Was schön war, Montag, 3. Oktober 2016 – Casey gucken
Der ehemalige Mitbewohner spielte mir neulich leichtsinnigerweise ein, zwei Videos von Casey Neistat vor. Das war interessant, das Konzept, jeden Tag einen ungefähr acht- bis zehnminütigen Film über sich (Vlog) auf YouTube zu posten, fand ich auch spannend, aber das war’s dann auch. Erst nach Abgabe aller Hausarbeiten dachte ich, guckste dir doch mal sein erstes Vlog an (Film vom 25. März 2015, veröffentlicht am 26.3.). Ach, wenn ich schon da bin, auch noch sein zweites. Um es kurz zu machen: Ich habe in den letzten Tagen ein Jahr lang Casey nachgeholt, bin jetzt im März 2016 und möchte euch jetzt ebenfalls anfixen. Falls das überhaupt noch möglich ist, denn bei fünf Millionen Abonnenten bin ich vermutlich eine der letzten, die auf den Mann aufmerksam geworden ist. (Gemacht wurde.)
Das gehört auch durchaus in die „Was schön war“-Kategorie, denn gestern sah ich das erste Video, in dem seine bisher eher mäßig verlaufenden Versuche, mit Drohnen zu filmen, endlich erfolgreich verliefen. Also so, dass die Drohnenbilder eine sinnvolle Erweiterung seiner bisherigen Kameras sind. Auch das fand ich spannend: zu sehen, wie er arbeitet. Ich muss ein bisschen ausholen:
Ich gucke so gut wie nie YouTube, außer wenn ich mir visuelle Anleitungen für irgendwas holen will, was mir nach schriftlicher Erklärung nicht so klar ist (meistens sind das Koch- oder Handwerkszeugdinge, Hähnchen dressieren, mit Fondant arbeiten, Perlatoren auswechseln). Ich habe aber außer ein paar Museen nichts und niemand abonniert, weil ich schlicht lieber lese als Videos zu schauen. Das bewegte Bild gehört für mich komischerweise immer noch in die, ich nenne sie jetzt mal so, alten Medien wie Fernsehen und Kino. Musikclips sind eine Zwischenstufe, aber da ich kaum noch neue Musik höre oder sie finden will, ist das Thema für mich auch eher durch. Wenn ich Bewegtbilder sehen möchte, erwarte ich eine gewisse Qualität. Das Verwackelte von Vine oder Snapchat ist mir nach wenigen Versuchen schon sehr auf den Keks gegangen und ich habe darin auch keinen Mehrwert gefunden außer kurze Lacher bei Katzenvideos. Deswegen war es sehr ungewohnt und unerwartet für mich, dass mich ein YouTube-Kanal so faszinieren konnte.
Wenn ich nur seine ersten ein, zwei, fünf oder zehn Vlogs gesehen hätte, hätte ich vermutlich auch nicht weitergemacht, denn die suchen noch erkennbar eine Bildsprache oder ein inhaltliches Konzept. Wie bei allem: Man muss erstmal rumprobieren, bis man einen Rhythmus oder einen Modus gefunden hat, der funktioniert. Ich kannte nun aber durch den ehemaligen Mitbewohner schon ein paar filmische Ergebnisse Neistats, die mir gefallen haben – und ich wusste, dass er mit Kameras umgehen kann –, und deswegen guckte ich weiter. (Einschub: Making-of Snowboarding with the NYPD und dann den Film dazu; macht in der Guckreihenfolge durchaus Spaß und verdeutlicht, wie viel Material für die kurzen Vlogs nötig ist.)
Mir ist durch Neistat wieder klargeworden, wie faszinierend das biografische Aufzeichnen ist (auch ein Grund, warum ich es mache), mir ist aber auch klargeworden, wie selektiv wir teilen. Ich erwischte mich selbst dabei, Dinge anzunehmen, weil ich geglaubt habe, ihn und seine Familie zu kennen, was natürlich Quatsch ist. In diesem Video verabschiedet er sich von seiner Frau, die ihn in Kapstadt zum Flughafen brachte, von wo er wieder nach New York flog, dem gemeinsamen Zuhause. Ich sah dort das erste Mal, wie er Candice umarmte. Darüber hatte ich mich 300 Filme lang gewundert, dass man so selten Zärtlichkeiten zwischen den beiden sah, während er recht oft zeigt, wie er mit der gemeinsamen Tochter schmust. Und damit sind wir beim Punkt, den ich oben anriss: seine Art zu arbeiten. Neistat sagte in einem Vlog, dass er sich natürlich mit Kuss und allem von seiner Frau verabschiedet, aber sich dazu entschlossen hat, das nicht zu zeigen. Was er zeigt, ist die eher kurze, mündliche Verabschiedung, vielleicht noch ein Winken und das war’s; er nannte es „a punctuation mark for the vlog“ (ca. 5:05 min), einen Abschluss für eine Szene. Das Vlog ist nicht sein Leben, es ist (Zitat, gleiches Video wie eben) „an afterthought“, es ist ein Ausschnitt, so wie jedes Vlog, jedes Blog nur ein Ausschnitt des gezeigten Lebens sein kann. Ich fand es spannend, an mir selbst festzustellen, was ich gerne nervigen Mailschreiber*innen vorwerfe: die Annahme, mich zu kennen, weil man mein Blog liest. Ich bin in genau die gleiche Falle getappt.
Meine halbgare Entschuldigung ist natürlich die, dass Bilder noch mehr einen Eindruck verfestigen als Worte. (Die Kunsthistorikerin in mir versucht sich gerade an Grundlagentexte zu erinnern, die diesen Satz belegen könnten, aber es sind Semesterferien, mein Kopf guckt Videos.) Vielleicht liegt es auch an der Qualität der Bilder, die bei mir diesen Eindruck hinterlassen haben. Neistat hat von Anfang an sehr hochwertig produziert – vielleicht, nein, bestimmt machen andere YouTuber*innen das auch, ich habe schlicht keinen Vergleich, daher bleibe ich für diesen Beitrag bei Neistat. Er hat nicht einfach sein iPhone umgedreht und sich mit ausgestrecktem Arm gefilmt, sondern eine anständige Spiegelreflex auf einen Gorillapod geschraubt, den er so geschickt vor sich herträgt, auch auf Fahrrädern und Skateboards, dass man völlig vergisst, dass die Kamera da ist. (Edit: Nerdwriter1 hat sich mit der Art des filmischen Erzählens von Neistat auseinandergesetzt, via @ronsens.) Im Laufe der Zeit kamen diverse GoPros dazu und seit einigen Wochen (März 2016, wie gesagt) fliegen auch Drohnen durch sein Vlog. Die ersten Aufnahmen sind die zu erwartenden Testflüge, die meistens mit einem Crash enden, aber in seinem letzten Südafrikaaufenthalt kamen die ersten Bilder zustande, die eine deutlich andere Qualität hatten als seine bisherigen Bilder, die meist seinen Alltag in New York zwischen Zuhause, seiner Firma und seinem privaten Studio zeigen.
Einschub: Alleine über das Studio könnte ich seitenweise lobhudelnde Blogeinträge schreiben; es gibt so viele Details und Eckchen, die spannend sind und über die Neistat teilweise selbst kleine Filme gedreht hat. Außerdem hat das Studio eine ganz besondere intime Atmosphäre, was mir aber auch erst nach hunderten von Filmen klargeworden ist. Man kommt ihm und seiner Art zu denken, zu arbeiten, filmisch zu konzipieren recht nah. Hier ein Film über seine roten Aufbewahrungsboxen, in dem gleich zu Beginn ein winziger Kniff deutlich macht, wie sich Neistat von anderen Filmer*innen unterscheidet, die einfach nur in die Kamera quatschen oder mal eine Schrifttafel hochhalten oder einblenden. Achtet mal drauf, wie hier der Titel ins Bild kommt. Simple Idee, verbindet aber raffiniert mehrere Bildebenen miteinander. Mochte ich.
Zurück zu den Drohnen: Die Drohnenbilder machen Neistats Welt um so vieles größer. Ich mag genau diese Intimität und Vertrautheit, die aus den stets ähnlichen Bildern und Timelapses aus New York entsteht; sein Appartement, der Weg zur Arbeit, Bilder von Straßenzügen, dem Central Park, den Brücken nach Manhattan, das alles schafft eine gewisse Verortung, aber eben auch eine gewisse Enge. Bilder aus der Luft erweitern den bisher recht kleinen Eindruck, der durch die Kamerahaltung Neistats gezwungenermaßen entsteht. Meist muss er die Kamera bei sich, fast am Körper führen; oft steht sie auf einem Stativ vor ihm, wenn er direkt zur Zuschauerin spricht, gerne stellt er sie irgendwo ab und läuft an ihr vorbei, um eben doch mal den Bildausschnitt etwas größer zu kriegen. Ein Drohnenbild erweitert diesen Ausschnitt nun um ein Vielfaches und es hat mich selbst erstaunt, wie effektvoll das war. Ich weiß nicht, ob der Effekt auch funktioniert, wenn man gerade nicht 300 Filme gesehen hat, bei denen die Kamera nie weiter als 20 Meter von Neistat weg war, aber ich glaube, auch die reine Filmqualität mit der Kombi aus Bild und Ton ist hier besonders gelungen und sehenswert. Auch das ist für mich großer Punkt an Neistats Vlog: der Schnitt und die unterlegte Musik. Er nutzt sehr oft die gleichen Stücke, und in diesem, für mich so meilensteinhaften Film, kommt ein Stück zum Einsatz, das ich sehr gerne mag.
Vielleicht sollte ich den Film endlich mal verlinken: hier ist er. Er beginnt wie viele seiner Vlogs mit einem kleinen Clip, in dem er auf einen Umstand oder eine Anomalie aufmerksam macht, die ihm passiert oder die er mitbekommt; hier ist es die eher unspektakuläre Tatsache, dass er kein einziges Shirt für Südafrika eingepackt hat, aber auch das mag Neistat so sympathisch machen: dass er sich nicht dauernd als den Topchecker inszeniert, sondern auch Missgeschicke postet. Es geht weiter mit seinem üblichen Establishing Shot und der Titelsequenz, die fast immer ein Timelapse ist, über den das Datum und der Ort, an dem sich Neistat gerade befindet, eingeblendet werden.
Danach baut er seine neue Drohne zusammen. Klingt langweilig, ist aber durch den schnellen, nicht hektischen Schnitt sehenswert. Die Musik wird dafür unterbrochen und direkt danach wieder aufgenommen. Diese Art des Stoppens, der Unterbrechung des Sehflusses (gibt’s das? Ich dachte gerade an Lese- und Erzählfluss) nutzt Neistat gerne und wie ich meine, sehr effektiv. Hier ist sein Video zum einjährigen Bestehen des Vlogs, wo er diverse Titeleinblendungen clever unterbricht. Auch über dieses Video könnte ich lobhudeln, weil er nicht nur spricht, sondern zeigt, worum es ihm geht (alte Wohnorte in New York), aber ich lasse das jetzt mal. (Masterarbeitsthema? Hmmmmmmmm.)
Danach erzählt er ein bisschen, warum er und seine Frau gerade in Südafrika sind. Auch hier wieder ein kleiner Effekt: Sobald er vom täglichen Geschehen weggeht und einen kurzen Rückblick macht, wird das Bild schwarzweiß statt farbig und er blendet Emojis ein; die hätte ich nicht gebraucht, aber die scheinen gerade eine kleine Vorliebe von ihm zu sein. Dann geht’s nach draußen, wo die Drohne einen Testflug absolvieren soll. Ich gehe davon aus, dass Neistat sich bewusst diesen Ort ausgesucht hat: Anstatt auf dem Rasen des Hauses vor dem kleinen Swimmingpool zu drehen, sehen wir eine schnurgerade Straße (schöner einfarbiger Untergrund, auf dem die Drohne gut zu sehen ist), während im Hintergrund eindrucksvoll der Lion’s Head aufragt. Sobald die Drohne sich in die Luft erhebt, sehen wir Neistat sehr freudig in die Kamera lächeln – auch so ein Signature Move, der mir den Mann ganz fürchterlich sympathisch werden hat lassen. Ich nehme ihm ab, dass er sich freut und mich freut es, dass er uns daran teilhaben lässt.
Beim ersten Flug werden die Drohnenbilder teilweise mit dem Ton überdeckt, den die statische Kamera aufgezeichnet hat. Ich lasse es jetzt mal, auf alles hinzuweisen, was ich gut gemacht finde, aber auch diese Kleinigkeit wollte ich erwähnen, weil es eben den engen Eindruck des Sich-Selbst-Filmens auflöst. Die Freude, die Neistat empfindet, als die Drohne wieder bei ihm ist, kann man vermutlich nur nachvollziehen, wenn man seine ganzen Crashs gesehen hat; das könnt ihr ja nachholen. Bei 4:55 dann wieder so ein kleiner Kniff: Neistat unterbricht die Aufnahme von sich selbst mitten im Satz, weil klar ist, worum es geht; er muss nicht alles ausformulieren, die Zuschauerinnen haben schon kapiert, worauf er hinauswill, der Film wird nicht länger als er werden muss. Meine Lieblingssequenz beginnt um die Minute 6 herum, wo dann auch endlich mein Lieblingssong zu hören ist und man mal wieder Neistats Schnitttechnik bewundern kann. (Die Fußabdrücke im Sand bei 7:18! Was für eine Bildqualität!) In diesem Video sind die Drohnenaufnahmen noch nicht vollständig sinnvoll in die Handlung eingeliedert, sie sind noch Prop, aber einen Tag später auf dem Berg anstatt am Strand funktioniert das schon tadellos.
Ich breche das Fangirling hier mal ab, aber ich hoffe, ich konnte erklären, wieso ich auf einmal stundenlang vor YouTube hänge. In diesem Zusammenhang: Das Holstee-Manifest kann vermutlich schon jede*r mitsprechen, aber es gibt eine Zeile, die mich immer an dem Ding gestört hat (wie überhaupt Manifeste eh nie für alle funktionieren): „If you don’t have enough time, stop watching TV.“ Wenn du Filme oder Fernsehen machen willst, musst du erstmal wissen, wie Filme oder Fernsehen funktionieren, also musst du gucken, je mehr, desto besser. Ich habe zwar auch verinnerlicht, dass Lesen eine produktivere Tätigkeit sein soll als fernzusehen bzw. Videos anzuschauen, aber ich frage mich neuerdings, ob das wirklich so ist. Mich haben 300 Folgen Neistat dazu inspiriert, mal die Videofunktion an meinem iPhone auszuprobieren, über bewegte Bilder anstatt über statische Kunstwerke nachzudenken, mein eigenes Bloggen zu reflektieren, mich darüber zu freuen, wie viele verschiedene Möglichkeiten wir heute haben, uns auszudrücken und Dinge zu teilen – und es ist ein langer Blogeintrag dabei rumgekommen. Finde ich okay.