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„Die Münchner Universität, die einzige Großstadtuniversität, die bis zum Ersten Weltkrieg Frauen regulär immatrikulierte, hatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts für Studierende geisteswissenschaftlicher Fächer eine hohe Anziehungskraft weit über Bayern hinaus: Heinrich Wölfflins Name leuchtete in der Kunstgeschichte, Karl Vossler galt als führender Romanist seiner Zeit, Geschichtswissenschaft und vor allem Philosophie genossen einen hohen Ruf, in der Deutschen Philologie wurde durch Carl von Kraus, den Lessingspezialisten Franz Muncker, durch Fritz Strich und den unkonventionellen und von den Kollegen mit einigem Argwohn beobachteten Artur Kutscher eine breite Methodenpalette angeboten. (Daß Kutscher sich allerdings so intensiv mit noch lebenden Autoren beschäftigte und über einen Bänkelsänger und Bürgerschreck vom Schlage eines Frank Wedekind eine Monographie vorlegte, ging den Universitätskollegen dann doch zu weit. [21])

Marieluise Fleißers Belegblatt für das erste Semester sieht man den Eifer der Anfängerin an, es dokumentiert einen übervollen, wohl kaum zu bewältigenden Stundenplan: 21 Wochenstunden (+ eine Übung ohne Stundenangabe). [22] Als erstes belegt sie eine fachfremde Veranstaltung eines Privatdozenten der Medizin (Dr. Georg Hohmann) „für Hörer aller Fakultäten“: „Die körperliche Erziehung des wachsenden Menschen (mit Lichtbildern)“, dann „Die Weltanschauung der Romantik“ des nichtplanmäßigen a.o. Professors Christian Janentzky, Franz Munckers Vorlesung „Geschichte der deutschen Literatur von der Blütezeit bis zum 15. Jahrhundert“. Das Studium bei Artur Kutscher beginnt sie mit einer Vorlesung zu den Grundsätzen und einer Übung zur praktischen Theaterkritik. „Dabei wählten wir meist Aufführungen“, erläutert Kutscher in seiner Autobiographie, „über die noch kein Urteil vorlag. Wir gingen oft gemeinsam ins Theater, und die Studenten hatten ihre Kritik entweder in Form eines Telegramms oder eines Zeitungsberichts von vorgeschriebener Länge gleich nach Schluß der Vorstellung zu schreiben und an mich adressiert vor Mitternacht in den Briefkasten zu werfen.“ [23] Ferner setzt Marieluise Fleißer die Beschäftigung mit der französischen Sprache aus ihrer Gymnasialzeit fort und schreibt sich bei Jules Simon, Lektor für Französisch, für Übersetzungs- und Interpretationsübungen ein. Und natürlich läßt sie sich den großen Heinrich Wölfflin nicht entgehen und hört seine Vorlesung „Über den Charakter der deutschen Kunst“.

[21] Artur Kutscher: Der Theaterprofessor. Ein Leben für die Wissenschaft vom Theater, München 1960, S. 144f.
[22] Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität, Immatrikulationskarte Fleißer und Belegblätter für das Wintersemester 1920/21 und das Sommersemester 1921.
[23] Kutscher: Der Theaterprofessor, S. 150.

(Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie, Frankfurt am Main/Leipzig 2007, S. 32/33. Das erste Buch, das nichts mit der Uni zu tun hat, das ich seit Weihnachten in der Hand habe. Okay, neben der Geschichte der O. Bei dem ganzen Grey-Hype dachte ich, lieste doch mal das Original.)