Dezemberjournal: Lesestunde
„Keines der Wagnerschen Musikdramen endet, wie gesagt, in Moll, alle, von Rienzi bis zum Parsifal, schließen in Dur. Das darf man aber nicht zu eindeutig verstehen. Dur ist nicht einfach mit fröhlich gleichzusetzen und Moll nicht mit traurig. Eine Dur-Tonart (von lateinisch „durus“ = hart) hat im Gegensatz zu einer Moll-Tonart (von lateinisch „mollus“ = weich) schärfere Kanten und Konturen. Sie ist unmissverständlicher. Wenn Wagner seine Welten allesamt in Dur untergehen lässt, dann spricht das auch für die Klarheit seines Blicks. Mit dieser oder jener finalen Situation haben wir uns auseinanderzusetzen, da gibt es nichts zu deuteln und nichts zu bemänteln. Auch im Tristan nicht, der mit einem H-Dur-Akkord endet: fünf Kreuze (fis, cis, gis, dis, ais), eine Tonart, die von Hector Berlioz als „erhaben, sonor, strahlend“ charakterisiert wird. Ein helles, fast gleißendes Licht ergießt sich über die Szenerie, „Rührung und Entzückung unter den Umstehenden“ vermerkt das Libretto, und nach all den harmonischen Ambulanzen und konvulsivischen Taktwechseln des Liebestods kommt auch die Partitur zur Ruhe, „morendo“, „rallentando“, ersterbend, langsamer werdend. Drei Tote liegen auf der Bühne. Und Isolde? „Wie verklärt sinkt sie sanft in Brangänes Armen auf Tristans Leiche.“ Stirbt sie auch? Ist das die schiere Katastrophe oder glimmt am Ende nicht doch ein kleines Licht? (…)
f – h – dis – gis: ein unscheinbarer Vierklang, auf den ersten Blick. Und doch öffnen sich mit ihm im zweiten Takt Höllentor und Himmelspforte zugleich. Dieser Akkord, der sogenannte Tristan-Akkord, ist das Losungswort, der Code für die gesamte musikalische Moderne. Ein Akkord, der sich keiner Tonart zugehörig weiß. Ein Akkord an der Grenze zur Dissonanz. Ein Akkord, der für sich steht und schwebt und nirgendwohin strebt. Der Tristan-Akkord sucht sein Heil nicht in der nächstmöglichen Konsonanz, wie es die klassische Harmonielehre verlangt; der Tristan-Akkord ist sich selbst genug. Ganz wie Tristan und Isolde sich genügen und nichts kennen als ihre Liebe. Kein Eheversprechen, keine Treue, keine Vergangenheit, keine Angst, nicht einmal die vor dem Tod. (…)
Die Musikwissenschaftler sind in der Analyse und Exegese dieses Akkords bis heute zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt. Was soll er sein: ein alterierter Terzquartakkord, die Umkehrform eines Doppeldominantseptakkords mit tiefalterierter Quinte, ein Subdominantdreiklang mit sixte ajoutée oder gar ein verkürzter Dominantnonenakkord? Ich denke, dieses Stochern und Wühlen im theoretischen Werkzeugkasten zeigt vor allem eins: unsere Unzulänglichkeit. Und das gilt für die gesamte Tristan-Musik, die sich mit herkömmlichen Parametern kaum fassen lässt. Da existiert harmonisch keine Dur-Moll-Tonalität mehr und formal nicht der kleinste Rest der alten Nummernoper. (…) Stattdessen herrschen Chromatik und freier Kontrapunkt, und die Gesangsstimmen fügen sich fast instrumental ins symphonisch-opiatische Gewebe des Ganzen ein. Mit dem Tristan überschreitet Wagner eine Grenze, die erst ein halbes Jahrhundert später sichtbar wird. Der Tristan ist die Musik zu Freuds Psychoanalyse, zur Literatur Thomas Manns und die Initialzündung für das kompositorische Weiterdenken eines Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg oder Claude Debussy.“
Ich mag Christian Thielemanns Mein Leben mit Wagner sehr. Es klingt übrigens nicht immer so wie aus einem Musikwissenschaftskurs an der LMU; Thielemann erzählt kurz seinen Werdegang und erklärt dann sehr anschaulich, wie er als Dirigent in verschiedenen Orchestergräben klarkommt, wie er es schaffen muss, Sänger, Sängerinnen und das Orchester unter einen Hut zu bekommen und wo welche Wagner-Oper am besten klingt. Und natürlich plaudert er über Bayreuth, was ich besonders gern gelesen habe. Buchempfehlung für den Gabentisch.