Journal 12. Dezember 2014 –
Nervquatsch, Kunst und gutes Essen
Gestern habe ich mir einen Urlaubstag gegönnt.
Dieses Semester war das erste, in dem ich etwas die Zähne zusammenbeißen musste, das erste, in dem sich ein Kurs bzw. ein Referat wie Arbeit angefühlt haben anstatt wie sonst wie ein Geschenk. Denn dieses Semester ist quasi mein letztes vor der Bachelorarbeit, das heißt, ich muss darin alle Kurse unterbringen, für die ich noch ECTS-Punkte brauche (oder Scheine, wie wir old people sagen). Ich könnte natürlich auch noch im nächsten Semester Kurse machen, aber ich freue mich seit dem zweiten Semester auf das letzte, in dem ich nur noch lesen und schreiben darf – kein Klausurlernen mehr, keine Referate mehr vorbereiten (bis auf das im BA-Arbeit-begleitenden Kolloquium, wo wir alle unsere Arbeiten vorstellen), kein Stundenplan, nur noch die Bibliothek, mein Rechner und ich. Und da ich ja mit Geschichte erst im dritten Semester anfing, muss ich jetzt ein bisschen quetschen. Wie sehr ich quetsche, merke ich an dem vielen Zeug, das auf einmal auf dem Schreibtisch liegt und mich dieses Mal deutlich mehr angestrengt hat als erwartet.
Zusätzlich ging es mir gesundheitlich im Oktober und November nicht ganz so gut; darüber habe ich nicht gebloggt und das will ich jetzt auch nicht, aber da hingen schon einige Sorgenwölkchen über meinem Kopf, was Medikation angeht bzw. die Dosierung derselben und ob ich wieder in alte Muster zurückfalle, die ich doch schon weggearbeitet geglaubt hatte. Das heißt, zum körperlichen Ungleichgewicht kam auch noch das seelische, und auf einmal waren die Aufgaben, die vor mir lagen, keine lustvolle Herausforderung, sondern Stress für mich, und das kannte ich im Bezug auf das Studium noch nicht. Das kannte ich nur vom Agenturschreibtisch – aber immerhin hatte ich an dem gelernt, wie Augen zu und durch geht, und so habe ich das hier auch gemacht. Gefühlt war das das mieseste Referat, was ich je gehalten habe, und ich freue mich nicht so sehr auf die Hausarbeit, weil ich weiß, dass das die alten Gefühle wieder hochspülen wird, aber mei, die schiebe ich jetzt aufs Semesterende, gebe erstmal alle Bücher zurück, die dafür hier rumliegen und konzentriere mich auf die zwei tollen Hausarbeiten, die ich vorher schreiben werde und bei denen ich sehr zufrieden mit den Referaten war.
Eins davon habe ich Donnerstag gehalten und deswegen hatte ich Freitag auch zum ersten Mal in diesem Semester das Gefühl, einen Berg weggeschaufelt zu haben. Alle Referate durch, jetzt für die Klausuren lernen und eben zwei schöne Hausarbeiten schreiben, aber das hat noch ein paar Tage Zeit, jetzt kann ich mir einen Tag Auszeit gönnen. Und das habe ich dann auch gemacht.
Erstmal ausschlafen. Bei Kerzenlicht des Adventskranzes im Bett rumlungern, ein bisschen lesen, entspannt frühstücken und dann, als einzige Pflichtaufgabe, in die Bayerische Staatsbibliothek fahren, um Mahngebühren zu bezahlen und ein Buch abzugeben. Das Buch gehört natürlich zum Nervreferat und es ist bereits das zweite, für das ich gemahnt wurde. Die Stabi und die Unibibliothek haben ein eigentlich idiotensicheres System: Man wird per Mail ein paar Tage vor Ablauf der Rückgabefrist an eben diese erinnert, und normalerweise läuft das bei mir so: Ich kriege die Mail, springe sofort auf, suche das betreffende Buch raus und lege es in die Flur, damit ich es bei der nächsten Fahrt zu Uni mitnehme. Oder ich verlängere sofort nach Mailerhalt das Buch online. Dann wird die Mail gelöscht und ich weiß, alles ist gut.
Mit dem Nervreferat hatte ich schon in den Sommersemesterferien angefangen. Wir erinnern uns? Ich muss sehr viel in dieses Semester quetschen und dachte daher, machste doch schon im Vorfeld so viel, wie geht. Das war eine sehr blöde Idee, denn nach Grimald und vor allem Frauenchiemsee war ich ein bisschen durch und wollte erstmal Pause machen, habe mich aber nicht getraut, weil ich ja wusste, dass ich so viel vor mir habe blablabla, las also weiter, obwohl mein Kopf überhaupt keine Lust hatte, und dementsprechend war von Anfang an meine Laune bei dem Thema. Außerdem liegen daher seit Monaten die gleichen Bücher bei mir rum, die ich stumpf verlängere, bis irgendwann die Mail kam, geht nicht mehr mit dem Verlängern, jetzt bring das Ding zurück, du liest es doch eh nicht, Hase. Und zum ersten Mal in zweieinhalb Jahren habe ich eine derartige Mail unbewusst ignoriert, warum auch immer. (Mein Kopf ist noch bockiger als ich, glaube ich.)
Jedenfalls stand ich eines Tages in der Stabi, wollte 50 Cent Vormerkgebühren für ein Buch am Kassenautomat bezahlen, ließ meine Bibliothekskarte scannen und guckte sehr erstaunt, als die Anzeige was von 8 Euro faselte. Ich zahlte, holte mein Buch ab und ging schnurstracks zur Information, wo ich nachfragte, was es mit dieser IRRSINNSSUMME auf sich hätte. Die freundliche Dame an der Auskunft bescheinigte mir, dass sie mir eine Mahnung geschickt hätten, weil ich ein Buch partout nicht wieder hergeben wollte. Ich plusterte mich ein bisschen auf, erwähnte meine ungeheure Selbstdisziplin, wenn es um Buchrückgaben geht, und meinte, ich hätte keine Mahnung gekriegt – die Dame guckte nochmal nach und meinte, doch, wir haben vor ein paar Tagen eine rausgeschickt, hier, Gärtnerstraße, Hamburg.
Ich so: *patsch* Als ich meinen Bibliotheksausweis beantragte, hatte ich noch keine Wohnung in München und habe daher natürlich meine Hamburger Adresse angegeben. Der Kerl ruft nicht jedesmal an, wenn ein Brief an mich in Hamburg landet, sondern sammelt alles ein paar Tage, und dann machen wir per Facetime lustiges Postaufmachen seinerseits, während ich mich darauf beschränke, zu so ziemlich jeder Korrespondenz „Kann weg“ zu sagen. Die Dame änderte sofort meine Adresse, ich bedankte mich piepsig für die Auskunft und radelte nach Hause.
Nur um vorgestern eine weitere Mahnung vorzufinden, dieses Mal an die Münchner Adresse, für ein weiteres Buch aus dem Nervreferat.
Genau das brachte ich gestern zurück, zahlte erneut 7,50 Mahngebühr, und damit begann mein Urlaubstag, den ich offensichtlich nötiger hatte als ich dachte.
Mit der U-Bahn bis Marienplatz, mit der S-Bahn bis zum Rosenheimer Platz, wo ich im Sommersemester immer ausgestiegen bin, um im Gasteig Italienisch zu lernen. Auf dem Weg in den Gasteig kam ich stets an einem kleinen Laden für Kochkram vorbei, der glücklicherweise immer geschlossen hatte, wenn ich von 8 bis 9.30 Uhr in einer fremden Sprache vor mich hinstümperte. Also guckte ich nur sehnsuchtsvoll und mit dem inneren Blick auf mein leerer werdendes Konto in das Lädchen, in dem wunderschönes Geschirr und Kochbücher locken. Nach acht Monaten Lockruf knickte ich ein und kaufte zwei Pantonekaffeetassen in unterschiedlichen Grüntönen. Das Schöne an meiner Münchner Wohnung ist: Sie ist so klein und in ihr steht so wenig rum, dass ich alles schick colorcoden kann. Mein Küchenschrank ist weißgraugrünblautürkis und mein innerer Monk freut sich jedesmal, wenn ich ihn öffne. Jetzt hat er noch zwei grüne Farbkleckse mehr; eine Tasse für den Kerl und eine für mich. (Der Herr hat sich per Twitter-Foto brav genau die ausgesucht, die ich für ihn vorgesehen hatte. Ha!)
Dann schaute ich nebenan nach neuen Ohrringen, wurde aber nicht fündig. Dann wird dort eben online geshoppt.
Nächster Programmpunkt: die Pinakothek der Moderne. Dort wollte ich mir endlich die Beuys-Ausstellung anschauen und eine neue Ausstellung mit Lina Bo Bardi, über die ich hier bereits schrieb. Durch die wenigen Räume Beuys schlenderte ich gemächlich und amüsiert, freute mich über seltsame Sätze, wollte dann eigentlich noch zum Ende des XX. Jahrhunderts, aber in dem Raum stand gerade eine Gruppe rum, also ging ich weiter zu meinen Lieblingen, den Minimalisten, und staunte wie immer über Donald Judd, Dan Flavin und Fred Sandback. Und plötzlich stand ich in einem Saal mit Bildern, die mich sofort erwischten: Stephan Melzls Ausstellung Superhero.
Stephan Melzl, „Sockel“ (2013), ca. 65×50 cm, Privatsammlung.
Melzls Bilder sind alle recht kleinformatig, so um die 50, 60 Zentimeter hoch, Öl auf Holz, und sie hängen ungerahmt an den Wänden. Die Pastelltöne sind meist stumpf, aber einige von ihnen scheinen aus dem Bild zu leuchten, als ob in ihr Neonpartikel sind. Sie setzen kleine Glanzlichter auf die sowieso schon irrealen Settings und machen sie noch unwirklicher. Wenn ich mich richtig erinnere, sind auf allen Bildern Menschen zu sehen, und genau wie bei Hans Op de Beeck steht man meist leicht verstört vor den Werken. Irgendwas ist nicht so, wie es sein soll, und man kann meist nicht sofort sagen, was. Oder man guckt immer länger hin und je mehr man guckt, desto unangenehmer wird’s.
Eins meiner Lieblingsbilder zeigt eine Frau im Wasser. Das Bild heißt, laut Pinakothek, Pool 2, im Link heißt es Schwimmerin 2, keine Ahnung, was richtig ist. Mein erster Eindruck war: Freiheit. Entspannte Nacktheit, wie schön. Aber dann fiel mir auf, wie dicht der Mund der Frau an der Wasseroberfläche ist; sie kann gerade noch so atmen, zwei Zentimeter tiefer tauchen und sie müsste die Luft anhalten. Dann erschien mir ihre Nacktheit auch nicht mehr frei, sondern ich fühlte mich wie eine Voyeurin, denn unser Blick ist nicht der der Menschen, die am Pool herumstehen; diese (imaginären) Zuschauerinnen können den Körper nicht sehen, er ist unter Wasser und vor den Blicken halbwegs geschützt. Wir dagegen befinden uns auf Augenhöhe mit der Schwimmerin, sie kann sich unseren Blicken nicht entziehen, selbst wenn sie ganz untertauchen würde. Sie ist schutzlos, sie kann sich nirgends festhalten, der Grund des Pools oder des Sees ist nicht sichtbar, sie kann sich nur selbst über Wasser halten und ist damit sehr angreifbar. Gleichzeitig nimmt der Körper einen sehr großen Raum im Bild ein. Ich musste daran denken, wie lange mein Körper viel zu viel Raum in meinen Gedanken eingenommen hatte und wieviel positive Kraft er nur durch sein nicht normgerechtes Aussehen in mir ausgelöscht hat, wie lange ich ihn verstecken wollte, sie sehr ich manchmal untertauchen wollte und nicht mehr atmen.
Das klingt jetzt dramatischer als es war, aber bei so ziemlich allen Bildern von Melzl drängelte bei mir irgendwas an die Oberfläche. Ich mag es, wenn Kunst was mit mir macht.
Zum Abschluss des Obergeschosses ging ich wie immer zu meinem allerliebsten Lieblingslehmbruck, dessen Eindruck dieses Mal ein bisschen von zwei laut redenden Aufsehern gestört wurde, aber das verzeihe ich den Herren. Ich kann ja wiederkommen. Immerhin gingen sie ein bisschen von mir weg, als ich den Gestürzten betrachtete.
Im Erdgeschoss schlenderte ich dann durch die Architekturausstellung über Lina Bo Bardi. Die Ausstellungsgestaltung gefiel mir sehr gut: Teilweise waren die Zeichnungen und Fotos ihrer Werke auf nachgebildeten Ziegelsteinen angebracht, teilweise auf großen Papierbahnen, die sich leicht bewegten, wenn hinter ihnen jemand langging. So bekamen die eigentlich starren Gebäude etwas Belebtes. Grundrisse kann ich dank des Studiums inzwischen prima lesen, aber mit Architekturzeichnungen hatte ich mich noch nicht intensiv auseinandergesetzt. Auch das klappte gut, vor allem, weil genug Bildmaterial neben den Plänen hing, so dass man immer schön hin- und hergucken konnte. Es hat mich trotzdem überrascht, wie klein alles in Wirklichkeit war, was mir auf den Plänen viel weitläufiger vorkam. Ich mochte Bo Bardis Schlichtheit sehr gerne – logisch, wenn ich die Minimalisten mag – und ich wäre gerne deutlich länger in der Ausstellung geblieben, aber das wurde mir leider verwehrt. Ich habe keine Ahnung, warum die MacherInnen unbedingt Klang in die Räume einbringen wollte. Ich spreche auch kein Portugiesisch, daher weiß ich nicht, was genau ich die ganze Zeit gehört habe. Manchmal klang es, als hätten sie einfach ein Richtmikrofon auf die lauteste Kreuzung von São Paulo gestellt und das so richtig schön aufgedreht. So lange ich zuhörte, hörte ich Stimmen und Straßenlärm; irgendwann versuchte ich den Lärm – das war kein Klang, das war Lärm – auszublenden, aber das gelang mir irgendwann nicht mehr, weswegen ich die letzten Räume sehr schnell abschritt und latent genervt wieder aus der eigentlich empfehlenswerten Ausstellung rauskam. Ich nehme an, die Soundkulisse sollte Bo Bardis Arbeit in einer Großstadt zeigen und vielleicht, dass ihre Architektur nicht schweigsam und still irgendwo am Ende der Welt rumsteht, dass auch die Kirche, die sie entwarf, für die Menschen da war, dass in ihrem Restaurant Leben herrschte, aber ich fand es wirklich störend.
Am Ausgang sprach mich eine junge Frau an, ob mir der Ausstellungsbesuch gefallen habe und ob ich kurz ein paar Fragen auf einem Tablet beantworten wolle. Wollte ich. Hat’s mir gefallen? Logisch. Nutze ich Twitter und Facebook der Pinakotheken? Logisch. Habe ich eine Jahreskarte? Äh. Hm. Die Möglichkeit „Ich darf das ganze Jahr umsonst rein, weil ich Kunstgeschichte studiere und ihr so nett seid, mich hier so reinzulassen, also habe ich im Prinzip eine Jahreskarte, BECAUSE YOU’RE AWESOME“ gab’s leider nicht, sonst hätte ich das angeklickt und noch ein paar Herzchen dahintergemalt. Dann die Frage, Student? Vollzeit beschäftigt? Und da weiß ich seit Monaten nie, was ich sagen soll. Auch wenn mich neue Bekanntschaften fragen, was ich mache, weiß ich das nie. Ich bin im Prinzip Texterin, aber ich texte so gut wie gar nicht mehr. (Bockigkeit.) Ich bin Studentin, aber das hört sich so an, als würde ich eigentlich kellnern gehen. (Not that there’s anything wrong with that.) Ich weiß gerade selbst nicht, was ich bin und habe deswegen teilzeitbeschäftigt angeklickt, was so halbwegs hinkommt.
Ein letzter Blick auf die Alte Pinakothek, dann der kurze Fußweg zur Bushaltestelle, ab nach Hause. Vorher noch zu meiner Lieblingsmetzgerei, in die der Kerl unfassbarerweise in diesem Monat öfter eingecheckt hat als ich, weil er dauernd Leberkäsesemmeln haben will, wenn er hier ist. Seit Tagen möchte ich Steak essen und das habe ich dann zum Tages- und Urlaubsabschluss auch gemacht. Mit Mr. Pommeroy und Admiral von Schneider, Kartoffelgratin, Salat, einem guten Wein und noch Espresso und Schnaps hinterher.