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Heinrich Wölfflin über die Mona Lisa:
„Die Landschaft selbst, die weit hinauf, bis über die Augenhöhe des Modells reicht, ist von merkwürdiger Art: phantastisch-zackige Berglabyrinthe, dazwischen Seen und Ströme. Was aber das sonderbarste ist: sie wirkt in ihrer unbestimmten Ausführung wie ein Traum. Sie hat einen andern Grad von Realität als die Figur, und das ist keine Laune, sondern ein Mittel, den Eindruck des Körperhaften zu gewinnen. Lionardo verwertet hier theoretische Einsichten über die Erscheinung ferner Gegenstände, worüber er sich auch im Traktat ausgelassen hat [1]. Der Erfolg ist der, daß im Salon Carré des Louvre, wo die Mona Lisa hing, alles andere neben ihr flach erschien, selbst Bilder des 17. Jahrhunderts. Die Farbenstufen der Landschaft sind: braun, grünblau und blaugrün, worauf sich der blaue Himmel anschließt. Genau dieselbe Folge, wie sie Perugino hat in dem ebenfalls dem Louvre gehörenden Bildchen mit Apollo und Marsyas.
Lionardo nannte die Modellierung die Seele der Malerei. Wenn irgendwo, so kann man vor der Mona Lisa die Bedeutung des Wortes ahnen lernen. Die delikaten Hebungen und Senkungen der Oberfläche werden zum Erlebnis, als ob man selbst mit Geisterhand darüber hinglitte. Die Absicht geht noch nicht auf das Einfache, sondern auf das Viele. Wer länger mit dem Bilde verkehrt hat, wird die Erfahrung bestätigen, daß es die nahe Betrachtung verlangt. Auf die Ferne verliert es bald seine eigentliche Wirkung. (Das gilt noch mehr von Photographien, die sich darum nicht zum Wandschmuck eignen.) Es unterscheidet sich darin prinzipiell von den späteren Bildnissen des Cinquecento, und in gewissem Sinne haben wir hier in der Tat den Abschluß einer Richtung, die ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert hat, die Vollendung des ‘feinen’ Stils, dem die Plastiker vor allem ihre Bemühungen widmeten. Die jung-florentinische Schule ist nicht darauf eingegangen, einzig in der Lombardei wurden die zarten Fäden weitergesponnen [2].
[1] Buch von der Malerei, No. 128 (201).
[2] Daß die „belle ferronnière“ (Louvre) nicht in das Werk Lionardos hineinpaßt, ist schon mehrfach empfunden worden. Das schöne Bild ist neuerdings versuchsweise dem Boltraffio zugeschrieben worden, was allerdings wenig Überzeugendes hat.“
Aus: Wölfflin, Heinrich: Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance, 9. Auflage, Basel 1968, S. 50/51.
Die erste Auflage erschien 1898, die vierte habe ich gerade online gefunden; da sind die Seitenzahlen im Gegensatz zu meiner gedruckten 9. Auflage anders. Im pdf ab Seite 44 verreißt Wölfflin gekonnt Michelangelo. Sehr unterhaltsame Lektüre.