinen. Das hast du alles nicht verdient, denn du bist noch nicht dünn genug. Darüber darfst du dich noch nicht freuen, denn du bist noch nicht dünn genug. Dein Leben kann gar nicht großartig sein, denn du bist noch nicht dünn genug. Den Zahn habe ich mir eigentlich in den letzten Jahren gezogen, aber irgendwas ist da anscheinend immer noch in mir drin, dass mir sagt, dass ich es nicht verdient habe, mich über irgendwas zu freuen. Und deswegen werfen mich solche Songzeilen immer so um, weil ich mich ihnen ausliefere, ohne Schutzschild, ohne meine übliche distanzaufbauende Ironie – ich stehe in einem Raum und singe darüber, meine Instinkten zu trauen und einfach zu springen. Mein Kopf macht darüber sofort Witze, aber mein Herz weiß: Genau das hast du gerade gemacht, und darauf kannst du verdammt noch mal stolz sein. Aber das muss ich immer noch lernen: auf mich stolz zu sein. Mir selbst auf die Schulter zu klopfen und mich einfach mal machen zu lassen. Ohne die eigene, interne Scheißstimme, die mich runtermachen will, weil sie mich jahrelang runtergemacht hat.
Aber so langsam höre ich nicht mehr auf sie. Ich nehme mir ganz allmählich den Platz, der mir zusteht, anstatt mich in einer Ecke rumzudrücken. Ich mache in der Uni den Mund auf, genau wie im Gesangsunterricht. Ich bin laut. Und ich will noch lauter werden. Gesprungen bin ich schon. Mir kann überhaupt nichts mehr passieren.
“I’m through accepting limits
Cuz someone says they’re so
Some things I cannot change
But till I try I’ll never knowToo long I’ve been afraid of
Losing love I guess I’ve lost
Well if that’s love
It comes at much too high a costI’d sooner buy defying gravity
Kiss me goodbye, I’m defying gravity
And you can’t pull me down!”