< quote >
„[Pianist] Jan macht sich Gedanken über den Dom, der vor über siebenhundert Jahren von einem Meister Gerhard entworfen wurde. Woher nahm dieser Gerhard seine Kraft, nachdem er doch wußte, daß er den fertigen Bau niemals sehen würde? Ihm ging es um das Ewige, überlegt Jan, uns geht es um den Augenblick. Der Baumeister entwarf Formen, die nichts Menschliches mehr haben, nichts Zweckmäßiges, nicht mal entfernten Anklang an eine Behausung. Sie erinnern an hohen Wald, an Felsen, Himmel. Uns dagegen geht es um die vergänglichen Gefühle. Unsere Kunst ist die Kunst des richtigen Zeitpunkts. Wie oft tun, denken und sagen wir in Wirklichkeit das Falsche; oder wir tun das Richtige, aber zu früh, zu spät. Im Theater, denkt Jan auf dem Rückweg ins Hotel, wird Schicksal auf den Punkt gebracht, mit hoher Bedeutung und reinem Gefühl. Im Miterleben fremden Schicksals sind wir plötzlich von unserer privaten Zerrissenheit und Unzulänglichkeit befreit. Giftige Pointe: Um dieser fremden Kunst-Augenblicke willen opfern wir Künstler Jahre und Jahrzehnte eigenen Lebens. Um den großen, überwältigenden Kunst-Augenblick zu beschwören, nehmen wir im echten Leben tausenfaches Verpassen und Versagen in Kauf.“
Petra Morsbach, Opernroman, München 2000, S. 141