Tagebuch Sonntag, 6. Dezember 2015 – Theorien, Schmeorien
Da tippte ich gestern noch frohgemut von der hübschen These, dass Stadien neuerdings Ikonen sein möchten, was ich im Referat belegen will – und stellte am Ende des Tages fest: kann ich nicht. Aber ich kann die These stark anzweifeln. Ist ja auch was.
Ich beginne mein Referat jetzt mit einem Zitat von Jan Tabor (Stand heute, mal sehen, was ich dann Freitag wirklich mache):
„Rechtzeitig zum Jahrtausendwechsel 2000 hat der Stadionbau den Museumsbau als den bevorzugten Prestigebau des 20. Jahrhunderts eindeutig abgelöst – genauso, wie die Opern, Theater und Bahnhöfe, die architektonisch das 19. Jahrhundert prägten und als die Tempel der einbrechenden modernen Zeiten galten, vom Kunstmuseum verdrängt worden waren.“
(Tabor, Jan: „Olé. Architektur der Erwartung. Traktat über das Stadion als Sondertypus politischer Geltungsbauen (Fragment)“, in: Marschik, Matthias/Müllner, Rudolf/Spitaler, Georg/Zinganel, Michael (Hrsg.): Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien 2005, S. 49–88, hier S. 49.)
Ich glaube, dass diese Aussage nicht ganz richtig ist. Je länger ich mich mit Stadionbauten auseinandersetze, desto mehr sehe ich multifunktionale, vermutlich komfortable und einträgliche Arenen, aber keine stilistischen Ikonen, mit denen sich Architekt*innen schmücken wollen. Herzog & de Meuron sind da sicher eine Ausnahme, schließlich haben sie nicht nur das Vogelnest gebaut, sondern noch diverse weitere Stadien („Sports and Recreation“ auswählen, schicke Bilder angucken). Ihr erstes Stadion war die Überarbeitung vom St. Jakobs Park in Basel, wo sich ein Altersheim in das Gebäude integriert. Würde ich noch nicht als Ikone bezeichnen, ist aber schon ein anderer Schnack als die ganzen Mehrzweckbauten, die sonst so in der Gegend rumstehen. Sie sind aber so ziemlich das einzige Architekturbüro, das schon mehrere Ikonen errichtet hat (soweit ich weiß).
Ein weiteres Zitat ließ mich länger nachdenken:
„Many stadia have become potent landmarks that heighten their city’s regional or even international profile and, at the local level, spur gentrification and new investment.“
(Zinganel, Michael: „The Stadium as Cash Machine“, in: Frank, Sybille/Steets, Silke: Stadium Worlds. Football, Space and the Built Environment, London 2010, S. 77–97, hier S. 78.)
Der Satz bleibt leider ohne ein follow-up und ich frage mich: welche Stadt hat denn bitte ein Stadion, welches das Profil der Stadt anhebt? Mir ist ehrlich gesagt neben Peking nur eine einzige Stadt eingefallen, bei der man das Stadion überhaupt als architektonisches Wahrzeichen wahrnimmt:
(Das Foto hatte ich für mein Heimat-Referat abgespeichert. Praktisch.)
München ist allerdings ein anderer Ausgangspunkt als Peking, das bereits im Briefing an das Architekturteam eine Ikone, ein landmark verlangte. In München wollte man die Offenheit des neuen Deutschlands symbolisieren, man wollte die sprichwörtlichen „heiteren Spiele“ mit einer bisher ungesehenen, leichten Architektur unterstützen.
Die anderen Olympiastadien des neuen Jahrhunderts, die ich mir inzwischen angeschaut habe, kommen im Hinblick auf Ikonizität weder an München noch an Peking heran. Und auch bei Fußballarenen, die häufiger gebaut werden und in größerer Anzahl vorhanden sind als Olympiastadien, sehe ich keine einzige Ikone, nicht mal das Maracanã oder das Giuseppe-Meazza-Stadion mit seinen charakteristischen Säulen. Aber das mag persönlicher Geschmack sein.
Ich werde also im Referat versuchen, das erste Zitat zu widerlegen und vor allem die Sonderstellung von Peking hervorheben, denn das Stadion war nicht der einzige Bau, der zu Beginn des neuen Jahrhunderts von nicht-chinesischen Architekten in Peking gebaut wurde. Weitere Neubauten, die (dafür habe ich immerhin Belege) den wirtschaftlichen Erfolg des Landes und damit den der kommunistischen Partei bezeugen sollten, sind zum Beispiel Rem Koolhaas’ CCTV-Tower, Paul Andreaus Nationaltheater oder Norman Fosters Flughafen.
*weiterdenkend*