YOLO

Am Dienstag spielten meine Lieblinge vom FC Bayern ihr letztes Spiel in der Gruppenphase der Champions League und ich hatte ein Ticket – aber am Tag darauf auch mein erstes Referat in Geschichte.

Seit vier Wochen wühlte ich mich durch sämtliche Bibliotheken in meiner Nähe und Ferne, analog und digital, um an Literatur über die englische Frauenbewegung zu kommen. Nach dem ersten Einführungsbuch (das ich nicht nur meinem Kurs als sehr entspannten Einstieg in das Thema empfohlen habe, sondern hiermit auch euch) hangelte ich mich durch die ganzen tollen Datenbanken, die wir erklärt bekommen hatten, suchte Aufsätze, wuselte in Fußnoten rum, denn da stecken ja immer die Bücher, die mich zu weiteren Büchern führen und hatte schließlich einen Aufbau fürs Referat. Erstmal erklären, wie der rechtliche Stand von bürgerlichen Mittelstandsehefrauen im viktorianischen England war. (Für die Arbeiterklasse und die unverheirateten Damen hatte ich leider keine Zeit in meinen lausigen 20 Minuten Referatszeit.) Daraus ableitend dann die Ziele der ersten Frauenvereine, von denen das Wahlrecht nur eines war. Dann die zwei großen Organisationen NUWSS und WSPU aufdröseln, politische Ziele und Mittel erwähnen, dann die Auswirkungen auf die Gesellschaft und dann irgendwann nach drei Stunden ein Fazit. Zusätzlich wünschte sich unsere Dozentin für die Referate einen Einblick in den Forschungsstand (das kannte ich bisher noch nicht) und eine Leitfrage, die wir im Fazit beantworten sollten. Auch das bekam ich irgendwie hin, wobei mir der Forschungsstand am meisten Probleme machte, weil ich noch nie nach einem solchen gesucht hatte. Ging aber auch. In meine Referatskladde eingearbeitet, Handout für die KommilitonInnen erstellt und wie gewünscht eine Woche vor dem Referat an die Dozentin geschickt.

Sie sendete es mir mit ein paar Anmerkungen zurück und der Frage, ob man einige Teile kürzen und andere umstellen könnte. Ich machte mich an die Arbeit und stellte fest, dass das doch mehr war als „nur ein bisschen kürzen und umstellen“, suchte nochmals nach Literatur, kürzte dafür allerdings wie eine Irre, schickte das neue Handout am Montag zur Dozentin, saß am Dienstag erst in der Uni und dann immer noch am Referat, das partout nicht kürzer als 25 Minuten werden wollte (ich hatte es mir inzwischen achtmal in acht Varianten selbst erzählt) und guckte immer nervöser auf die Uhr. Das Spiel nahte, ich war im Kopf aber in England bei den bombenlegenden Frauen und merkte: Da will ich auch bleiben.

Daher bot ich mein Ticket auf Twitter an, bekam einige bedauernde Smileys von Menschen, die ich vom tpmuc kenne und die sich schon auf das Spiel freuten, und dann entwickelte sich dieser Dialog:

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So drastisch (und so großartig) fiel mir das eigentlich erst in diesem Moment auf.

Seit gut einem Jahr wird mein Tag nicht mehr von Briefings und Meetings bestimmt, sondern von Seminaren und Vorlesungen. Seit gut einem Jahr stehe ich nicht mehr jeden Wochentag um 7 auf, sondern mal um 6, mal um 8 und mal klingelt nicht mal der Wecker (gasp!). Ich sitze nicht mehr in Agenturen oder im Home Office, sondern in Hörsälen, Seminarräumen und vor allem Bibliotheken. Und genau diese kleinen Racker machen mich fürchterlich glücklich. Ich liebe es so sehr, mitten in einem Stapel Bücher zu sitzen und lauter Gedankengängen zu folgen, die mir bis vor wenigen Sekunden neu und unbekannt waren. Ich liebe es, mich von Fußnoten zu noch einem Buch leiten zu lassen, das in der tollen Historicumsbibliothek oder meinem Liebling, der KuGi-Bib, quasi direkt hinter mir steht. Ich muss nur zugreifen und schon steht mir noch mehr Wissen zur Verfügung. Ich hätte selbst nicht gedacht, wie viel Spaß es mir macht, dazuzulernen. Ganz simpel: Kopf aufmachen, lesen, lernen, fertig. In sämtlichen Seminaren, selbst dem einen, das sich etwas zieht und zäh ist und ein bisschen nervig, habe ich alle fünf Minuten das Loriot’sche „Ach was?!“ im Hirn, weil ich schon wieder etwas gelernt habe. Die Verbindungen, über die ich schon mal bloggte, werden mit jedem Kurs und jedem Buch dichter, und ich kann kaum beschreiben, wie großartig ich das finde.

Ich bin so begeistert davon, zwischen vielen schlauen Menschen zu sitzen, die im Idealfall im Seminar genauso gerne diskutieren wie ich, die genau wie ich kunsthistorische Theorien anzweifeln oder sich spontan in sie verlieben, die über Geschlechterbilder nachdenken, über die Zensur während der Aufklärung, über den städtebaulichen Unterschied von Regensburg und München, über die Entstehung der Universitäten im Mittelalter, über handschriftliche Signaturen in alten Büchern und was sie bedeuten, über (hoffentlich) ungewollt rassistische Konzepte in Ausstellungen, über feministische Kunst, ach, über alles, was bisher nicht auf meiner Agenda stand, aber jetzt auf einmal da ist und mich und meine Standpunkte täglich herausfordert.

Es ist so befreiend, akademische Dialoge zu führen, wie ich es nie vorher vermutet hätte. Ich merke jeden Tag, wie sehr es mich befruchtet, fordert, ändert, über Dinge nachzudenken, über die ich sehr lange nicht oder noch nie nachgedacht habe. Und deswegen fiel es mir überhaupt nicht schwer, mich von meiner Fußballkarte zu verabschieden, denn ich wollte lieber noch eine Runde über die Suffragetten nachdenken und das Referat richtig gut machen und nicht nur gut – was mir laut Feedback der Dozentin auch gelungen ist.

Was ich derzeit täglich mache, ist für mich persönlich der Inbegriff von carpe diem. Ich tue den ganzen Tag Dinge, die mir Freude bereiten und mich erfüllen. Dass dafür meine Ersparnisse draufgehen, nagt zwar manchmal an mir, aber da sind wir wieder beim carpe diem: Wenn mir morgen ein Klavier auf den Kopf fällt, habe ich von der ganzen Kohle auch nichts mehr. Also werfe ich sie den Münchner Vermietern und der Lufthansa in den Rachen und bekomme im Gegenzug einen Tagesablauf, der mich definitiv glücklicher macht als die goldene Nase in der Agentur.

Mein Bachelorstudium ist in sieben Wochen halb durch, und ich überlege jetzt schon, ob ich mir auch noch den Master leisten kann. Jetzt gerade will ich nichts lieber als: lernen. Lesen. Schlauer werden. Mich mit Theorien und Diskursen auseinandersetzen in zwei Fächern, die ich mit ganzem Herzen umarme (und mich dafür auf so ziemlich jedem sozialen Kanal als Streberin titulieren lassen muss. Den Begriff umarme ich auch, immer her damit). Ich habe meine Tage bisher fürs Geldverdienen genutzt und jetzt nutze ich sie (größtenteils) für etwas anderes. Wenn das nicht YOLO ist, weiß ich es auch nicht.


Edit 17.12.:

Bildschirmfoto 2013-12-19 um 17.57.35