Gangs of New York
Gangs of New York (USA, 2002)
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Daniel Day-Lewis, Cameron Diaz, John C. Reilly, Jim Broadbent, Liam Neeson, Brendan Gleeson, Henry Thomas
Drehbuch: Jay Cocks, Steve Zaillian, Kenneth Lonergan
Kamera: Michael Ballhaus
Musik: Howard Shore
Regie: Martin Scorsese
Billy Wilder hat mal gesagt, dass es bei einem Film nur auf eines ankommt: die Charaktere. Bring das Publikum dazu, die Charaktere zu mögen, und sie werden dir jede noch so abstruse Handlung irgendwie verzeihen, weil sie eben diese Charaktere so lieben.
Wenn Martin Scorsese irgendwas kann, dann ist das, Charaktere zu erschaffen. Jack La Motta in Raging Bull, Henry Hill in Goodfellas, Nicki Santoro in Casino, Travis Bickle in Taxi Driver … Jeder dieser Figuren habe ich alles abgekauft, was sie erlebt und erlitten haben. Weil sie stimmig gezeichnet waren und weil ihre Umgebung gepasst hat. Weil diese Filme sich auf ihre Hauptfiguren konzentriert haben und nicht auf die Ausstattung, die Kostüme oder was auch immer.
Das tut Gangs of New York leider nicht.
Die Geschichte spielt 1862, zur Zeit des Bürgerkrieges. Die Nord- und Südstaaten kämpfen miteinander, und die männlichen Bewohner des Nordens, also auch die New Yorker, werden zum Dienst an der Waffe verpflichtet und eingezogen.
New York ist in Viertel unterteilt, in denen sich Banden bekriegen. Sie stammen aus Irland, Deutschland, China oder Amerika – ganz gleich, woher sie kommen: Jetzt sind sie hier und wollen ein Stück vom Kuchen.
Im Hafen von New York kommen täglich tausende von Auswanderern aus Europa an: Sie sind nicht nur Störenfriede in den Vierteln, sondern gleichzeitig neues Kanonenfutter für den Krieg und außerdem Wählerstimmen für korrupte Politiker.
Allein aus diesem Hintergrund ließen sich schon drei Filme drehen. Das tut Scorsese aber nicht, sondern nutzt dieses Gemisch nur als Teppich, als bunte Dekoration für seine Protagonisten, die den ganzen Film lang versuchen, gegen diese überwältigende Historie anzuspielen. Denn die eigentliche Geschichte des Films ist die von Amsterdam Vallon (Leonardo DiCaprio), der seinen Vater rächen will, der vor 16 Jahren von Bill The Butcher (Daniel Day-Lewis) beim Kampf um die Bandenvorherrschaft um Five Points ermordet wurde. Amsterdam erarbeitet sich das Vertrauen von Bill, um ihm so nahe wie möglich zu kommen und ihn schließlich zu töten.
Die Augenblicke im Film, wo Scorsese sich auf diese zwei Hauptcharaktere konzentriert, sind wunderbar (wenn man mal von der Theatralik von Day-Lewis absieht, dessen Performance meiner Meinung nach immer ganz kurz vor der Lächerlichkeitsgrenze steht). Die Intensität der Beziehung von Amsterdam und Bill wird uns in tragischen Augenblicken erzählt, die wie geschaffen sind für die große Leinwand: Amsterdam rettet Bill vor einem Attentat, weil er ihn selber töten will. Gleichzeitig stellt er aber erschrocken fest, dass er ihm gefühlsmäßig schon viel zu nahe gekommen ist, um ihn nur noch zu hassen. Der ganze Irrsinn seiner Situation wird ihm in einem stillen Moment klar – “It’s a funny feeling to be taken under the dragon’s wing: it’s warmer than you think” – und er beginnt zu weinen: große Gefühle, große Szene – die aber sofort unterbrochen wird, wie so viele große Szenen unterbrochen werden. Ich habe mich mehrmals erwischt, wie ich innerlich zusammengezuckt bin, weil ich noch ein wenig bei einer Figur oder einem Setting bleiben wollte, aber von der Kamera oder dem Schnitt dazu keine Chance bekam. Der Film wirkt des öfteren sehr gehetzt, so als ob er wüsste, dass er noch wahnsinnig viele historische Fakten verbraten muss, um die ganze Wichtigkeit dieser Zeit in der amerikanischen Geschichte klarzumachen (mit irgendwas muss man ja das pathetische Schlussbild mit den Twin Towers rechtfertigen).
Die stillen Momente, in denen die Hauptfiguren die Handlung vorantreiben und nicht die amerikanische Historie, sind die einzigen, bei denen ich das Gefühl hatte, Scorseses Handschrift zu erkennen und damit auch seine Liebe zu seinen Protagonisten. Wenn er Bill einen langen Monolog über Amsterdams toten Vater gönnt, der sein einziges Opfer ist, an das er sich immer erinnern wird; wenn Amsterdam ihm dabei zuhört und sich nicht zu erkennen geben darf, wenn sein Gesicht dabei gleichzeitig schmerzverzerrt und gezwungenermaßen beherrscht ist – das sind Momente, die episch sind, die den ganzen Aufwand würdigen, den Gangs of New York betreibt. Sie sind allerdings viel zu selten und werden völlig überspült mit dem ganzen Lokalkolorit, den Kostümen, den Kulissen. Man hat leider konstant das Gefühl, dass mehr Wert auf die Ausstattung als auf die Figuren gelegt wurde. Und daher verlässt man das Kino auch mit dem Gefühl, eine sehr lange Geschichtsstunde hinter sich zu haben. Die eigentliche Story selber aber wirkt viel zu klein, um sich gegen die Historie durchzusetzen, obwohl sie es doch sein sollte, an die wir uns erinnern wollen.
Leider können auch die Schauspieler die Sache nicht retten. DiCaprio müht sich redlich ab, seine breitschultigen Hemden auszufüllen und den verletzten Rächer zu geben, aber es gelingt ihm nicht ganz. Er sieht zwar nicht mehr so Titanic-unschuldig aus, aber den fiesen Straßenkämpfer nimmt man ihm nicht ganz ab. Seine Stärke liegt eben in den leiseren Momenten, und von denen gibt es in Gangs of New York leider zu wenige. Cameron Diaz, die Bills Protege und Amsterdams Geliebte spielt, hat mich zwar positiv überrascht, aber auch sie wirkt mit ihrer femininen Fragilität etwas deplatziert zwischen den ganzen herben Schönheiten der Bordelle und der Straße.
So bleibt Gangs of New York ein Fragment. Zuviel Hintergrund, anstatt sich auf ein Ereignis zu konzentrieren (wie z.B. das Drafting) und gleichzeitig nicht genug Charakerzeichnung, um ein Drama von den Ausmaßen Shakespeares zu schaffen (und die Parallelen gerade zu Hamlet sind wirklich sehr offensichtlich). Der Film wirkt unentschlossen und fahrig, und obwohl er fast drei Stunden dauert, hat man danach das Gefühl, man müsste nochmal drei Stunden sehen, um alle Storys vernünftig erzählt zu bekommen. Und gleichzeitig will man diese Storys gar nicht mehr hören, weil einen die Figuren seltsam unberührt gelassen haben. Leider.
Und dass in meiner Kritik das Wort „leider“ ziemlich oft vorkommt, hat seinen Grund: Denn trotz seiner Mängel und Zerstreutheit merkt man dem Film an, wieviel er hätte sein können, wenn er mehr Zeit gehabt hätte, wenn er weniger Hintergrund hätte mitteilen wollen, wenn die Figuren mehr Raum für sich und ihre Eigenschaften bekommen hätten. Dann hätte nämlich wirklich ein großes Drama daraus werden können: über Rache, Ehre, Verrat und Liebe. Großes Kino eben. Hat nicht ganz geklappt. Dafür nochmal ein „leider“.
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Anke am 13. March 2005