Eskapismus

Ich habe noch mal darüber nachgedacht, warum ich seit längerer Zeit mit Romanen auf Kriegsfuß stehe. Ich lese fast nur noch Fachliteratur für die Uni, und wenn ich die nicht lese, lese ich Sachbücher, die irgendwas mit Kunst oder Wissenschaft zu tun haben oder Biografien (den Tick hatte ich schon einmal). Aber bei Romanen verliere ich neuerdings sehr schnell die Geduld – wobei ich nicht weiß, warum ich überhaupt ungeduldig werde.

In Sachbüchern ist fast jeder Satz eine Entdeckung für mich, er öffnet einen neuen Horizont, er zeigt mir Dinge, die mir bisher nicht aufgefallen waren. In Romanen trägt mich ein Satz nur zum nächsten, irgendwann kommt ein Plotpoint, eine Wendung, dann ist Schluss, ich lege das Buch weg und denke, ja gut, und was hab ich jetzt davon?

Ich glaube allmählich, dass mir Sachbücher inzwischen den kleinen Eskapismus ermöglichen, für den in den Jahren vor dem Studium Romane da waren (und davor Kino, das mich leider kaum noch begeistern kann). Früher las ich Romane auf dem Weg zur Arbeit, in der Mittagspause, nach der Arbeit. Sonst las ich Briefings und Produktinformationen, aus denen ich hübsche Kataloge zimmerte. Das war die Arbeit, die Romane waren das Vergnügen und meine Möglichkeit, den Kopf in andere, angenehmere Gefilde zu schicken.

Seit ich studiere, müsste die Uni die Arbeit sein. Das ist sie aber nicht. Ja, sie strengt an, fordert mich und natürlich leiste ich Arbeit. Aber sie fühlt sich nicht so an. Selbst wenn ich an Bachelorarbeiten verzweifele, fühle ich mich nicht so wie ich mich am Agenturschreibtisch gefühlt habe. Dort wollte ich, dass es endlich 18 Uhr wird und ich nach Hause gehen kann. In der Bibliothek will ich sitzen, so lange es geht – da ist eher mein Problem, dass ich nach sechs Stunden Dauerlesen nicht mehr denken kann und eine Pause brauche. Dann radele ich nach Hause, gucke eine Serienfolge weg (hey, das könnte mein Romanersatz sein, fällt mir beim Tippen gerade auf), und dann stecke ich die Nase wieder in ein Fachbuch, denn natürlich liegen zuhause auch immer genug davon rum.

Seit drei Jahren bestimmt mein Stundenplan meinen Tagesablauf und die Referatstermine gliedern mein Semester. Ich richte mich nicht mehr nach Präsentationen oder Buchungsanfragen, sondern danach, wann ich in der Uni oder in der Bibliothek sein muss – bzw. darf. Das ist der große Unterschied. Mir ist es durchaus und immer wieder bewusst, was für einen großen Luxus ich hier genießen darf. Ja, den habe ich mir selbst erarbeitet (spare in der Zeit, studiere in der Not), aber trotzdem weiß ich natürlich, dass andere Leute in meinem Alter gerade Kinder versorgen müssen, ein Haus abbezahlen oder schlicht versuchen, unverschuldet über die Runden zu kommen. Ich hingegen lebe größtenteils von meinen Ersparnissen, nehme nur noch Jobs an, die in meinen Stundenplan passen, und lasse es mir ziemlich gut gehen. Wenn man davon absieht, dass ich mir Sterneessen verkneife, die ich sehr vermisse.

Die Uni ist meine kleine Realitätsflucht. Ich brauche keine Romane mehr, damit mein Tag irgendwie erträglich wird. Ich muss mir meinen Tag nicht mehr hübsch lesen, denn er ist es von vornherein. Ich wache nicht mehr gerädert auf, weil ich mitten in der Nacht über ein Adjektiv nachgedacht habe, das der Kunde auf Seite 45 im Katalog doof fand. Stattdessen wache ich entspannt auf, gehe wissbegierig meinem Tagwerk nach und schlafe abends sattgedacht und rundgelesen ruhig und zufrieden ein. Außer ich scheitere gerade an Bachelorarbeiten, dann schlafe ich auch mies, aber selbst da wollte ich keine Romane lesen, sondern ganz im Gegenteil, noch mehr Fachbücher, denn in einem von ihnen steckt schließlich die Lösung für mein Problem.

Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass ich mein Leben gerade als kleine Flucht begreife, denn ich habe nichts, wovor ich fliehen müsste. Ich habe auch noch keinen Plan, wohin ich eigentlich flüchte. Mein Horizont reichte drei Jahre lang bis zum BA. Jetzt reicht er zwei Jahre lang bis zum Master. Keine Ahnung, was danach kommt.

Eigentlich müsste mich das nervös machen. Aber uneigentlich macht es mich gerade sehr glücklich.