Tagebuch 4. September 2015 – Amsterdam, Tag 2
Nach der modernen Kunst am ersten Tag ging’s heute zu den Alten MeisterInnen ins Rijksmuseum. Dort findet man Kunst, Kunsthandwerk und weitere Sammlungen aus neun Jahrhunderten. Bereits im Erdgeschoss faszinierte mich die Romanik und Gotik (wie immer) mit ihrer schlichten Gläubigkeit, die so feinfühlig und überzeugend präsentiert wurde. Ich mag den Goldgrund der frühen Bilder, und ich mag die stilisierten Posen der Skulpturen. Dieses Werk des Meisters von Joachim und Anna von ca. 1470 hat mich sehr berührt mit seiner Zärtlichkeit. Auf einem weiteren Bild suchte ich die Attribute der Heiligen, bis mir der Objekttext erklärte: Sie sind als Halsketten sichtbar (Katharina mit Schwert und Rad, Barbara mit Turm usw.).
Im zweiten Stock wartete dann die Ehrengalerie, eine lange Raumflucht, die auf Rembrandts Nachtwache zulief. Ich muss zugeben, ich kann mit dem Werk immer noch nichts anfangen; seine Jüdische Braut hat mich allerdings dieses Mal erwischt. Das Bild kannte ich nur aus Katalogen, aber im Original hat es mich durch seine Plastizität sehr gefesselt.
Das Bild, auf das ich mich am meisten gefreut hatte, war auch das, auf das sich anscheinend alle anderen am meisten gefreut hatten. Vor Vermeers Milchmädchen drängelten sich Gruppen und EinzelbesucherInnen; eine Dame mit überbordendem Haarschopf zog sich meinen ganz persönlichen Hass zu, als sie direkt vor dem Bild stand, es aber keines Blickes würdigte, sondern sich ständig hin- und herdrehte, um ihren Freund, Mann, was weiß ich zu finden, der ihr schließlich von hinten eine Digicam reichte – sie knipste (immerhin ohne Blitz – dann hätte ich sie auch getreten), guckte aufs Display, war anscheinend mit dem Ergebnis zufrieden und ging durch die Menschentraube nach hinten. Ohne das Bild wirklich angeschaut zu haben. Dusselige Kuh.
Nach kurzem Durchatmen konnte ich dann endlich an ihren Platz und stand vor dem Bild. Es ist wunderschön (totale Überraschung), und ich war mehr gerührt als ich dachte. Aber: Tränen runtergeschluckt und intensiv aufs Bild gestarrt, wir sind ja schließlich nicht zum Spaß hier. Ich liebe an dem Bild die Lichtstimmung; ich mag das helle Weiß des Häubchens, das fast zu leuchten scheint. Ich mag die klare Farbigkeit, das kraftvolle Blau des zur Arbeit gerafften Rockes, das schimmernde Gelbgrün der Armel und das effektvolle Rot des Unterrocks, was von unten ins Bild leuchtet. Am liebsten mag ich aber die Stofflichkeit der gelben Wamses, bei dem man fast das Gefühl hat, die einzelnen Webfäden zählen zu können. Der Verschluss hat es mir besonders angetan, die Nähte, die von oben bis unten durch das Gelb laufen. Ich mag die stille Konzentration des Mädchens; es gibt kaum einen Vermeer, der mich mehr zu beruhigen vermag. Was mir aber direkt vor dem Bild erstmals aufgefallen ist: dass das blaue Tuch auf dem Tisch beleuchtet ist. Dieser kleine helle Fleck, der das Blau in vielen verschiedenen Tönungen strahlen lässt, ließ mich minutenlang nicht mehr los, bis ich an die Rotte hinter mir dachte und endlich mal andere gucken ließ.
Der zweite Stock war eh mein Liebling: Neben den vielen, vielen Bildern der Ehrengalerie, für die alleine sich der Eintritt schon locker lohnt, gab es Delfter Porzellan (hier ein paar schnieke Leuchter), mein Lieblingsstillleben, viele wunderschöne Möbel, Kristall, Silber, Pokale aus Muscheln und: Puppenhäuser. Was mir am Museum so gut gefallen hat: dass es keine reine Gemäldegalerie war, sondern sich die vielen Objekte teilweise zu einer Erzählung gruppierten. In einem Raum hingen Bilder von Interieurs, und wie durch Zufall standen direkt daneben Schränke, Kommoden und Stühle, die direkt aus dem Bild zu stammen schienen. In einem Raum zeigte ein Bild einen Stützpunkt der Niederländischen Ostindien-Kompanie am Ganges, und daneben stand ein Schaukasten mit Geschenken, mit denen man sich Geschäftskontakte warmhielt sowie eine Vitrine mit Porzellan, das von einem Schiff der Company stammte, das gesunken und erst vor wenigen Jahren geborgen wurde. Unter einem Bild vom Walfang lagen Wollmützen von den Männern, die auf den Booten gearbeitet hatten, neben einem Stillleben voller schöner Schüssel stand Geschirr.
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Nach dem Museum waren unsere Füße platt, und wir gingen ins Hotel zurück, um uns auf die Abendveranstaltung vorzufreuen: ein Besuch in Le Restaurant, ein winziger Laden knapp einen Kilometer vom Hotel weg, der seit Jahren einen Michelin-Stern hat. Die Fotos können nicht wiedergeben, wie wunderschön alles aussah – und noch weniger, wie hervorragend alles geschmeckt hat. Wir kugelten danach im Schritttempo ins Hotel, sehr glücklich und sehr wohlig angetrunken.
Der Reinkommer waren winzige Grissini und Gewürzplätzchen mit Hummus, der herrlich frisch nach Paprika schmeckte. Hab ich verfressenerweise nicht fotografiert. Dann kam das vom Koch persönlich an den Tisch gebracht und erläutert:
Ein kleiner Chip, der kaum gewürzt war, mit Geflügellebermousse, die dafür umso mehr Eindruck hinterließ.
Mit Sepia gefärbte Macarons und Makrelencreme drin. Die Macarons zerflossen quasi im Mund.
Mein zweitliebster Gang: warme, erdige Erbsensuppe mit kühlem Minzschaum und: Grapefruit … äh … also die einzelnen Tropfen aus den Filets. Die schwammen unten in der Suppe und zerplatzten frischfruchtig im Mund, der noch mit Erde, Wärme und Kühle beschäftigt war.
Das war ein äußerst wohlschmeckender Überraschungseigang: Eine Kartoffel, die nach Markknochen aussah, mit Heringsrogen, unter dem sich Rindertartar versteckte. Daneben ein bisschen Meerrettichschaum und Avocadocreme.
Mein Lieblingsgang: mit sehr viel Zitronigem marinierter Tunfisch, Wasabischaum und Fenchel. Hört sich erstmal wie die übliche Sushikombination an, war aber viel zarter und intensiver. Bei dem Gang war ich kurz davor, den Teller abzulecken.
Kabeljau, Auberginenpüree, Pfifferlinge, ein bisschen Gemüse – das war alles schon toll, aber dann kam die Beurre Blanc mit Zitronenthymian und machte alles tollstens von toll.
Der Hauptgang war der schwächste von allen, aber das ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Schweinefleisch finde ich relativ banal, auch wenn’s ein Iberico-Schwein war. Der Schweinebauch war allerdings ein Kracher (Kunststück, bei Fett und knackiger Kruste, da kann ja wirklich kaum was schiefgehen), und die winziges Blumenkohl- und Broccoliröschen waren bissfest und aromatisch. Die Sauce war mit Râs al Hânout gewürzt, was interessant war, aber irgendwie auch ein bisschen beliebig. Vorne leckeres Trüffelkartoffelpüree, hinter dem Fleisch, nicht zu erkennen, weil ich zu hektisch fotografiert habe, der eigentliche Star des Tellers: Spinat mit Estragon gewürzt. Da stank dann die gestern noch so gelobte Estragonmayonnaise aber ziemlich ab.
Der Käsegang aus fünf verschiedenen Käsen war herrlich – sieht aber auf dem Foto total doof aus, daher müsst ihr euch jetzt mal einen Teller mit fünf kleinen Stücken Käse und ein nussiges, hauchdünn geröstetes Früchtebrot dazu vorstellen.
Und dann gab’s endlich was Süßes.
Buttermilcheis mit Rhabarber, einmal geröstet, einmal geschmort, und dazu: Gurkenstückchen. Die waren der Hammer.
Ein Eclair mit Baiserstäbchen, Nektarine und Cassis-Parfait. Ich war nach drei Weiß-, einem Rot- und einem Desserwein schon völlig am Ende, aber dann kam noch was. Mir entfleuchte ein „It never ends!“, woraufhin der stets aufmerksame Kellner lächelnd meinte: „It will end sometime“, was ich dann sofort wieder bedauerte.
Ein Haselnusshörnchen, Cassisgelee, Macarons mit irgendwas, Kekse mit Dulce de Leche und ein winziger, glasierter Kuchen … danach bekamen wir noch ein ofenwarmes Madeleine gereicht, aber ich hatte keine Kraft mehr, das iPhone hochzuheben, ein weiterer Teller mit Gelee und Macarons kamen – „… take them, they’re on us …“, ich glaube, wir bekamen eine Extraportion, weil ich den ganzen Abend verzückt roch, fiepste und grinste, ich signalisierte irgendwann nach einem Espresso und verzichtete auf einen Schnaps, weil einfach nichts mehr ging, dann zahlten wir und ließen uns vom Chefkoch in die Jacken helfen. „If we come back to Amsterdam, we would love to eat here again.“ „That’s the idea.“
Die Nachtluft tat nach vier Stunden herrlichstem Essen sehr gut und ich habe danach geschlafen wie ein dicker, glücklicher Engel.