Learning by doing
Die letzten acht Wochen habe ich quasi am Schreibtisch gelebt. Neben mir meine Teekanne, anfangs mit Assam, dann mit Ostfriesentee, neuerdings mit Earl Grey darin, das Milchkännchen, meine japanische Teeschale. (Irgendwann werde ich grünen Tee mögen, aber jetzt gerade findet in der Schale halt ein kleiner culture clash statt. Sie scheint nichts dagegen zu haben.) Eine Vase mit Blumen links von mir. Direkt vor mir mein MacBook Air. Und auf dem kompletten Rest des Tisches: Bücher, Bücher, Bücher, Stifte, Textmarker und Post-its in verschiedenen Farben, mein Moleskine, in das ich während der Vorlesungen und Seminare schreibe, Karteikarten, auf die ich das Geschriebene verkürzt bzw. sortiert übertrage und mit denen ich lerne, noch mehr Bücher, noch mehr Karteikarten. Ende Januar habe ich sieben Klausuren geschrieben, im Januar selbst meine erste Hausarbeit, während ich noch Uni hatte, im Februar und bis gestern in der vorlesungsfreien Zeit zwei weitere Hausarbeiten. Der Abgabetermin ist der 5. bzw. für zwei Arbeiten der 15. März, aber ich bin jetzt mit allem durch und packe gerade den Koffer für Hamburg. Nach acht Wochen habe ich zum ersten Mal Zeit, richtig Luft zu holen und zu gucken, wie es mir geht.
Mir geht es hervorragend.
Die Wochen vor den Klausuren waren sehr anstrengend, aber gleichzeitig fand ich es großartig zu merken, wie ich inzwischen akademisch arbeite. Allmählich ist ein Rhythmus da, allmählich kommt eine gewisse Routine, was den Ablauf von Lernen und Hausarbeitenschreiben angeht. Und nach fünf Semestern kommen auch im Minutentakt die Querverbindungen, die mich von Anfang an so fasziniert haben, dieses „Hey, davon habe ich in Kunstgeschichte schon gehört“, wenn in Geschichte ein Thema aufpoppt und umgekehrt. Allmählich wird aus den vielen Einzelteilen, die ich hier vorgesetzt bekomme, ein Ganzes. Oder wenigstens ein Teil eines Ganzen, den ich überblicken und an den ich einen anderen Teil anlegen kann. Allmählich öffnet sich vor mir die, Achtung, jetzt wird’s pathetisch, aber ich habe sehr viel Tee intus, ganze klare Schönheit von Geschichte und Kunst, von den Verknüpfungen, die sie miteinander und durcheinander entwickeln und denen ich jetzt nachspüren darf. Bei jedem Buch, das ich jetzt lese oder überfliege, bleibt irgendwas hängen, weil inzwischen ein Raster da ist, in dem etwas hängenbleiben kann. Bei jedem neuen Thema ist ein winziger Referenzpunkt da, auf den ich zurückgreifen kann und der mich weiterträgt. In jeder Kirche habe ich andere Kirchen vor Augen, bei jedem Bild, das ich anschaue, tauchen andere auf. Ich sehe Mode anders an, Theaterkostüme, Werbeplakate. Ich schaue teilweise nicht mehr inhaltlich, sondern nach Struktur, Farbe, Aufbau, Bedeutungen, Referenzen, Möglichkeiten, das Gesehene einzuordnen, in mein Raster zu packen, es im Kopf zu behalten, weil ich weiß, dass ich es noch mal brauchen werde. Um mich herum ist auf einmal so viel Schönheit, die ich vorher nicht gesehen habe, weil ich anders auf meine Welt geschaut habe. Und auf meinem Nachtisch stapeln sich Bücher, die ich vor zwei Jahren nicht mal in die Hand genommen hätte.
Mich schrecken wissenschaftliche Texte nicht mehr, sie fordern mich heraus. Und wenn ich einem erliege, greife ich zu einem anderen, den ich erobern kann. Irgendeiner wird mir schon sagen, was ich wissen will, denn ich will so viel mehr wissen als noch vor zweieinhalb Jahren im ersten Semester. Mit jedem Einzelteil, das ich einordne, merke ich, wieviele noch fehlen, und wenn ich genug Tee trinke (und meine neu eingestellte Medikation so gut weiterfunktioniert wie jetzt gerade), werde ich sie alle aufsammeln.
Ich werde weiter Bücher lesen, Texte schreiben, Karteikarten beschriften, Moleskines nachkaufen. Ich will noch nicht, dass das aufhört, was mir in den letzten acht Wochen so unglaublich viel Freude bereitet hat und mir eine ungeheure Befriedigung und einen tiefen Frieden verschafft hat. Zu wissen, ich stehe morgens auf, um nichts anderes zu tun als zu lesen, zu schreiben und zu lernen, davon zu profitieren, was andere vor mir gelesen, geschrieben und gelernt haben, hat mich so glücklich gemacht wie selten etwas anderes. Es ist ein anderes High als Fußballjubel oder Opernglück oder bei Sonnenuntergang auf die Elbe oder die Isar zu gucken oder im Arm des Lieblingsmenschen einzuschlafen. Es ist ein High, das ganz alleine aus mir kommt. Ich alleine sitze hier und lese und schreibe und lerne. Ich alleine gehe in die Bibliothek und fussele wahrscheinlich viel zu lange an Fußnoten rum oder an der richtigen Formulierung für die Kapitelüberschriften der Hausarbeit. Ich alleine mache das. Ich kann das. Und ich will das. Ich will das so sehr, dass ich darüber Treffen mit Freunden vergesse oder Wein nachzukaufen oder mal wieder in die Arena zu gehen. Ich will hier nur sitzen und lesen und schreiben und Tee trinken. Ich habe noch keine Noten für meine drei Arbeiten (ich habe auch erst zwei abgegeben), aber selbst wenn das keine Einsnullen werden, auf die ich natürlich hoffe, weiß ich, dass ich alles dafür getan habe, dass es Einsnullen werden könnten. Ich habe über Fußnoten und Kapitelüberschriften nachgedacht, weil ich das gerne tue und nicht, weil ich es muss. Und so richtig klar ist mir das erst in den letzten Wochen geworden, als ich merkte, wie wenig ich vermisse, wenn ich am Schreibtisch sitze, neben mir die Teekanne und die Blumen. Ja, es wäre perfekt, wenn der Lieblingsmensch und ich in einer Stadt wären, aber was ist schon perfekt. Und dieser Schreibtisch hier mit dem MacBook und den Büchern darauf – das ist schon verdammt nah dran.