„Ihm (Wagner) war (…) aufgegangen, dass die Orchestermelodie nicht etwa Begleitung der Szene, sondern so etwas wie Substanz oder Funktion des Dramas zu sein habe. (…) Nun könnte man schon jetzt fragen: Worin besteht demnach das Spezifische der Wagner’schen Orchestermelodie? Etwa darin, dass sie auf die Separierung von Arie, Duett, Ensemble, Chor und damit auf Füllsel, Floskeln, Ãœberleitungen und Schlussformen weitgehend verzichtet oder doch verzichten will, um den dramatischen Fluss herzustellen? Dass sie kein Rezitativ kennt, sondern den Dialog durchkomponiert? Nein, das ist nur der ihr immanente Zug zur „unendlichen Melodie“, ein sekundäres Kompositionsmerkmal. Ihr Neues ist der ungleich stärkere Bezug auf den harmonischen Kontext, was sie erst „universell“ macht, übrigens auch schwieriger memorierbar und weniger nachpfeifbar – während nach Wagners Auffassung (…) die glänzende „Einseitigkeit in der Zeichung der Melodie“ nur ein schönes Gehäuse erzeugt, „welches über die dramatische Stimmung gesetzt ist, so dass diese sich gleichsam wie unter Glas und Rahmen ausnimmt“. Eine solche dekorative Orchestermelodie, die an der Handlung wie eine Girlande aufgehängt ist, drückt nach Wagners Meinung von der Tiefe menschlicher Empfindung nichts aus. Die Orchestermelodie soll aus den „gewaltigen Tiefen der reichsten menschlichen Natur“ dringen. Schon in Eine Pilgerfahrt zu Beethoven (1840!) hieß es, die Instrumente gäben die Urgefühle der Natur wieder, die Stimme das menschliche Herz. Und in den siebziger Jahren, nach Beendigung des Rings, sagte Wagner zu Cosima, das Orchester sei die Natur, in der sich der Sänger bewege. (…) der Orchestermelodie kommt eine Selbständigkeit zu, durch die ihre bloße „Form“ zum mitsprechenden „Inhalt“ wird.“
Aus: Richard Wagner – Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert, Martin Gregor-Dellin