Tagebuch Dienstag/Mittwoch, 15./16. Januar 2019 – Viel Lesestoff
My precious! Im miesen Flurlicht morgens, wenn Frau Gröner noch nicht wach genug ist, das Briefkastentürchen anständig weit zu öffnen. Oder das iPhone scharfzustellen. Und die einzig lesbare Headlines ist natürlich auch nicht wirklich gute Laune. Egal. Ich habe morgens wieder Lesestoff im Haus! Und ihr kriegt deshalb heute auch eine richtig dicke Portion davon. Leider keinen Artikel aus der FAZ, denn die, die ich gerne empfohlen hätte, sind (noch) nicht online. Mpf.
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Bei Year of Wonder hatte ich am Dienstag nach 14 Musikstücken endlich mal eins, das mir nicht gefallen hat. Für Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps hatte ich irgendwie keine Geduld, und auch die anderen Teile des Werks, die ich neben dem 5. Satz bei Spotify anhörte, habe ich nicht beendet. Die Entstehungsgeschichte ist allerdings (leider) beeindruckend.
Gestern stand dann der Dreiminüter Etüde in cis-moll, op. 2, Nr. 1 von Alexander Skrjabin auf dem Programm. Der komplette Buchtext dazu lautet: „Look, sometimes what we just really need in the middle of January is music that feels like a large glass of red wine. You’re welcome.“
Ich höre die Stücke immer zuerst und lese dann, was Burton-Hill dazu geschrieben hat; ihre Interpretation fand ich spannend, denn wenn ich an irgendwas nicht gedacht habe, dann an einen anständigen Rotwein. Ich empfand das Stück als melancholisch, suchend, fast flehend. Im Mittelteil kippt es kurz ins Dur und umpuschelt einen für gefühlt zehn Takte, und dann ist man wieder alleine mit sich und dem Klavier.
Das hatte für mich rein gar nichts mit Rotwein zu tun. Wenn ich böse wäre, würde ich das Stück im Sinne Burton-Hills interpretieren in: mieser Tag, Flasche auf, kurze Besserung, dann wieder Rückfall in Traurigkeit. So gehe ich aber nicht mit Wein um. Wein ist Genuss, Hochstimmung, Innehalten, Staunen, Duft, wenn’s gut läuft Tiefe und große Erkenntnisse morgens um 2, wenn’s eine eher billige Abfüllung war, immerhin ein netter Beerencocktail, der keinen Kopf macht, weil er so wenig Körper hat. Im Rotwein ist für mich sehr selten Melancholie. Im Wodka schon eher, aber darüber schreibt anscheinend niemand klassische Musik.
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Der Maßstab der Wirklichkeit – Zur Kontroverse um Takis Würgers Roman Stella
Ich habe das Buch nicht gelesen, in dem Würger sich auf Stella Goldschlag bezieht, aber die vielen Verrisse dazu, danke, Perlentaucher. Johannes Franzen schreibt im Merkur über Geschichten, die auf historischen Begebenheiten beruhen und weist auf den Unterschied zwischen Mittelalterschmonzetten aus der Bahnhofsbuchhandlung und Romanen über die NS-Zeit hin. (via @niggi)
Ich zitiere recht viel, weil ich eigentlich alles zitieren will:
„Sollte eine Autor*in nicht in der Lage sein, in einer fiktionalen Erzählung über alles schreiben zu können, was sie möchte? Sollte sie nicht alle historischen Orte bereisen, alle Personen verkörpern, alle Stimmen einnehmen dürfen? Diese Einstellung gehört zu den einflussreichen literaturtheoretischen Dogmen unserer Zeit und wird gerne verwendet, wenn einem literarischen Werk oder einem Literaten ein reales Fehlverhalten vorgeworfen wird. […]
Dieser Einwand erscheint zunächst plausibel, vor allem, da er an eine eingeübte Hochschätzung all dessen appelliert, was mit der Freiheit der Kunst zusammenhängt. Kontroversen wie die um Stella zeigen allerdings, dass der routinierte Verweis auf die Lizenzen der Fiktion nicht ausreicht, um die reale Wut und Irritation, die fiktionale Werke auslösen können, zu domestizieren. Literarische Texte stehen fast immer in einem engen dialogischen Verhältnis zu einer gegenwärtigen oder historischen Wirklichkeit; ihre Fiktionalität kann sie niemals vollständig gegen Kritik, die sich auf den Maßstab der Realität bezieht, immunisieren. Und das will sie auch nicht, denn sonst wäre sie kraftlos, wirkungslos, leblos. Literarische Werke, die den Anspruch haben, eine Wirkung auf die Wirklichkeit zu haben, müssen sich auch an der Wirklichkeit messen lassen. […]
Es stimmt sicherlich, dass der Schutzraum des Romans den Autor gegen den Vorwurf, die realen Ereignisse falsch dargestellt zu haben, immunisiert, aber eben nur bis zu einem bestimmten Grad. Denn in dem Moment, in dem man reale Personen zum Gegenstand literarischer Texte macht, unterwirft man diese Texte auch den Maßstäben, die an faktuale Texte – wie journalistische und historiografische Erzählungen – angelegt werden. In dem Moment, in dem der Autor seinen Roman Stella genannt hat und reale Personen dort wiedererkennbar auftreten lässt, behauptet er natürlich auch, dass man es mit einer „Annäherung“ an diese Person zu tun hat. Die Vorstellung, man müsste nur „Roman“ auf einen Text schreiben, und könnte dann die Realität nach Gutdünken formen, ohne dafür belangt zu werden, erscheint absurd, wenn man sie zu Ende denkt: Die Leser*innen können ja kaum darauf verzichten, eine reale Person, die sie aufgrund ihres Weltwissens erkennen, auch als real zu lesen. Es gibt im Kopf der Rezipient*innen keinen Schalter, der die Mechanismen der faktualen Lektüre einfach ausschaltet, wenn der Autor nur laut genug „Dies ist Fiktion!“ brüllt. […]
Während es naheliegend erscheint, dass die Freiheit der Fiktion im Fall der Verarbeitung lebender Personen eine Einschränkung findet, ist der Fall Stella vor allem deshalb interessant, da er auf die Grenzen der Verarbeitung im Fall von mehr oder weniger historischen Ereignissen verweist. Denn diese Grenzen sind kulturell variabel; wie streng sie gezogen werden, ist von der politischen und ethischen Bedeutung abhängig, die eine Gesellschaft einem Ereignis zuweist. So werden sich wohl kaum Menschen finden, die die Freiheiten verurteilen, die sich Hilary Mantel in Wolf Hall mit der historischen Person Heinrichs VIII. genommen hat, oder die das Bild Caligulas kritisieren, das Robert Graves in I, Claudius entworfen hat. In beiden Fällen wird die Kritik an den historischen Abweichungen sich auf ein paar schlecht gelaunte Historiker*innen beschränken (wenn überhaupt). Dagegen fordert das historische Faktum der Schoah – das zeigt der Großverriss von Stella – eine viel rigidere Wahrheitstreue, auch in der fiktionalen Verarbeitung. […]
Schließlich verweist der Fall auch auf das Problem der Autorisierung, auf die Frage nach dem narrativen Eigentumsrecht. Der Titel eines buchlangen Essays von Norbert Gstrein bringt diese Frage auf den Punkt: Wem gehört eine Geschichte? [Link zum Perlentaucher] Die Kontroverse um dieses Eigentumsrecht wird nicht nur virulent im Fall einer literarischen Verarbeitung der Schoah, sondern spielt gerade im Umfeld der Debatte um die politische Bedeutung des Konzepts einer cultural appropriation eine wichtige Rolle. […]
Der Großverriss von Stella ist jedenfalls nicht, wie es im Tagesspiegel heißt, Ausdruck von feuilletonistischer „Hysterie“, die durch die Fälle ‚Relotius‘ und ‚Menasse‘ ausgelöst wurde, sondern vor allem ein Anzeichen für die gesteigerte Bedeutung literarischer Maßstäbe, die Ethik und Ästhetik miteinander verbinden.“
Ich musste bei dieser Aufarbeitung an die weiße Künstlerin Dana Schutz denken, der cultural appropriation und Unsensibilität vorgeworfen wurde, weil sie ein Bild des offenen Sargs von Emmett Till malte. Die New York Times schreibt:
„Now, Ms. Schutz admits that she is “guarded” about the controversy and is most wary discussing her motivations for painting the scene in the first place, saying only that it was an attempt to “register this monstrous act and this tragic loss.” But she acknowledged that may have been an “impossible” task.“
When asked if she regretted making the work, she paused and said, “No, I don’t wish I hadn’t painted it.”
The long-term effect of the controversy, she said, is that she has internalized the viewpoints of the protesters even when making new work.
“I’ve had so many conversations with people who were upset by the painting,” Ms. Schutz said, adding that she has included them in “my imagined audience when I’m painting. It’s good those voices were heard.”“
Ich glaube, das ist der Knackpunkt an diesen Kontroversen und das Neue in der Diskussion um Freiheit der Kunst. Es werden auf einmal Stimmen laut und gehört, denen jahrzehnte-, jahrhundertelang keine Beachtung geschenkt wurde. Schwarze, Frauen und viele andere. Diese neuen Stimmen tragen zu einer neuen Sensibilität bei, und die scheint sich ganz langsam niederzuschlagen, siehe bildende Kunst, siehe Literatur.
(Edit: Ich sehe gerade in den Kommentaren zu Franzens Artikel, dass der Merkur sich auch schon mal mit Open Casket auseinandergesetzt hatte.)
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A 4-Year-Old Trapped in a Teenager’s Body
Von einer Krankheit namens Testotoxikose hatte ich noch nie gehört, es gibt auch keinen deutschsprachigen Wikipediaeintrag (hier der englische). Kurz gesagt, sorgt eine genetische Mutation in männlichen Kindern dafür, dass diese viel zu früh in die Pubertät kommen – sie fühlen sich (und sehen so aus) wie 13, sind aber erst 2. So beschreibt es jedenfalls der von der Krankheit betroffene Patrick Burleigh, der heute 34 ist und vor wenigen Jahren vor einer schwierigen Entscheidung stand. Der Teaser klingt hier wie ein Essay über pränatale Diagnostik, es ist aber viel mehr eine biografische Abhandlung. Und zwar nicht nur über die Lebensgeschichte des Verfassers, sondern auch über die vorheriger Generationen.
„I got my first pubic hair when I was 2 years old.
I couldn’t talk, I could barely walk, but I started growing a bush. Or so they tell me. I have no recollection of a time before puberty, before the carnal cravings, the impulses, the angst and anger and violence. There was no prelapsarian age of innocence for me; I was born, I took a huge bite of the apple, and, by 2 years old, I was pretty much ready to get busy with Eve.
It was the same for my father, and for his father, and for his father, and for the men in my family going back as far as we have records. We’ve all carried the same hereditary genetic mutation. […]
Having a mutant LHCGR gene leads to what doctors now call familial male-limited precocious puberty, an extremely rare disease that affects only men because you have to have testicles, which is why it’s also called testotoxicosis. The condition tricks the testicles into thinking the body is ready to go through puberty — so wham, the floodgates open and the body is saturated with testosterone. The result is premature everything: bone growth, muscle development, body hair, the full menu of dramatic physical changes that accompany puberty. Only instead of being 13, you’re 2. […]
This feeling of freakishness, of being strange and different, persisted well into adulthood, such that I refused to talk about it with anyone other than close friends and family. Until a little over four years ago, when my wife and I were trying to have a baby of our own, an endeavor that took two years and countless episodes of joyless appointment sex before we finally decided to do in vitro fertilization. I came in a cup, my wife pumped her body full of hormones, scientists fertilized the eggs, and we ended up with five viable embryos. Everything looked great. And then I was faced with the hardest decision of my life.
We learned that we could biopsy the embryos to find out if any of them carried the mutant LHCGR gene: the mutant responsible for a childhood rife with shame, embarrassment, and bullying; the mutant responsible for my violent, antisocial behavior as a boy; the mutant responsible for the troubled adolescence that my father, grandfather, great-grandfather, and I all endured, an adolescence that nearly delivered each of us to jail or worse. If one of our embryos tested positive for a mutation of the LHCGR gene, we could eliminate it. My body would be the final destination of the disease that had defined my family for generations.
There was no reason not to do this. But I hesitated.“
(via @emilynussbaum)
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Und noch ein Essay, den ich komplett copypasten möchte. Eine meiner liebsten Autorinnen Chimamanda Ngozi Adichie schreibt im New Statesman darüber, warum sie sich nicht als afrikanische Autorin bezeichnet. Sie entwickelt eine Antwort auf genau diese Frage, indem sie über das Schreiben als private Übung nachdenkt, über das Autorinnen-Ich und das Staatsbürgerinnen-Ich, über ihre feministischen Positionen und über die immer noch vorhandenen Vorurteile vom „Westen“ (so bezeichnet sie die nicht-afrikanischen Länder) über den Kontinent, von dem sie stammt.
Es ist schwierig, einen Teil aus den entwickelten Gedanken herauszureißen, um sie hier als Teaser zu nutzen, also lest doch bitte einfach alles.
„It is in some ways true that art is a thing apart, because unlike politics art functions in grey spaces, it humanises, it goes below the surface.
But we also live in a world in which the nation-state dominates, in which the value the world gives us as human beings can be determined by the passports we carry.
I cannot imagine what it is like today to be a writer who has a Syrian passport, or who is a citizen of Yemen, or El Salvador, or the Democratic Republic of Congo, countries in which an artist’s freedom of movement, and perhaps freedom to create, is constrained by political realities.
For me, travelling with a Nigerian passport means carrying the weight of assumptions. It means to be, at many ports of entry, automatically suspect. To travel with a Nigerian passport is to constantly confront the sneering disbelief of immigration officers when I say I am a writer, it is to be asked to step aside for more questions, it is to feel that you are guilty of something. […]
We are a people conditioned by our history and by our place in the world to look towards somewhere else for validation. We are conditioned to learn a lot of untruths and half-truths about who we are, and some of us make the choice to consciously unlearn these, but even the very act of unlearning takes on a colonial colouration and feeds into our nervous condition. We are conditioned by the knowledge that we come from a place that has long been derided.“
(via @aldaily)