Was schön war, Freitag, 18. November 2016 – Lesen (meine Standard-Überschrift, ich weiß)

Morgens fuhr ich zur von-Welden-Tochter, die mich wie immer erstmal bewirtete, bevor sie sich dazu bewegen ließ, mir Dokumente rauszulegen, was ich aber inzwischen ganz charmant finde. Erstmal bei Tee plaudern, dann über die Nachkriegszeit sprechen. Ich blätterte Kisten und Kästen von undatierten Zeichnungen durch und bekräftigte entschieden die Aussage der Tochter, dass man wirklich nicht jeden Fitzel, den der Mann mal bekritzelt hatte, aufheben muss. Dann guckte ich einige gerahmte farbige Bilder durch, die in einem großen Regal standen und erfreute mich ganz unwissenschaftlich an ihnen; die farbigen Werke aus den späten 50ern und 1960ern mag ich inzwischen wirklich gerne, mit den ganzen Zeichnungen kann ich bis heute recht wenig anfangen.

Ein paar Stunden später saß ich wieder im Zug, meinen Rucksack und meine Residenztheaterstofftasche vollgepackt mit Briefen an die Tochter und an Künstlerfreunde, dazu Unterlagen über Ausstellungen, meist erst nach seinem Tod, aber die will ich auch durchgucken, um Namen mitzukriegen, die mit ihm in Verbindung gebracht werden. Ich glaube, meine Arbeit wird sich eher um Künstlerkollektive drehen. Ich kann hier leider nicht gendern, denn anscheinend hat der Mann nur mit anderen Männern gemalt oder ausgestellt. Hmpf.

Außerdem im Rucksack: Schokolade. Ich kriege immer was mit, letztes Mal war’s Obst, dieses Mal Schokolade, weil ich schon so viel zu tragen hatte, die ist leichter. Es ist echt immer wie Oma-Besuchen.

Im Zug las ich weiter Ian Kershaws To Hell and Back (auf deutsch Höllensturz). Ich ahne allmählich, warum der Mann so erfolgreich ist: Er ist nicht nur ein guter Historiker, sondern er kann auch noch schreiben. Auf den ersten 100 Seiten geht’s um die Situation Anfang des 20. Jahrhunderts, die goldene Zeit, aus der dann eher zufällig und durch engstirnige Bräsigkeit ein Weltenbrand wurde. Ich las über die Entstehung des 1. Weltkriegs, seinen Verlauf und bin jetzt bei den direkten Nachkriegsauswirkungen. Das macht alles überhaupt keinen Spaß, liest sich aber wie geschnitten Brot; es ist wirklich eine Freude.

Ich habe gerade mal in die deutsche Leseprobe reingeguckt, die Übersetzung von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder scheint auch gut gelungen zu sein, wobei sie natürlich das Problem haben, dass im Deutschen auch die schönsten kurzen englischen Sätze grundsätzlich länger und manchmal umständlicher werden. Mir ist dieser Effekt bei meinen eigenen Texten vor Kurzem aufgefallen; für ein kunsthistorisches Projekt wurden meine deutschen Texte ins Englische übersetzt, und auf einmal klang ich total kurz angebunden. Nicht mehr präzise und auf den Punkt wie im Deutschen, sondern wirklich sehr vereinfacht. Damit haderte ich etwas, aber ich wusste nicht, wie man das noch hätte ändern können. Was ich mir für den nächsten Textauftrag, der hoffentlich kommen wird, vornehme: gleich auf Englisch abgeben. Dann klinge ich wenigstens nach mir und nicht wie jemand, die keine Lust hat, längere Sätze zu formulieren.

Abends schnappte ich mir wieder eine Graphic Novel aus der Münchner Stadtbibliothek: Haarmann von Peer Meter und Isabel Kreitz. Auch dieses Buch macht natürlich überhaupt keinen Spaß, denn es geht um den Hannoveraner Serienmörder Fritz Haarmann. Ich habe es trotzdem gerne gelesen, denn die Zeichnungen haben mir gefallen und es war schön, die alte Heimat wiederzusehen. Jetzt weiß ich zum Beispiel, wie der Bahnhofsvorplatz Mitte der 20er Jahre ausgesehen hat. Außerdem ist mir mal wieder aufgefallen, wie sehr Haarmann mit Hannover verbunden ist; wenn ich darüber nachdenke, was man so mitkriegt, wenn man dort bzw. in der Nähe aufwächst, bestand Hannover für mich jahrelang aus Haarmann, Schwitters, dem größten Schützenfest der Welt (plus Lüttje Lage), den Nanas und den Herrenhäuser Gärten. Über letztere freue ich mich innerlich immer großkotzig, wenn ich durch Nymphenburg gehe und denke, ja gut, du hast nen tollen Kanal, aber die Gärten sind in Hannover hübscher. Auch Schleißheim konnte mich nicht so umhauen. Bei beiden Gärten fehlt mir das Intime, das Herrenhausen an einigen Stellen hat. Das ist nicht überall nur groß und weitläufig und „guck mal, was wir haben“, sondern dort finden sich auch Eckchen zwischen hohen Hecken, in denen plötzlich eine kleine goldene Statue steht oder ein Bänkchen zum Ausruhen. Ich müsste da eigentlich mal wieder hin.