Tagebuch, Sonntag, 26. November 2017 – Lesetag
Ich lese gerade Die Feuchtwangers: Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis im deutsch-jüdischen Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts von Heike Specht (Amazon-Partnerlink geht zur Kindle-Version, das Buch gibt es aber auch als Hardcover). Es ist nicht nur sehr lesbar geschrieben, sondern zeigte mir persönlich auch eine neue Facette meines liebsten München-Features auf, nämlich dem Mitbringen von Speisen in die Biergärten.
Das Kapitel, aus dem ich zitiere, behandelt das orthodoxe Leben der Feuchtwanger-Familie im katholischen München, was, jedenfalls im späten 19. Jahrhundert, anscheinend besser funktionierte als jüdisches Leben im protestantischen Norden. Dort wurde von Juden eher erwartet, dass sie sich an das bürgerliche Deutsche Reich anpassten, während es in den katholischen Landesteilen auf mehr Verständnis stieß, offen religiös zu sein bzw. seine Frömmigkeit zu praktizieren; genau das taten die Katholiken mit ihren Wallfahrten, Feiertagen, Heiligenverehrungen und Gebräuchen nämlich auch. (S. 127/128.)
„Die Atmosphäre in der bayerischen Residenzstadt begünstigte zweifellos die Existenzmöglichkeit einer solchen kleinen jüdisch-orthodoxen Welt mitten in München. […] Die Münchner Juden teilten die Liebe der sie umgebenden Gesellschaft zum bayerischen Bier. Die bierlose Woche während des Pessach-Festes war für zahllose fromme Juden eine wahre Kasteiung. Mosche Feuchtwanger erinnert sich, dass sich sein Vater jedes Jahr nach Ende der Pessach-Woche schnurstracks in sein Lieblingslokal „Neptun“ begeben habe, wo er nach einwöchiger Abstinenz Bier und Breze umso mehr genoss. Das Oktoberfest fiel häuftig mit den hohen jüdischen Feiertagen zusammen, und nicht selten endete das Fasten am Versöhnungstag bei einer Maß im Festzelt auf der Theresienwiese. Nathan Drori, der seine Ferien öfter im Hause Angelos in München verbrachte, erinnert sich daran, dass das Dienstmädchen nach der obligatorischen Suppe bei jedem Mittagessen ins benachbarte Wirtshaus gehen musste, um für den Großvater ein frischgezapftes Bier zu holen. Außerdem kehrte der Großvater nach seinen täglichen Synagogen-Besuchen regelmäßig auf eine oder zwei Maß ins Hofbräuhaus ein. Am Schabbat-Nachmittag traf sich dort oft die ganze Familie zum Kaffeetrinken. Dabei legte man großen Wert darauf, dass der Kaffee nicht extra gemacht wurde, da das Kochen von Tee oder Kaffee am Schabbat nach orthodoxer Auslegung der Religionsgesetze nicht zulässig ist. War der Kaffee aber schon einmal da, so trank man ihn gerne und offenbar ohne größere Gewissensbisse. Da auch der Umgang mit Geld am Schabbat verboten ist, ließen die Feuchtwangers regelmäßig anschreiben und beglichen die Rechnung an einem Werktag. Die Tatsache, dass sie den Samstagnachmittag im Hofbräuhaus verbrachten, dabei aber streng auf die Gebote der Schabbat-Ruhe achteten, macht die von den Feuchtwangers praktizierte Kombination von beharrlichem Festhalten an jüdischer Observanz und Flexibilität gegenüber der Umgebung besonders deutlich. Mitten in einer nicht-jüdischen, bayerischen Welt, die man bis zu einem gewissen Grad als seine eigene betrachtete, war man bewusster Jude.
Lion Feuchtwanger betonte, dass seine Familie ‚Deutsch mit dem gleichen breiten, kräftigen bayerischen Akzent‘ sprach ‚wie alle anderen‘ und dass man am Leben teilnahm, soweit das die jüdischen Bräuche zuließen. Einige Rituale des bayerischen Lebens kamen den gesetzestreuen Juden sehr entgegen. Beispielsweise war die in Bayern weit verbreitete Gepflogenheit, die Biergärten zu besuchen, gerade bei den frommen Juden der Residenzstadt überaus beliebt. Man konnte zum einen die Natur genießen, zum anderen aber auch teilhaben an einem sehr volkstümlichen Zusammentreffen und Zusammensitzen mit Münchnern aus allen Kreisen der Bevölkerung. Der Vorteil an dieser Art der Geselligkeit lag für die observanten Juden, die sich an die jüdischen Speisegesetze hielten, darin, dass es in Biergärten durchaus üblich war, das Essen von zuhause mitzubringen. So nahm man einfach seine koscheren Speisen mit in den Biergarten, denn ‚es kam auf den Konsum des Bieres an, nicht auf das Essen.‘
Bei aller Heimatliebe waren die bayerischen Juden aber keineswegs von antisemitischer Diskriminierung und Vorurteilen gefeit. Martin Feuchtwanger berichtet in seinen Erinnerungen von einem hässlichen Zwischenfall, der sich während des Oktoberfestes zugetragen hat. Als kleiner Bub wurde er von seinem Onkel Louis zusammen mit den Geschwistern, Vettern und Cousinen auf diese urmünchnerische Festlichkeit mitgenommen. Die Gruppe von Kindern war aufgeregt und überwältigt von Riesenrad, Luftschaukeln, Schaubuden und den Verkaufsständen mit Süßigkeiten. Bester Stimmung begab man sich in ein Bierzelt.
‚Auch Onkel Louis war lustig, sang und schwang den Bierkrug. Da kam ein junger, besoffener Mensch auf ihn zu, klopfte ihm auf die Schulter und rief: „Bist auch hier, alter Jud mit der krummen Nas, komm her, Prosit!“ Der Onkel verfärbte sich, er war tief erschrocken, dass selbst der Besoffene nüchtern wurde und stotterte: „Was hast denn? Ich hab dir doch nichts getan!“
Zwar mischten sich die Umsitzenden ein und schalten den Betrunkenen für die ‚bodenlose Gemeinheit‘, ‚einen Jud zu beschimpfen auf der Oktoberwiese‘, aber Louis und die Kinder brachen bald darauf verstört auf.“
Heike Specht, Die Feuchtwangers: Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis im deutsch-jüdischen Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2006, S. 130–132.