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„Wie durchgreifend der Wandel von romanischer zu gotischer Skulptur ist, zeigen die gattungsgeschichtlichen Veränderungen. Ist die ältere Bildhauerei im Prinzip Relief und damit flächenmäßig der Architektur verhaftet, so tritt mit der Gotik als Neuerung die Rundfigur, die Statue, auf. (…)
Das Auftreten der Statue in der Gotik schafft aber auch ein ganz neues Verhältnis zum Betrachter. Seit der griechisch-römischen Antike ist Statue eine Form des Bildwerks, das dem Betrachter Einfühlung, Mitfühlen, Mitleben erlaubt, sie verbürgt lebendige Gegenwart, sie antwortet. Nach der Konfrontation des romanischen Reliefs führt die gotische Statue erstmalig in das europäische Bilden einen Anthropomorphismus ein, eine Menschlichkeit, deren Auslotung für Jahrhunderte das zentrale Anliegen der bildnerischen Imagination wurde. (…)
Das Ausmaß des historischen Wandels vom romanischen zum gotischen Bildwerk wird erst im erweitertem historischen Kontext sichtbar. Die Kathedrale, die neue Heimstatt der monumentalen Skulptur, ist die Amtskirche des Bischofs. Die Bilder der Kathedrale wenden sich nicht an Mönche, auch nicht an durchreisende Pilger, sie wenden sich an das Laienvolk schlechthin. Noch wichtiger als der Ãœbergang der Auftraggeberschaft von Kloster zu Bischof ist die neue Organisation der Werkenden als Bauhütte, die die Bildwerke nicht nur materiell ausführt, sondern im weiteren Verlauf auch die eigentliche Verfügung über sie bekommt. Der menschliche Zug der Gotik ist geschichtlich gesehen das in der westlichen Kirche zu Bedeutung gelangende Laientum – anfänglich in der Form des christlich-adeligen Ritters, dann des Höflings und schließlich des Bürgers. (…) die romanische Skulptur ist als Ganzes das großartige Schlussbild des ersten europäischen Jahrtausends. Auf dieser Höhe des Monumentalen setzt das neue Äon ein, das nicht mehr unter dem Zeichen des Gottes und des Dämons, sondern unter dem des Menschen selbst stehen wird.“
Aus: Rupprecht, Bernhard, Romanische Skulptur in Frankreich, München 1975