In America
In America
(UK, 2002)
Darsteller: Samantha Morton, Paddy Considine, Sarah Bolger, Emma Bolger, Djimon Hounsou, Merrina Millsapp
Musik: Gavin Friday, Maurice Seezer
Kamera: Declan Quinn
Drehbuch: Jim Sheridan, Naomi Sheridan, Kirsten Sheridan
Regie: Jim Sheridan
Ich mag Filme, die mir gleich in den ersten Minuten sagen, wo die Reise hingeht: ob ich mich auf eine Komödie einstellen muss, ein Roadmovie, einen Thriller. In America sagt es mir nicht, sondern fragt, und zwar in Form des ersten Songs, der im Hintergrund läuft, als die vierköpfige irische Familie Sullivan illegal nach New York einreist und über den Times Square fährt: “Do you believe in magic?”
Die Geschichte dreht sich um die beiden kleinen Töchter, die sich an das Leben in Amerika gewöhnen müssen; die Mutter, die eigentlich Lehrerin ist, nun aber in einer Eisdiele arbeitet, und den schauspielernden Vater, der Taxi fahren muss. Die Familie versucht, über den Verlust ihres jüngsten Sohnes hinwegzukommen, indem sie aus Irland nach Amerika ausgewandert ist.
Der Film wird aus der Perspektive der zehnjährigen Christy erzählt. Sie zeichnet die kleine Familienwelt in einem runtergekommenen Brownstone in New York mit ihrem Camcorder auf. Wir sehen zu, wir hören zu, und wir entdecken die Welt durch ihre Augen. Das mag manchmal an der Grenze zum Kitsch sein, aber wem das nicht passt, der hätte gleich zu Anfang sagen müssen: „Nein, ich glaube nicht an Zauberei und gefälligst aus dem Kino gehen sollen.
Vordergründig geht es um den üblichen Kleinkram, der das Leben so nervig macht: Wo kommt das Geld für die Miete her, wie hält man sich die Junkie-Nachbarn vom Hals, und wieso funktioniert die Klimaanlage nicht? Aber aus all diesen alltäglichen Situationen entspinnen sich kleine Geschichten, die die Welt hinter der Realität suchen – und sie finden. Und wir entdecken, dass diese Geschichten das Leben so wunderbar machen: wenn der Vater das Geld für die Miete dafür rauswirft, der kleinen Tochter auf dem Rummelplatz ein Stofftier zu erspielen. Wenn aus unheimlichen Nachbarn plötzlich Freunde werden. Wenn man einfach ins Kino geht, weil da eben die Klimaanlage funktioniert. Und irgendwann stellen sich die Figuren die Frage: Was ist eigentlich unsere Realität? Sind es die Nervereien oder die kleinen Wunder, die tagtäglich passieren?
Der Verlust des Sohnes schwingt allerdings in allem mit, was die Familie macht. Der Film lässt dieses Gefühl des unendlichen Schmerzes aber nicht plakativ im Raum stehen und spinnt die Geschichte darum, sondern er lässt es ab und zu ganz unvermittelt in Dialogen, Gesten, Blicken durchbrechen. Meiner Meinung nach der einzig richtige Umgang mit Trauer und der einzig richtige Weg, sie zu zeigen, ohne albern zu werden. Selbst wenn man einen schweren Verlust erlitten hat – irgendwann tritt dieses ohnmächtige Gefühl in den Hintergrund, und man beschäftigt sich eben wieder mit der Miete oder der Klimaanlage. Aber plötzlich erwischt einen ein Blick, eine Bewegung, ein Anstoß, und die Erinnerung wird geweckt. Und plötzlich tut alles wieder weh.
Die Familie findet verschiedene Wege, mit der Trauer fertigzuwerden. Und nicht nur damit: Der Vater braucht einen Job, der Nachbar, mit dem man sich angefreundet hat, ist schwer krank, und die erneute Schwangerschaft der Mutter verläuft problematisch. Das hört sich jetzt alles nach einem fürchterlich schweren Film an, aber komischerweise hat man nie das Gefühl, an all dem zu ersticken. Es fällt manchmal schwer, dem optimistischen Nachbarn zu glauben, der ganz schlicht sagt: “Everything is going to be fine”, aber man glaubt es. Warum auch immer. Zauberei vielleicht? Und so steuert der Film auf ein Happy End zu, was zwar nicht heißt, dass alle Probleme gelöst sind und dass Trauer nie wiederkommt; aber es ist ein Ende, das gleichzeitig ein Anfang ist. Ein Anfang von neuen Nervereien und neuen Wundern.
In America ist einer dieser kleinen, schönen Filme, die eine ganz alltägliche Geschichte erzählen, ohne zu langweilen, ohne sie zu überhöhen, ohne aus allem eine Parabel zu machen. Man lacht, man weint, man freut sich, man leidet – man gehört nach zwei Stunden zur Familie und möchte alle vier in die Arme nehmen und sie nie wieder loslassen. Man kommt mit einem warmen Gefühl aus dem Kino und wird sich bewusst, wie gut die Luft schmeckt, die man atmet, wie wundervoll die Leuchtreklame in der Nacht aussieht und wie herrlich es sich anfühlt, wenn man lächelt.
I believe in magic. Deswegen liebe ich das Kino. Und deswegen liebe ich das Leben. Auch wenn’s manchmal nervt. Denn ich weiß, dass hinter allem ein Wunder wartet.
Endlich hab ich diesen Film gesehen, auf DVD..im Kino hab ich ihn leider verpasst. Ich muss sagen, Anke, Deine Filmkritik ist super, absolut zutreffend. Die ganzen Kerle bei der FAZ, Süddeutsche, Berliner Morgenpost, haben ihn einfach nicht verstanden. Bzw. wissen sie nicht, was “magic” ist.
Das Making-of auf der DVD ist auch ganz schön, und achja, ich hab Rotz und Wasser geheult.
Julia am 13. December 2004