Tagebuch Montag, 7. Januar 2019 – Team Ophelia!
Morgens vor die Tür gestiefelt, um eine Zeitung zu kaufen. Immerhin gleich Croissants (Frühstück) und Brezn (Nahrung für den Rest des Tages) mitgebracht. Die neueste Folge Outlander geguckt; die jetzige Staffel finde ich eher doof, aber man weiß ja nie, mal weitergucken. Den Rest des Tages war ich dann wieder im Texterflöz unterwegs.
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In der Mittagspause hörte ich die Musik zum Tag aus Year of Wonder: Gestern gab’s Les chemins de l’amour von Francis Poulenc, worüber Autorin Burton-Hill treffend schrieb: „It is tinged with a bittersweet poignancy, the lilting charms of its melody undercut by a sense of impending loss.“ Ich fand das Stückchen sehr schön. Mehr kann ich zu den drei Minuten nicht sagen. Ich frage mich gerade, ob ich die Musik zum Tag nur verbloggen sollte, wenn ich etwas zu sagen hätte. Auch hier: mal weitergucken.
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Und abends traf ich mich dann mit F. in den Kammerspielen. Es gab den Herrn Hamlet in einer Inszenierung von Christopher Rüping. F. hatte das Stück schon zweimal gesehen und verriet mir, dass es erstens mit dem Schluss losgehe und das zweitens alle drei Schauspieler*innen mal den Hamlet geben würden, symbolisiert durch einen schwarzen Hoodie, den sie tauschten, bevor zum Schluss alle dieses Kleidungsstück trugen. Ich kann jetzt nicht mehr beurteilen, ob ich das auch ohne F.s Worte kapiert hätte – ich gehe mal davon aus, dass ja –, aber ganz so ein Selbstläufer ist diese Idee anscheinend nicht: Mit uns war eine Schulklasse im Saal, bei denen sich einige beim Rausgehen gegenseitig fragten, wer denn nun eigentlich Hamlet gewesen wäre.
Dass es mit dem Schluss losging, war für das Bühnenbild ein Geschenk und für die Darstellenden vermutlich nur ein weiterer Baustein in ihrem unbequemen Abend: Sie verteilten erstmal minutenlang eimerweise Kunstblut auf dem durchlässigen Metallfußboden. Das machte immerhin schön klar, dass das Stück vielleicht keine lyrische Angelegenheit werden würde, falls es jemand noch nicht kennen sollte. Wobei: Ohne Vorkenntnisse vom Stück sitzt man vermutlich zwei Stunden ziemlich ratlos im Publikum, so sehr zerbröselt Rüping den Text, nutzt nur noch Versatzstücke und ergänzt recht freestyle. Nachdem aber klar ist, dass alle tot sind – das Blut wäre ein Hinweis, eine Anzeigentafel, auf der so ziemlich alle Namen der Figuren nach und nach durchgestrichen werden, ein weiterer –, fangen wir doch von vorne an. Nur szenenweise und die auch stark verkürzt; Rosencrantz und Guildenstern sind, wenn ich mich richtig erinnere, für ungefähr eine Minute erkennbar und haben auch keine Funktion mehr, außer dass sie sterben, was dadurch symbolisiert wird, dass die beiden Darstellenden sich jeweils einen Eimer Kunstblut über den Kopf schütten – eine Geste, die am Abend gefühlt achtzigmal vorkam.
Ich erspare euch eine Nacherzählung und verweise faul auf diverse Kritiken, die sich alle nicht einig sind. Ich persönlich fand’s bis auf kleine Dinge großartig. Zum Beispiel der Umgang mit dem Evergreen „Sein oder Nichtsein“: Der Satz leuchtet irgendwann auf der Tafel auf und Hamlet stöhnt nur abwiegelnd, och nee, nicht den Scheiß wieder. Statt ihm beginnt dann auch der Musiker an der Bühnenseite, der stets sichtbar ist (und manchmal irre laut), Samples von alten Aufnahmen des Monologs abzuspielen. Das hätte ich grandios gefunden, das Ding kennt eh jede*r, aber so ganz hat sich Rüping anscheinend doch nicht getraut, ihn komplett wegzulassen, also beginnen die Schauspieler*innen selbst auch nochmal, den Text aufzusagen. Das war zuviel und inkonsequent.
Was ich aber hingegen grandios fand, war sein Umgang mit Ophelia, der armen Maus, die das komplette Stück irgendwie erduldet, bevor sie gnädig ertrinken darf, hmpf. Hier schreit Hamlet (gerade verkörpert von Kaja Bürkle) Ophelia (hier gerade Nils Kahnwald) minutenlang an, wie sehr sie nerve, wie sehr sie seine Zeit koste, mit ihrem Hamsterblick, dass sie sich endlich verpissen solle, warum sie nicht auf ihn höre und SICH ENDLICH VERPISSE uswusf. Das ging gefühlt zehn Minuten so, die schreiende, herumirrende Bürkle und im Hintergrund emotionslos Kahnwald, der das alles über sich ergehen lässt und dessen Mimik weder Entsetzen noch Erstaunen noch Wut oder Angst zeigte, er stand da einfach und sie brüllte ewig. Irgendwann war ich selbst genervt davon und dachte mir, jetzt geh doch endlich, dann geht das Stück mal weiter – und in dem Moment hatte ich kapiert, worauf alle hinauswollten: Ich war als Publikum genauso zum Arsch geworden wie Hamlet, der Ophelia loswerden und weiter mit Blut rumspritzen wollte. Auf die Zwölf.
Überhaupt habe ich selten einen solch unsympathischen Hamlet gesehen, was ich im Nachhinein als zwiespältig empfand. Am Abend selbst fand ich es toll, dass aus dem angeblich edlen Rächer ein totaler Mistkerl wird, im Nachhinein weiß ich nicht, ob die psychische Komponente, der innere Aufruhr, die Wahnvorstellungen (?) der Figur damit nur faul unter den Teppich (oder den blutigen Metallboden) gekehrt wurden.
Man kann dem Stück sicherlich vorwerfen, teilweise inkonsequent zu sein, aber ich hatte zwei äußerst intensive Stunden und empfehle euch einen Besuch. Wir zwei mussten das dringend bei einem Bierchen besprechen, was den Abend ebenso intensiv weitergehen ließ.
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Gemeinsam bierschwer eingeschlafen. Durchgeschlafen, endlich mal wieder! Vielleicht sollte ich meinen ollen Tee abends durch Bier ersetzen.