Tagebuch, Mittwoch, 27. April 2016 – Leo von Welden (erster Eindruck)
Gestern begann ich mit dem zweiten großen Referat, das nach dem zu Festen im 19. Jahrhundert ansteht: das über Leo von Welden. Ich muss gestehen, ich hatte noch nie von dem Mann gehört, als sein Name in der Referatsthemenliste auftauchte, aber da ich mit Alexander Archipenko ganz gut gefahren bin, den ich auch unbekannterweise bearbeitete, meldete ich mich zu dem Thema und bekam es.
Zuhause nach der Sitzung googelte ich nach dem Mann – was ich halt so mache, um einen ersten Eindruck zu erhalten, bevor ich mich in die Bibliothekskataloge stürze – und bekam vermittelt, dass er zu den sogenannten „entarteten“ Künstlern gehört hatte. Darüber wollte ich aber gar nicht referieren; ich wollte mich bewusst einem NS-Künstler nähern und mailte daher blauäugig dem Dozenten meinen Irrtum. Seine Antwort, die ich peinlich berührt las, begann so: „Liebe Frau Gröner, hier irren Sie: Leo von Welden war kein Entarteter Künstler, auch wenn das im Netz so stehen mag.“ Ähem. Dann folgten noch ein Aufsatz und ein paar Literaturhinweise und die Bitte, mich doch um den Mann zu kümmern. Okay then. (Meine Antwortmail begann mit „Lieber Herr X, erwischt, mehr als gegoogelt hatte ich natürlich noch nicht.“ Rettet mich natürlich auch nicht mehr. Ganz hervorragender erster Eindruck. Meh.)
Gestern trug ich dann die wenigen (vier sehr schmale) Kataloge aus den Kellern der Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in den Lesesaal und blätterte und las – und war am Ende der dreistündigen Sitzung sehr zwiegespalten. So richtig kann ich nichts mit den Werken des Mannes anfangen. Sie scheinen völlig aus der Zeit gefallen zu sein (ich spreche jetzt von vor 1933 und nach 1945), konzentrieren sich stark auf christliche Motive und da gerne immer auf die gleichen, oder auf Motive, die nach längst vergangenen Zeiten klingen (Infanten, Kokotten, Rokoko-Paar, Hoffräulein). Auch stilistisch ist der Mann nicht so ganz meiner; das sieht alles technisch ordentlich aus, natürlich konnte von Welden was, aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass er seine Fähigkeiten an Motive verschwendet, die niemand braucht. Ich sah in den Bildern keine Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik oder der jungen Bundesrepublik und ich sah keinen der Stile, die in dieser Zeit vorherrschten. Die Bilder kommen mir alle wie eine kleine Flucht aus der Realität vor – wogegen ja nichts einzuwenden ist, aber das erklärt vielleicht, wieso von Welden nie so eine riesige Nummer war; er scheint mir schlicht nicht relevant gewesen zu sein. Das ist alles hübsch und nett, was er machte, aber das war’s dann auch.
Was allerdings spannend ist: Der neueste Katalog ist von 2008, also in einer Zeit entstanden, der man nicht mehr vorwerfen kann, in der Mentalität der 1960er Jahre („wir wussten von nix zwischen 33 und 45, und wir waren alle im Widerstand“) geschrieben worden zu sein – und selbst in ihm wird von Weldens Mitwirken in der Großen Deutschen Kunstausstellung nicht erwähnt. Zwischen 1938 und 1943 hingen fünf Bilder von ihm im Haus der (Deutschen) Kunst, und sie fallen stilistisch etwas aus dem Rahmen. Soweit ich das beurteilen kann, ich habe noch keine weiteren Abbildungen gefunden außer den hier verlinkten. Immerhin wird im Katalog erwähnt, dass er zweimal seine grafischen Arbeiten während der NS-Zeit ausstellte, 1943 in Berlin und 1944 in Stuttgart. Davon weiß ich auch noch nicht mehr – was genau hing da, wie sah es aus? Eine Zeitungskritik vom Oktober 1944 (eventuell aus Stuttgarter Neues Tagblatt, 1, 2, Fehler im Tweet: Es geht um 1944, nicht 43), die ich auch noch nicht im Original lesen konnte, lautete: „Der Münchner Graphiker Leo von Welden […] ist eine jener ursprünglichen Kraftnaturen […] Aus jeder Gestalt spricht eine gedankliche, mehr noch eine philosophische Hintersinnigkeit, an der wir den unverfälschten deutschen Kern erkennen.“
Der einzige Hinweis, das von Welden angeblich „entartet“ war, kommt von einer Aussage eines Freundes, der erzählte, dass man von Welden die Aufnahme in die Reichskulturkammer verwehrt habe, was einem Berufsverbot gleichkam. (Ich nehme an, es ist die Reichskammer der bildenden Künste gemeint.) Das ist mir ein bisschen zu wenig, wenn ich ehrlich sein darf. Ich frage mich gerade, ob es ein Archiv gibt, in dem ich nachschauen könnte, ob der Mann wirklich einen Antrag gestellt hat oder ob die Ablehnung irgendwo verschriftlicht vorliegt. Weitersuchen.
Im Katalog wird auch erwähnt, dass sich in von Weldens ungeordnetem Nachlass (meine Finger jucken!) ein großer Stapel ungegenständlicher Experimente befindet. Warum sind die nicht abgebildet? Wieso setzen wirklich alle Kataloge auf das naturalistische Werk von Weldens, wenn doch gerade die Experimente die Breite seiner Schaffenskraft zeigen könnten?
Ich ahne, dass dieser Blogeintrag total quengelig klingt und so, als ob ich von Welden nachweisen wollen würde, dass er insgeheim ein glühender Parteigenosse gewesen war. So ist es nicht. Ganz im Gegenteil: So zwiespältig ich den Werken – also denen, die ich kenne – gegenüberstehe, desto spannender finde ich es, in den Dingen rumzuwühlen, die da noch rumliegen bzw. mehr über den Künstler zu lernen, was vielleicht meinen ersten Eindruck völlig revidieren wird. Ich weiß, dass in der Galerie Rosenheim, zu der wir in zwei Wochen fahren, Bilder von ihm vorrätig sind, und ich freue mich sehr darauf, sie im Original sehen zu können. Vielleicht erschließt sich mir sein Werk dann etwas besser.
(wird fortgesetzt)