Tagebuch, Sonntag, 22. Januar 2017 – Halbhalb und Bananenkekse
Mein gestriger Tag bewegte sich zwischen Hoffen und Bangen.
Das Bangen lag natürlich an der Weltmacht da drüben überm Ozean, die jemanden gewählt hat, der nicht mal in die Nähe des Weißen Hauses gehört und der sich dazu auch noch eine Mannschaft zusammengebastelt hat, die mir den Magen umdreht. Ich dachte, nach dem Press Briefing von Spicer, auf dem die Presse sich vorhalten lassen musste, ihren Job zu machen, könnte kaum noch was kommen, aber hey, make America great again: Kellyanne Conway schaffte es ernsthaft, in einem Interview von alternative facts zu sprechen, als sie auf die offensichtlichen Lügen Spicers hingewiesen wurde. „War is peace, freedom is slavery, ignorance is strength.“ Ich werde wahnsinnig, wenn ich dem Treiben da drüben jeden Tag folgen soll, ich werde das lassen müssen.
Stattdessen sollte ich lieber Geschichtsbücher lesen. (UND NICHT NUR ICH, HERRGOTTNOCHMAL. ARE YOU LISTENING, US OF A? AAAAAAAAHH!)
Und so las ich gestern hoffnungsvoll weiter in Sheehans Where Have All the Soldiers Gone, wo ich endlich nach 1945 angelangt bin. Ich muss gestehen, ich weiß über die Nachkriegszeit kunsthistorisch besser Bescheid als historisch; bei letzterem besitze ich eine anständige Allgemeinbildung, aber das war’s dann auch. Gestern las ich zum ersten Mal etwas detaillierter über die Potsdamer Konferenz, die Truman-Doktrin, den Marshallplan und die Ausrichtung der beiden Blöcke, was Deutschland anging. Und dann war ich bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die 1951 als Handelsabkommen namens Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl begonnen hatte. Ich las folgenden Absatz:
„From the beginning, the European Community was based on a combination of ideals and interests, including a widespread desire among Europeans to escape the poisonous rivalries of the past and careful calculations of comparative advantage by individual policy makers. When one examines the course of the negotiations that produced European institutions, it is not difficult to find the constant pull of national interest. The molders of European integration believed that it was a way of making their states stronger, better able to survive in a new and complex world. For them, Europe was, in the language of American social science, a rational choice. But it is important to recognize that hazy concepts like “interest” and “rationality” acquire concrete meaning in particular historical situations. Only within the international order imposed by the superpowers could the intensifying economic and legal cooperation among the European states seem rational. The emergence of a new Europe, therefore, was not the cause of the long peace after 1945; peace was the new Europe’s necessary precondition.“
(James J. Sheehan, Soldiers, New York 2008, S. 161/162.)
Der letzte Satz war für mich der Schlüssel des Buchs, jetzt kann ich aufhören zu lesen. (Ich scherze.) Die Idee, dass nicht das gemeinsame Handeln der Grund für den langen europäischen Frieden ist, sondern dass die bewusste Entscheidung für Frieden und das Zurückstellen, aber nicht Vergessen von nationalen Interessen der Grund für ein vereinigtes Europa ist, hat für mich vieles im Kopf umgeworfen und neu sortiert. Allmählich ahne ich, warum mich die Entscheidung für den Brexit so irre gemacht hat, und ich verstehe nun, worin der historische Rückschritt in dieser Entscheidung liegt. Genauso rückschrittlich ist das „America first“-Gequatsche Trumps. Die FAZ kommentierte heute dazu, dass die USA damit ihre Weltmachtstellung freiwillig hergeben.
So große weltpolitische Entwicklungen musste ich abfangen und buk daher Bananenkekse. Ich habe dazu dieses Rezept ein zweites Mal ausprobiert und meine Erkenntnisse ergänzt. So ging der Tag etwas unaufgeregter zuende, als er begonnen hatte, und das war mir sehr recht.