ESA: European Space Awesomeness
Am 6. August 2014 erreichte Rosetta endlich den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko, nachdem die tapfere Sonde zehn Jahre lang unterwegs gewesen war. Die Annäherung an den Kometen wurde live von der ESA gestreamt, ich lag im Bettchen, hatte Semesterferien, guckte gebannt auf mein Macbook, twitterte und ließ hemmungslos das Space-Fangirl raushängen. Das bekam Andreas Schepers mit, der die PR für die ESA macht – wir folgen uns schon länger auf Twitter –, der daraufhin ein, zwei mir schon lange bekannte Damen und mich einlud, doch einfach mal in Darmstadt rumzukommen und sich den Laden anzugucken. Also ESA. Die europäische Weltraumorganisation. Angucken. Mal so.
Nachdem ich aufgehört hatte zu hyperventilieren, sagte ich kreischend zu (danke, Twitter, dass du ein schriftliches Medium bist), buchte Züge und Hotel und freute mich wochenlang vor. Dienstag war es dann so weit.
Herr Schepers war noch im Meeting, aber dafür holte uns Flugdynamik-Ingenieur Rainer Kresken von der Pforte ab, an der wir immer noch unsere Ausweise anhimmelten. Da es Mittagszeit war, ging’s erstmal in die Kantine. Ich erwartete mindestens sternförmige Fischstäbchen oder Ananasscheiben, die um Kiwis gewickelt waren (Saturn, you know), aber nix. (Erstmal quengeln.) Dafür sah ein Drittel der Belegschaft aus wie Sheldon Cooper. Auf meine Frage, wie es mit dem Frauenanteil aussehe, der in der Kantine jetzt nicht so irre hoch war (zehn, fünfzehn Prozent?), meinte Kresken, der sei leider recht gering, und die meisten Ingenieurinnen und Wissenschaftlerinnen der ESA seien auch nicht aus Deutschland. Wir sinnierten darüber, warum das so sei, dachten darüber nach, dass Italien und Spanien, was die Emanzipation angeht, in den 70ern quasi einen Sprung aus dem Mittelalter in die Moderne gemacht hatten, während das bei uns eher schleichend voranging, und dass die südeuropäischen Damen anscheinend eher vom Crashkurs „Everything you can do, I can do better“ profitiert haben als wir im Norden. Hm.
Dann schlenderten wir ein bisschen durch die kleine ESA-Stadt, die zwar wie ein Gewerbegebiet aussieht, aber natürlich tausendmal cooler ist, und kamen an diesem Ding vorbei:
(Foto: Andrea Diener – hier ihr ganzes Flickr-Set vom ESA-Besuch.)
Das ist ein Modell von ERS-2, dem Nachfolger von ERS-1 (ach was), die beide Erdbeobachtungen betrieben haben. Das heißt, sie beobachteten zum Beispiel Wellenbewegungen oder Eisvorkommen. Ich zitiere die Wikipedia for more amazing stuff:
„Nach dem Start von ERS-2 konnten die SAR-Sensoren von ERS-1 und ERS-2 in sehr kurzen Zeitabständen (in der Regel einem Tag) dieselbe Erdoberfläche erfassen und diese Daten für Interferometrie benutzt werden. Dabei führen die leicht verschiedenen Orbits der zwei Satelliten (in der Regel wenige 100 Meter) zu leicht unterschiedlichen „Blickwinkeln“ desselben Gebietes der Erdoberfläche. Durch rechnerische Kombination der zwei Aufnahmen konnten somit entweder digitale Höhenmodelle der Erdoberfläche erstellt werden oder auch kleine Bewegungen der Erdoberfläche zwischen den zwei Aufnahmen auf etwa einen Zentimeter genau erfasst und sichtbar gemacht werden (differentielle Radar-Interferometrie, DInSAR).
So lieferten die Satelliten Daten über Veränderungen der Erdoberfläche vor oder nach einem Vulkanausbruch oder über Verschiebungen der Erdoberfläche durch Erdbeben. Die Expansion einer Lavakammer des Ätna oder die Vorhersage der Schlammlawine eines Vulkans in Island waren weitere Beispiele.“
Die beiden ERSis sind nicht mehr aktiv. Ihr Arbeitsplatz war in circa 800 bis 900 Kilometer Höhe über der Erde, wo sich die meisten Satelliten rumtreiben. Also auch die mit militärischen Zielen, von denen keiner wissen soll, wo sie sind, aber es gibt inzwischen nicht nur Train- und Planespotter, sondern auch Menschen, die Raketentarts genauer angucken und aus den offiziellen Daten und dem, was sie beobachten, schließen können, was da oben so rumfliegt.
ERS-1 und ERS–2 sind nur noch Weltraumschrott – oder im offiziellen Slang „Raumfahrtrückstände“ (ich bin sehr in dieses Wort verliebt). Wenn man lange genug wartet, nähern sie sich irgendwann der Erdatmosphäre und verglühen. Die chinesische Weltraumagentur CNSA hat vor kurzem einfach mal einen ihrer Satelliten mit einer Rakete beschossen, um zu gucken, was so passiert, wenn man keine Lust mehr hat zu warten. Den Satelliten hat es zerlegt und wir haben jetzt noch mehr Raumfahrtrückstände da oben. Aber eben auch die Gewissheit, dass man feindliche Satelliten, wenn’s nötig ist, außer Gefecht setzen kann. Ich weiß immer noch nicht, wie ich das finde.
Das erinnerte uns sofort an Gravity, wo dieser blöde Schrott dafür sorgt, dass George Clooney sterben muss, und Kresken meinte, den Film fänden hier alle super. Klar müsse man bei vielen Dingen alle Augen zudrücken („… was bei einem 3D-Film ganz schön doof ist“), aber das sei tolles Kino. Das hat mich etwas überrascht; ich dachte, wenn man wirklich weiß, was da oben abgeht, könnte man sich das nicht angucken, aber nein, ganz im Gegenteil.
(Foto: Andrea Diener)
Der nächste Stopp war vor einem Gebäude, durch dessen Fenster wir gucken konnten, wo ein weiteres Modell auf uns wartete – und zwar eins von Rosetta. Das ist komplett baugleich bis auf die rechts und links angebrachten Solarsegel, die jeweils 16 Meter lang sind, und dafür ist der Raum zu klein. Rosetta ist ordentlich groß, wenn sie ein Würfel statt einer Tonne wäre, hätte sie eine Kantenlänge von ungefähr zwei Metern. Das Modell wird dazu genutzt, Befehle auszuprobieren, bevor sie an die echte Rosetta geschickt werden, oder Gegenmaßnahmen zu testen, falls wirklich mal etwas schiefläuft. Quasi wie bei Apollo 13, wo die Jungs auf der Erde Sauerstofffilter nachbauen mussten aus Zeug, das die Jungs oben in der Raumkapsel zur Verfügung haben.
Nebenbei: Ich hoffe, ich habe mir alles richtig gemerkt, ich hatte nichts zum Mitschreiben dabei, weil ich nur gucken und staunen wollte, aber im Nachhinein ärgert mich das doch etwas, dass ich nur aus der Erinnerung zitieren kann – und das vor allem wahrscheinlich so unwissenschaftlich wie nix Gutes. Hey, ich studiere KUNSTGESCHICHTE! Wenn’s um eine Bildanalyse von 67P geht – ruft mich an! Wenn’s um physikalischen Kram geht – Bahnhof mit sieben Siegeln. Rainer, wenn hier kompletter Quatsch steht, melde dich bitte.
Nach dem Rosetta-Modell ging’s in ein Gebäude, wo wir ehrfürchtig vor einem Kontrollraum rumlungerten und den Ingenieuren durch die Glasscheibe bei der Arbeit zuguckten. In diesem Fall arbeiteten sie an der Rosetta-Mission, aber ich muss gestehen, ich habe vergessen, woran genau. Der Komet 67P, dem sich Rosetta gerade nähert, ist übrigens nicht grau, wie wir ihn aus den ganzen Aufnahmen kennen, sondern pechschwarz. Aber so ein schwarzer Komet im schwarzen All sähe halt doof aus in den Pressebildern.
Kresken erklärte uns, warum der Komet so wichtig für die Forschung ist. Kometen sind generell „Bauschutt“ des Universums Sonnensystems (Edit-Tweet 1 und 2). Beim Big Bang flog viel Zeug rum, und Kometen tragen quasi den Bauplan des Universums in sich: Ihre stoffliche Zusammensetzung kann uns viel über die Entstehung des Weltalls verraten – vor allem, wenn sie noch Wasser enthalten. Das Problem bei Kometen: Es gibt periodische und aperiodische. Die periodischen haben eine feste Umlaufbahn um die Sonne, wir wissen, wo sie wann sind – aber durch ihre Nähe zur Sonne geht gerne mal das ganze schöne Wasser verloren, das uns so interessiert. Die aperiodischen Kometen kommen nur einmal bei uns im Sonnensystem vorbei, wir beobachten sie, wenn wir Glück haben, und schon sind sie wieder weg. Aber dafür haben sie all das gute Zeug an Bord, das wir erforschen wollen. Das Tolle an 67P: Er vereint quasi das Beste aus beiden Welten in sich. Laut Wikipedia war er ein langperiodischer Komet – hatte also eigentlich eine feste, wenn auch eeeewig lange Umlaufbahn um die Sonne –, wurde aber von einem Gravitationsfeld gestört und so zu einem kurzperiodischen, den wir verfolgen können. Und: Wir gehen davon aus, dass er noch Wasser bzw. Eis mit sich führt. Deswegen ist Rosetta so wichtig – und ihr Gepäck Philae noch mehr: Wenn Philae im November wie geplant über dem Kometen (der übrigens 800 Millionen Kilometer von uns weg ist, so von wegen „kurz“) abgeworfen wird, soll der Lander erstmals auf einem Kometen Messungen vornehmen.
Hier bitte mal kurz anerkennend in Richtung Darmstadt nicken.
Beim Thema Big Bang kam das Stichwort Kreationismus auf und um was für irrwitzige wissenschaftliche Erkenntnisse sich die Menschen bringen, die daran glauben. Trotzdem fragte ich nach: Besteht nicht doch irgendwo eine winzige Möglichkeit, dass das Universum geschaffen wurde anstatt einfach so zu beginnen? Kresken meinte, es sei durchaus möglich, Gottesglauben und die Wissenschaft miteinander zu vereinbaren – bei der ESA gäbe es auch genügend gläubige Menschen –, aber man könnte schlicht erklären, wie das Universum entstanden sei und müsse nicht mehr an irgendwas glauben. Interessanterweise besitzt ausgerechnet der Vatikan die größte Meteoritensammlung der Welt und beteiligt (?) sich an einem der großen Teleskope. Vielleicht sucht der Vatikan nach etwas anderem als die ESA, aber das ist nur meine Theorie.
Kresken und Schepers, der inzwischen zu uns gestoßen war, erzählten quer durch die Bank von ESA-Projekten, über die Zusammenarbeit mit der NASA, führten uns von einem Raum mit Glasscheiben, an denen coole Titel dranstanden („flight dynamics room“, „estrack control centre“, zum nächsten, wir guckten und staunten und fragten und kriegten alles beantwortet.
(Foto: Andrea Diener. Das niedliche Pappmodell an der Wand ist XMM.)
Dann durften wir endlich mal in einem Raum rein: in den Kontrollraum für XMM und INTEGRAL, zwei Satelliten, die Gamma- und Röntgenstrahlung im Weltall erforschen. XMM war eigentlich nur für fünf Jahre ausgelegt und kreist inzwischen seit 15 um uns rum, INTEGRAL immerhin seit zwölf. Eine Ingenieurin erklärte uns mit leuchtenden Augen, was genau sie da oben machen – und vor allem, was hier unten im Kontrollraum passiert. Die Satelliten senden pausenlos Telemetrie nach unten, und im Kontrollraum werden alle ankommenden Daten überwacht. Falls mal etwas unplanmäßiges passiert – das heißt, auf einem der gefühlt 20 Monitore leuchtet irgendwas nicht mehr grün, sondern rot und außerdem gibt’s ein akustisches Signal –, gibt es Handbücher (ja, genau wie in Gravity), in denen steht, welcher Befehl nach oben gesendet werden muss, um den Fehler zu beheben. Die Systeme laufen übrigens auf einem ESA-eigenen Betriebssystem, die Anwendungen sind Linux. „Aber für Twitter darf man auch Windows benutzen.“ (Edit: genau andersrum, siehe die Tweets 1 und 2 von @hessi.)
Kresken erzählte, dass sie XMM das Spritsparen beigebracht hätten: Jetzt verbraucht er nur noch ein Schnapsglas Hydrazin alle zwei Tage. Hydrazin wird auf der Erde für so gut wie nichts genutzt, was ich wieder irrwitzig fand: Da entwickelt man ein Gerät, das nur im Weltall funktioniert und betankt es mit etwas, das ebenfalls (fast) nur im Weltall Anwendung findet. (Edit: Das mit dem „so gut wie nichts“ scheine ich mir falsch gemerkt zu haben.)
Zum Abschluss gingen wir in ein weiteres Gebäude („mit dem langsamsten Fahrstuhl Westeuropas“), um ohne Vorwarnung vor dem Rosetta-Kontrollraum zu stehen. Kresken meinte launig, er suche mal Andrea, was Schepers relativ fassungslos zurückließ. Er hatte aber kaum Zeit, sich zu wundern, als plötzlich Rosettas Flight Director Andrea Accomazzo vor uns stand, der uns zwischen Tür und Angel mit lebhaften Gesten die nächsten Flugmanöver von Rosetta erklärte, die bis November bis auf weniger als 20 Kilometer (!) an den Kometen herangeführt werden soll, um den kleinen Philae abzuwerfen. Accomazzo beschrieb, wie Rosetta sich in Dreiecksbewegungen 67P nähere, der die Sonne umkreise und sich dazu noch unregelmäßig um sich selbst drehe und das bei einer irrwitzigen Geschwindigkeit (was ich bei den ganzen schönen Moodfilmchen gerne vergesse). Ich hatte sehr große Augen und konnte es kaum glauben, dass der Leiter der zurzeit wichtigsten ESA-Mission mit uns drei Noobs spricht. Wir bedankten uns euphorisch und kletterten wieder in den Fahrstuhl, wo Schepers immer noch fassungslos war: „Der wissenschaftliche Redakteur von [total wichtiges Printprodukt] wartet seit zehn Tagen auf ein Interview … wie hast du Andrea zu fassen gekriegt?“ „Ich hab ihn heute morgen angerufen, ob er nachher ne Viertelstunde Zeit hat.“ Ich war noch mehr verliebt und hätte mir vielleicht doch Körperteile signieren lassen sollen. Robbie Williams ist ja nix gegen die ganzen Jungs und Mädels da in Darmstadt.
Und das war’s dann schon. Eigentlich hatten wir uns für knapp zwei Stündchen verabredet, im Endeffekt waren es über drei, wenn ich richtig auf die Uhr geguckt habe, und ich war platt und gleichzeitig sehr begeistert. Auf Twitter quietschte ich den ganzen Abend lang rum, summte Space Oddity vor mich hin („… and the stars look very different today“) und fand es im Nachhinein doch sehr schade, damals in Physik so komplett desinteressiert gewesen zu sein.
Aber dafür interessierten und interessieren mich andere Dinge, und so guckte ich mir einen Tag später im Städelmuseum die Flémaller Tafeln an (1, 2, 3) und empfand so ziemlich das gleiche, was ich 24 Stunden vorher in Darmstadt empfunden hatte: große Begeisterung und tiefe Bewunderung für eine Leistung, die mir gerade präsentiert wird und die ich niemals auch nur in Ansätzen erbringen könnte. Aber: Die mittelalterliche Malerei mit ihrer christlichen Ikonografie hat mir ganz persönlich dann doch noch etwas mitgeben können, was selbst die ESA nicht hinkriegt: das Gefühl von Aufgehobensein. Der Weltraum ist für mich irrwitzig spannend, aber gleichzeitig zutiefst unheimlich in seiner Unermesslichkeit, die ich in meinem Kopf schlicht nicht erfassen kann. Ich weiß, dass Einrichtungen wie ESA und NASA und wie sie alle heißen, genau diese Unsicherheit abbauen mit ihren Forschungsmissionen und -ergebnissen, mit Zahlenreihen, Berichten und Beweisen. Jede Art von Wissenschaft soll Bestätigung bringen, wo wir herkommen, wohin wir gehen und wie wir uns auf dem Weg verhalten. Aber ich ganz persönlich kann mir immer noch eher einen göttlichen Funken vorstellen als Materie, die aus Nichts entsteht.
Wobei: Vielleicht sind die beiden Theorien gar nicht so weit auseinander.
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(Ich bin jetzt selbst ein bisschen überrascht über das Ende. Wenn ich über Dinge schreibe, die ich erlebt habe oder darüber, wie’s mir gerade mit etwas geht – also Einträge, die kein Argument machen wollen, denn bei denen weiß ich natürlich von Anfang an, wie das Ende aussehen soll –, lasse ich meine Finger einfach lostippen, denn die wissen meist am besten, wo sie hinwollen. Ich hatte nicht geplant, einen Eintrag über eine wissenschaftliche Einrichtung mit einer theologischen Frage zu beenden, aber jetzt, wo sie da steht, lasse ich das so. Passt schon.)