Tagebuch Dienstag, 1. Dezember 2015 – Let my Kiefer go
Vormittags weiter in der Stabi über Olympiastadien gelesen. Ich weiß gar nicht, ob ich den ganzen Vorlauf überhaupt brauche – also ausgewählte Vorgängerbauten des Vogelnests –, aber ich wollte selbst wissen, was in der Vergangenheit für die Olympischen Spiele hochgezogen wurde. Anfangs recht wenig: Nach den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen, wo Anastasios Metaxas das antike Stadion für 40.000 Zuschauer nachbaute, steckte man 1900 in Paris (wo übrigens schon Frauen teilnehmen durften) einfach eine Laufbahn im Bois de Boulogne ab. In St. Louis 1904 diente der Sportplatz der Washingtoner Universität als Austragungsort, und nicht mehr als 2000 Besucher interessierten sich für die Angelegenheit. Der geistige Vater der Olmypia-Idee, Pierre de Coubertin, fand neue Stadien eh überflüssig: „Die bauliche Beschaffenheit des Stadions und der feierliche Rahmen der Veranstaltungen sollten wie die olympische Idee selbst keinen Wert an sich verkörpern, sondern im Individuum die Voraussetzungen schaffen, [Zitat Coubertin:] ‚den Körper von dem Zwange ungeregelter Leidenschaften freizumachen, denen er sich unter dem Vorwand persönlicher Freiheit hingab‘“. (Verspohl, Franz-Joachim: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen, Gießen 1976, S. 165.)
Mit dieser Idee hatte Coubertin allerdings kein Glück. Bereits in London 1908 schuf James B. Fulton mit der Stahlkonstruktion des White-City-Stadion das erste moderne Stadion, das leider in den 1980er Jahren abgerissen wurde. In Stockholm 1912 wies das Stadion erstmals auf das Land hin, in dem die Spiele ausgetragen wurden: Torben Grut verkleidete modernen Stahlbeton mit einer altertümlich anmutenden Backsteinfassade im Stil der schwedischen Nationalromantik. Das Stadion ist restauriert und in den Orignalzustand zurückversetzt worden.
In Berlin entstand 1936 mit dem Reichssportfeld das erste Mal eine Gesamtanlage für die Olympischen Spiele, die über einen reinen Stadionbau hinausging. Seit Los Angeles 1932 finden die Olympischen Wettbewerbe an verschiedenen Orten statt; die ersten Stadien hatten noch unter anderem ein Schwimmbecken und eine Reitbahn in sich aufgenommen. Stadien sind Bauten des 20. Jahrhunderts, genau wie Hochhäuser. „Sie sind die größten öffentlichen Räume, gefüllt oder entleert, sie sind zu kollektiven Symbolen für Städte und Staaten geworden, quasi Kathedralen unserer säkularisierten Massengesellschaft, Katalysatoren beim ambivalenten Wechsel zwischen Individuum und Masse.“ (Marg, Volkwin: „Die Kuratoren besprechen die Ausstellung“, in: Marg, Volkwin für die
Akademie der Künste (Hrsg.): Choreographie der Massen. Im Sport. Im Stadion. Im Rausch, Berlin 2012, S. 8–13, hier S. 13.)
Mein Referatsteil ist mit der reinen Objektbeschreibung des Stadions schon recht lang, aber meine Mitreferentinnen haben sich auch ewig Zeit genommen, und da wir in unserem ausnahmsweise recht kleinen Seminar nur jeweils ein Referat pro Sitzung haben statt wie sonst zwei, stört es weder den Dozenten noch uns, dass die Damen vorne deutlich länger als 20 Minuten reden. Ich selber nehme mir gerade luxuriöse 30 Minuten vor, bei denen ich landen will.
Mein Teil des heutigen Kiefer-Referats dauert ungefähr 16 Minuten, was ein winziges bisschen zu lang ist für meinen Geschmack, aber laut des Manuskripts meines Mitstreiters, das ich gestern nachmittag geschickt bekommen habe, hat er meine Ausarbeitungen nicht mehr um viel ergänzt, daher könnte das ungefähr hinkommen mit gut 20 Minuten. Ich habe von der Aufteilung her den weitaus größeren Teil bekommen, aber das passt uns beiden ganz gut so.
Eigentlich hatte ich ja schon Montag beschlossen, fertig, das Referat steht, das lassen wir jetzt so, aber wie es halt so ist, irgendwo kommt dann ja doch immer noch ein Aufsatz, ein Buch, ein Gedankenblitz her und deswegen bin ich gestern nochmal drübergegangen. Das ist bei mir aber normal; wenn mir nicht irgendwann jemand den Kram aus der Hand reißt (oder der Referatstermin ansteht), würde ich nie aufhören.
Ich mag diesen Zeitpunkt des „nie aufhören Wollens“ sehr gerne. Inzwischen traue ich mir selber ein Urteil über Kunstwerke zu und vertraue nicht mehr nur auf das, was die Profis vor mir schon gedacht und aufgeschrieben haben. Ich schaue mir Bilder, Skulpturen oder Bauwerke an, mache mir selbst meine Gedanken und lese dann erst nach, was andere schon vor mir für Überlegungen angestellt haben. Inzwischen wage ich es auch, bei manchen Aussagen mit den Augen zu rollen, was meist der Startpunkt für eine kritische Auseinandersetzung ist. Wo ich in den ersten Semestern so ziemlich alles geglaubt habe, was in der Literatur steht (bis auf eine Aussage des Direktors der National Gallery, an der habe ich per Fußnote schon im ersten Semester rumgequengelt, weil sie mir einfach völlig unplausibel vorkam), gehe ich inzwischen mit einem Hauch kunsthistorischen Selbstbewusstseins an Werke heran. Ich mag das Vertrauen in meine Fähigkeiten und in mein Wissen, das ich mir erarbeitet habe, und ich mag es, wenn sich nach langem Lesen bei mir neue Gedanken formen, die ich noch nicht in der Literatur gefunden habe. Wobei ich da allerdings nie weiß, ob ich nur nicht gut genug gesucht habe oder wirklich noch niemand auf die Idee gekommen ist, dieses Bild so und so auszulegen. Meist ist das der Zeitpunkt, an dem ich das Referat halten muss, was mich jedesmal nervt, weil ich denke, aber ich fange doch gerade erst an! Jetzt lass mich doch noch mal vier Wochen hier zwischen den Bücherstapeln sitzen und denken!
Jedenfalls fühle ich mich mit Kiefers Frühwerk jetzt sehr wohl, die Bilder sind mir vertraut und sehr ans Herz gewachsen, und deswegen nörgele ich noch mehr darüber rum, dass ich sie jetzt erstmal gehen lassen muss, um mich ausschließlich ums Vogelnest zu kümmern, denn Freitag in einer Woche steht da das Referat an. Aber dann komme ich sofort wieder zu Kiefer, Richard Wagner, der jungen Bundesrepublik, der unbewältigten NS-Vergangenheit und den melancholisch-trauernden Bildern zurück.