Jetzt haben die Touristen gewonnen

Ich war in den letzten Wochen bereits einige Male in Berlin gebucht, war meist für zwei Tage da und konnte danach von zuhause aus weiterarbeiten. Diesmal bin ich für satte vier Wochen in der Stadt – weswegen ich mir erstmal einen Reiseführer für unsere gute, alte Hauptstadt angeschafft habe. (Natürlich den aus der Lieblingsreihe.) Dabei habe ich feststellen müssen, dass die meisten Berliner Museen „nur“ bis 18 Uhr geöffnet sind – was heißt, keine Mittagspause zu machen, um mit Hin-und Rückfahrt zwei Minuten in der Nationalgalerie rumzustehen. Nicht gut. Oder: Plan über Bord werfen, Montag morgens aus Hamburg anzureisen und Freitag abend wieder nach Hause zu fahren. Stattdessen durchgehend in der Stadt bleiben, damit ich am Wochenende Kultur gucken kann. Auch nicht gut, weil: drei Übernachtungen mehr, die bezahlt werden wollen und drei Abende weniger, an denen ich knutschen kann. (Jedenfalls mit dem Kerl, und wen anders will ich ja eh nicht, ich Langweiler.)

Ich mach das jetzt anders. Gestern abend habe ich mich wie die ganzen anderen Tourismusanfänger in den 100er Bus gesetzt, der netterweise an allen innerstädtischen Sehenswürdigkeiten vorbeifährt. Los ging’s am Alexanderplatz, am Berliner Dom vorbei, der Humboldt-Uni, am sehr unheimlich aussehenden Stahlträgerskelett des Palastes der Republik und dann rein ins Regierungsviertel. Das Brandenburger Tor hat mich mal wieder ein wenig ergriffen, weiß der Geier warum, aber das tut es jedesmal, wenn ich es live sehe, und kurz vor dem Reichstag hat, wenn ich mich nicht verguckt habe, Hans-Christian Ströbele vor uns die Straße überquert, mit einem kleinen, roten Aktenhefter unterm Arm. Ich habe mich kurz wie in The West Wing gefühlt – Montag im Zug in die Hauptstadt dem ollen Diekmann beim Telefonieren zuhören müssen (Raucherstimme galore), heute dann Politiker live angucken … ich bin im Herzen doch ein totales Provinzkind geblieben, das so etwas beeindruckt. Ich hab ja schon auf der Fahrt vom Bahnhof in die Agentur den Taxifahrer amüsiert, weil ich mit offenem Mund am Fenster geklebt habe und mir wie eine Zwölfjährige die Friedrichstraße angeguckt habe, die vielen Botschaften und das dicke, hässliche Kanzleramt.

Vor dem Reichstag stand die übliche Schlange an Kuppelbesuchern, gefühlte 50 Deutschlandfahnen wehten vor postkartenblauem Himmel (auf dem iPhone-Foto ist nur ein Bruchteil drauf), und der Bus fuhr gemütlich an der Siegessäule vorbei in Richtung Bahnhof-Zoo. Dort war Endstation, und ich wartete auf meine Rückfahrt, diesmal mit dem 200er Bus, der eine leicht andere Route fährt, an der es aber auch ne Menge zu gucken gibt. Vorher bin ich noch einem Radfahrer vors Gefährt gelaufen, weil ICH HALT SO VIEL GUCKEN MUSSTE, der mir dann auch ein unfreundliches „Augen auf!“ entgegenbrüllte. Was meinen Wunsch, vielleicht doch nach Berlin zu ziehen, sofort wieder zunichte gemacht hat. Ein Hamburger hätte kurz und energisch geklingelt und es dann in hanseatischer Zurückhaltung dabei belassen. Ist klar.

Direkt nach dem Bahnhof-Zoo fährt der Bus an der Gedächtniskirche vorbei, wo ich mal kurz einen Kloß im Hals gespürt habe, denn dort habe ich damals vor jetzt zwölf Jahren den kurzen Super-8-Film für die Prüfung an der dffb gedreht – mit Karl als meinem Hauptdarsteller. Seitdem habe ich mich in Berlin immer davor gedrückt, an der Kirche vorbeizugehen oder, wenn ich das musste, dort großartig stehenzubleiben. Dieses Mal habe ich immerhin so lange aus dem Fenster auf die Kirche geguckt, bis sie nicht mehr zu sehen war, habe die Läden gesucht, vor denen wir damals gefilmt haben und mich versucht, so gut wie möglich daran zu erinnern, wieviel Spaß wir hatten. Hat nicht ganz geklappt. Vielleicht brauch ich doch noch ein paar Jahre, bis ich den Platz mag.

Auf der Rückfahrt zum Alex habe ich mich gefühlt wie im Urlaub. Schon seit ich hier bin, ist das so. Gut, ich weiß, es sind gerade mal zwei Tage, aber: im Hotel schlafen heißt für mich Urlaub. Deswegen fühlt sich sogar die Arbeit kaum wie Arbeit an, sondern eher wie „Ach, wie nett, ich werde sogar dafür bezahlt, dass ich Urlaub mache.“ Es ist eingetreten, was ich mir von der Selbständigkeit erhofft habe – mal in andere Agenturen reinschnuppern, mit neuen Leuten arbeiten (und teilweise mit vielen alten Kollegen, denn wir sind ja doch ne fies verschwippschwagerte Bande, wir Autowerber, wir), von hier auf gleich einen neuen Kunden haben, den man so gar nicht kennt und den man sich blitzschnell erarbeiten muss, in anderen Städten arbeiten, mal rauskommen aus dem ewig gleichen 40-Stunden-Gefühl. Ich hoffe mal ganz naiv, dass das so bleibt. Im Moment ist es jedenfalls so, und ich genieße doof grinsend jede Sekunde.

Und nette Autos krieg ich hier auch noch zu sehen.