Mein rechter Fuß
Ich gehe seit Ende Februar regelmäßig walken. Und ab und zu wird aus dem Gehen ein winziges bisschen Laufen. Und das ist ziemlich toll, aber damit ihr versteht, warum das so toll ist, muss ich etwas ausholen. Bis 2001, um genau zu sein.
2001 hatte ich fiese Rückenschmerzen. Also fieser als die, die ich sowieso hatte seit ich 15 oder so war. Ich hatte eigentlich immer irgendwie Rückenschmerzen, auch als ich noch schlank war, aber 2001 wurden sie so schlimm, dass ich nicht mehr sitzen oder schmerzfrei gehen konnte. Das war ein schöner Bandscheibenvorfall, und die damalige Empfehlung lautete: viel Ruhe und Krankengymnastik. Dass sich das total widersprach, ist mir erst viel später aufgefallen. Ich habe also wochenlang im Bett rumgelegen, bis von meinen Bauch- und Rückenmuskeln überhaupt nichts mehr da war, ging aber immer brav zur Krankengymnastik. Dabei musste ich eine Übung machen, bei der man im Vierfüßlerstand den linken Arm und das rechte Bein von sich wegstreckt (oder umgekehrt). Eigentlich kein Ding, aber wenn man nicht mehr viele Muskeln hat, die das halten, gibt es ein komisches Geräusch in der Wirbelsäule, an das ich mich noch erinnere, und ein komisches Gefühl, dass irgendwie was anders ist als vorher, aber ich bin hier ja bei medizinischem Fachpersonal (das meistens keine Ahnung hat, wie man mit dicken Menschen umgeht, aber das wusste ich damals auch noch nicht), das wird schon passen. Ich turnte weiter, fuhr mit dem Bus nach Hause, merkte beim Gehen schon, dass ich irgendwie ein bisschen wackelig war, schob das auf meine Erschöpfung und legte mich wieder ins Bett. Und als ich eine Stunde später mal aufs Klo wollte, war mein linkes Bein nicht mehr da.
Die Kurzfassung: zweiter Bandscheibenvorfall, dieses Mal so schlimm, dass es aufs Rückenmark drückte, ich rief den Notarzt, kam ins Krankenhaus, da war ab Bauchnabel abwärts schon alles weg, Gefühl, Beweglichkeit, alles halt, und ich wurde einen halben Tag später operiert.
Normalerweise bleibt man nach operierten Bandscheibenvorfällen drei, vier Tage im Krankenhaus. Bei mir waren es vier Wochen. Ich konnte nicht mehr pinkeln, ich konnte zunächst auch nicht gehen, dann irgendwann mit Rollator, aber auch nur fünf Schritte, irgendwann klappte ich im Bad zusammen, weil mein Kreislauf nicht mehr wollte, aber das ist jetzt alles egal. Es war klar, dass nach dem Krankenhaus noch eine Reha sein musste, und da wurde ich dann liegend hintransportiert – nach Damp an der Ostsee. Wenn schon Reha, dann wenigstens am Meer. Der dortige Orthopäde nahm mir sofort den Rollator ab und drückte mir Krücken in die Hand, und als ich mich traute, nicht mehr mit den Oberarmen an der Wand langzugehen, damit ich nicht umfiel, ging das ganz gut. Sehr langsam, nicht sehr weit, noch sehr wackelig, aber ich konnte wieder gehen.
Ich merkte in der Reha aber, dass einiges anders war. Im Krankenhaus hatte ich nur irgendwelche Schlappen an den Füßen gehabt oder sogar nur Socken, jetzt musste ich aber Schuhe anziehen, um im Gebäude rumzugehen oder auch mal ans Meer zu kommen. (Ich merkte leider relativ schnell, dass man mit Krücken schwer bzw. gar nicht auf Sand gehen kann.) Ich zog also wie gewohnt den linken Turnschuh zuerst an und wollte dann in den rechten schlüpfen – aber es ging nicht. Mein Fuß wusste nicht mehr, wie man sich einen Schuh anzieht. Ich guckte mir genau an, was der linke machte und versuchte das rechts zu reproduzieren, aber es ging immer noch nicht. Es geht auch bis heute nicht; wenn ich irgendwo hinfahre oder fliege, habe ich immer einen Schuhlöffel im Gepäck, weil ich sonst nicht in meine Schuhe komme. Oder zumindest nicht in einen.
In der Reha lernte ich viele Dinge wieder, zum Beispiel aufs Klo zu gehen. Das erste Mal nach Wochen ohne Katheter zu pinkeln, war unfassbar großartig, und wenn der Weg zum Edeka gegenüber der Klinik nicht so weit gewesen wäre (200 Meter) und ich gewusst hätte, wie ich meine Schuhe anziehe, hätte ich eine Flasche Billosekt besorgt – und sie gleich wieder ausgepinkelt, ohne Katheter, fuck yeah!
Nochmal die Kurzfassung: Ich habe bis heute nicht alle Körperfunktionen wieder, und ich weiß inzwischen auch, dass das so bleibt. Vor allem mein rechter Fuß kann nicht mehr so viel wie früher, aber das merkte ich erst nach und nach. Die Schuhe waren nur der Anfang. Ich merkte irgendwann, als ich auf dem Fußboden meiner Agentur landete, dass mein rechter Fuß es anscheinend nicht mehr mitkriegt, wenn er an Telefonkabeln oder ähnlichem hängenbleibt. Deswegen gehe ich bis heute eher mit gesenktem Blick, vor allem auf unbekanntem Terrain, einfach weil ich nicht hinfallen will. Ich merkte irgendwann, als ich mitten im Zimmer nach hinten zu fallen begann, dass ich darauf achten muss, mich bewusst nach vorne zu lehnen, weil mein Fuß sonst einfach vergisst, was sein Job ist. Ich merkte irgendwann, dass ich nicht mehr wie gewohnt auf Leitern steigen kann, weil meine rechten Zehen mich nicht mehr halten können; ich muss den Fuß quer auf die Stufen setzen, denn mein Ballen kann noch was. Und ich merkte irgendwann, dass ich nicht mehr laufen kann. Ich wollte morgens dem Bus hinterherrennen, aber weil die Fußheberschwäche eben dafür sorgt, dass meine Zehen mich nicht mehr vorwärtskatapultieren, fühlte es sich an wie hüpfendes Humpeln. Deswegen ließ ich das nach wenigen Metern und merkte mir: Ich kann nicht mehr laufen. Und das tat ich dann 16 Jahre auch einfach nicht mehr. Irgendwann ist man ja auch zu alt und zu würdevoll, um noch öffentlichen Verkehrsmitteln hinterherzurennen.
Februar 2017. Frau Gröner geht gehen. Den Plan hatte ich schon länger, denn es begann mich selbst zu nerven, dass meine Alltagsfitness immer mieser wurde. Seit ich nur noch Rad fahre bzw. zu Fuß nur noch den Weg von der Haustür zur U-Bahn zurücklege, hatte ich keine Rumlaufkondition mehr. Das merkte ich vor allem, als ich mit F. in Amsterdam und Madrid war; gefühlt wollte ich mich alle 500 Meter nur mal kurz setzen und jammerte innerlich dauernd „Issesnochweitissesnochweit?“ Also nahm ich mir vor, wieder im Alltag mehr zu gehen, was mich aber auch nervte, denn eigentlich fahre ich ja viel lieber Fahrrad. Also nahm ich mir stattdessen vor, wieder öfter aufs Laufband zu gehen, denn ich habe ja ein Laufband. … Äh, nein. … Ich hatte ein Laufband, und das steht auch immer noch in Hamburg, aber jetzt habe ich’s halt nicht mehr, und selbst wenn ich’s hätte, hätte ich keinen Platz dafür. Alleine diese Feststellung warf mich wieder wochenlang in Traurigkeit und ich fuhr weiter Fahrrad.
Dann googelte ich nach Fitnesstudios, auf die ich zwar überhaupt keine Lust hatte, aber ich wollte verdammt noch mal gehen. Ich wollte, wenn überhaupt, alleine auf ein Laufband, aber nicht mitten in einem Pulk von Läufer*innen sein, die alle toller als ich aussehen und viel schneller und fitter sind. Und ich wollte mich nicht vor anderen Leuten umziehen. Das letzte Mal habe ich das vor Jahren beim Kieser-Training gemacht, und auch dort, wo ja alle angeblich nur wegen der Gesundheit sind und nicht wegen der schlanken Taille, gucken die Leute, wenn sich ein Mensch mit deutlich nicht schlanker Taille nackt macht. Fand ich scheiße, will ich nicht mehr.
Ich fand ein Studio in meiner Nähe, wo ich theoretisch morgens hätte hinradeln können, eine Stunde aufs Laufband, wieder nach Hause radeln und dort duschen etc. Aber alleine der Gedanke daran nervte mich schon, ich fuhr weiter Fahrrad und wurde immer nöliger. Bis ich mir eines Morgens dachte, scheiß drauf, du hast den Alten Nordfriedhof fast vor der Haustür, da joggen immer Leute rum – steh einfach so früh auf, dass noch niemand da ist, der dich in Schlumpfklamotten und mit rotem Kopf sieht und geh los. Geh einfach los. Und genau das habe ich im Februar gemacht.
Eine Runde um den Friedhof sind ungefähr 750 Meter; das sagen jedenfalls Google Maps, die Wikipedia und die Umsonstversion von Runtastic, die ich mir irgendwann mal runtergeladen hatte und nun zum ersten Mal benutzte. Ich nahm mir zwei Runden vor, merkte am Ende dieser zwei Runden, dass eine dritte noch locker drin war, ging sie und hörte danach auf. Zwei Tage später ging ich wieder drei Runden, und als die Woche rum war, ging ich eine Woche lang vier Runden, dann eine Woche lang fünf und so weiter. Irgendwann war ich bei fast acht Kilometern, was ich ziemlich großartig fand für jemanden, die sonst nie weiter als 500 Meter gegangen war und das auch nur unter großem inneren Protest, weil Radeln halt super ist und man im Bus lesen kann. Ich ging bei Nike einkaufen, so dass ich nicht mehr in den weiten Baumwollhosen rumlief, sondern total professionell in Tights, ich ignorierte Regen und Schnee und ging und ging und ging. (Nebenbei: Hey, Gesellschaft, wenn du willst, dass wir dicken Menschen Sport treiben, weil du dir so große Sorgen um unsere Gesundheit machst – um Ästhetik geht’s dir ja nicht, gell, knick-knack? –, dann sorg gefälligst dafür, dass wir Klamotten haben, in denen man Sport machen kann. Die blöden weiten Baumwollplünnen kannst du dir an die Backe zimmern; gib mir Funktionskleidung in größer als 46/48 – weiter geht’s bei den ganzen Sportartikelherstellern nämlich nicht. Außer eben jetzt bei Nike, weswegen ich das weiterhin großflächig verlinken werde.)
Meistens ging ich alleine, aber natürlich nicht immer. Je wärmer es wurde bzw. je früher es hell wurde, desto mehr Leute waren plötzlich da. Inzwischen machte es mir nichts mehr aus, mit rotem Kopf und hautengen Hosen durch die Gegend zu gehen, denn hier sahen alle so aus und jeder wollte einfach nur ein paar Runden laufen. Laufen, nicht gehen. Walkende Menschen sah ich sehr wenige, aber stattdessen irrsinnig viele Läufer in jeder Konditionsphase. Ich sah eine ältere Dame, die im Rocky-Jogginganzug eine Runde lief und dabei ungefähr so schnell war wie ich. Ich sah einen jungen Mann, der dauernd auf die Uhr guckte, und der so schnell an mir vorbeizog, dass ich kaum glauben konnte, dass man in diesem Tempo mehr als 100 Meter laufen kann. Ich sah eine junge Frau, die nur auf den Zehenspitzen lief, eine ältere, die federleicht in Regenjacke und weiten Hosen an mir vorbeizog, zwei Damen, die sich beim Laufen unterhielten, und fast jeden Morgen meinen Liebling: einen jungen Mann in knielangen Tights und blauem Oberteil, der so wunderschön gerade und aufrecht und entspannt läuft (und so tolle Waden hat), dass ich ihm ewig hinterhergucke.
Ich sah Menschen jeder Altersklasse, aber kaum jemanden, dessen Körperfülle meiner ähnelte. Aber selbst das war egal, denn dadurch, dass man eh bloß überholt wird oder jemanden für wenige Sekunden gegenüber hat, hat man kaum die Möglichkeit, sich zu vergleichen – ganz anders als im Fitnessstudio, wo ich vermutlich eine Stunde lang schlanken, durchtrainierten, überglücklichen und gut verdienenden Traummenschen mit Doktortitel zugeguckt hätte, während vor mir eine Kalorienverbrauchsanzeige blinkt (I DON’T CARE!). Hier nicht. Hier sah ich gut gelaunt und entspannt Eichhörnchen, Grabsteine und den Sonnenaufgang. Und halt Läufer.
Ich wusste, ich kann nicht laufen, aber je mehr Menschen ich sah, die eben das taten, desto mehr wollte ich das auch. Und obwohl ich theoretisch einfach nur meine Füße etwas weiter vom Boden hätte heben müssen, habe ich mich nicht getraut. Wenn man etwas 16 Jahre lang nicht gemacht hat und davon überzeugt ist, dass man es nicht kann, fällt es irrsinnig schwer, es einfach doch noch mal auszuprobieren. Ich sprach mit F. darüber, der meinte: „Warte auf einen richtig guten Tag, an dem dir nichts die Laune verderben und dich nichts traurig machen kann. Du weißt ja, du kannst nicht laufen, also kannst du eigentlich auch nicht enttäuscht sein, wenn’s eben nicht klappt, aber falls doch, dann hast du einen guten Tag, an dem du dich wohlfühlst und es dir gut geht – das wird dann nicht so schlimm.“ Die Worte hatte ich tagelang im Ohr, bis ich einen Sonntagmorgen ganz alleine auf der Runde war. Niemand sah mir zu, mir ging’s gut, ich bilde mir ein, Spotify spuckte besonders motivierende Lieder aus – und irgendwann dachte ich, ich lauf jetzt ein bisschen.
Und dann lief ich ein bisschen.
Es sah vermutlich immer noch wie hüpfendes Humpeln aus, aber FUCK IT ICH LIEF. Ungefähr zehn Meter, weil ich so überrascht davon war, dass ich laufen konnte, dass ich gleich wieder stehenblieb. Außerdem habe ich innerhalb von einer Sekunde den Sinn von Sport-BHs verstanden, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich war so bräsig-glücklich, dass ich den Rest der Runde wieder ging, aber beim nächsten Mal nahm ich mir vor, wenn niemand guckt, laufe ich von dieser einen Bank da bis zur nächsten. Beim nächsten Mal lief ich von der ersten Bank bis zur dritten und dann bis zur vierten und irgendwann bis zum Baum da vorne und dann noch um die Kurve. Ich kann immer noch nicht wirklich lange laufen; ich habe bis heute keine ganze Runde geschafft, auch weil ich nicht weiß, ob ich meinem Rücken und meinem Knie damit einen Gefallen tue, wenn ich laufe. Dadurch, dass meine Zehen mich nicht abfedern, kriegen Knie und Rücken alles mit, und besonders leicht bin ich ja nun auch nicht. Außerdem muss ich beim Laufen noch mehr darauf achten, was mein Fuß tut und wo er hinstapft, weswegen ich die ganze Zeit einen inneren Monolog führe: „Okay, krall deine rechten Zehen nicht so ein, als ob du den Schuh festhalten willst, der hält schon. Roll dich links mal bewusster ab. Versuch, das rechte Knie vorne zu halten, auch wenn du’s eigentlich nicht halten kannst. Wie geht’s der Lendenwirbelsäule, alles gut, tut nix weh? Nicht die Zehen einkrallen!“ Und so weiter und so fort. Das ist alles deutlich unentspannter als einfach zu gehen, aber momentan bin ich immer noch so fasziniert davon, zu laufen, dass ich das für ein paar hundert Meter mitmache. Daher ist mein Ehrgeiz auch nicht, einen 5k zu laufen. Mein Ehrgeiz ist es, schmerzfrei meine Runden zu drehen, ganz egal, ob laufend oder gehend, und meine Alltagsfitness zu verbessern. Wenn ich Lust habe zu laufen, dann laufe ich, wenn ich nur gehen will, dann gehe ich, und inzwischen ist es auch egal, ob mich jemand sieht, wie ich hüpfend humpele.
Das ist jetzt vielleicht nicht die Pointe, auf die ihr gewartet habt – „Hey, ich trainiere jetzt für den Marathon“ –, aber ich denke jedesmal, wenn ich loslaufe: OMG ich laufe. Momentan laufe ich meist eine halbe Runde, dann gehe ich eine halbe, dann laufe ich wieder oder auch nicht. Das fühlt sich gut an, und mein ganzer Körper scheint damit einverstanden zu sein. Ich merke seit Wochen, dass mir Gehen im Alltag viel leichter fällt als noch vor wenigen Monaten, und ich freue mich schon sehr darauf, durch Paris und Wien und St. Petersburg zu gehen. Das einzig Dumme: Meine Ausrede, aus der Puste zu sein, ob F. vielleicht mal ein Eis, was zu trinken, Sonnencreme besorgen könnte, während ich hier rumsitze … die zieht jetzt nicht mehr. Verdammt.