Tagebuch Freitag, 26. Juli 2019 – 200 Seiten weniger
Morgens als erstes der Blick auf den Router, wo in den letzten beiden Tagen nur drei klägliche Lichtlein blinkten statt fünf. Gestern morgen: VOLLE POWER! ICH HABE MEIN INTERNET WIEDER! Sofort den Tannhäuser-Stream angeworfen, nicht im Word-Dok vorgebloggt, sondern gleich mutig in der WordPress-Oberfläche im Browser, sehr lang und ausführlich aufgeschrieben, wie ich die Aufführung fand. Nochmal hach!
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Den Vormittag dann am Schreibtisch verbracht, um den abendlichen Gesprächstermin mit dem Doktorvater vorzubereiten. Nochmal brav über alles gegangen, was mir wichtig war, Notizen für Fragen gemacht, was man halt so tut. (Das ist übrigens fast ein Bildtitel von Protzen: Was man so alles tut (Selbstportrait) (1929, Werkverzeichnis 198, 130 x 82 cm). Holt mich hier raus.)
Reisevorbereitungen getroffen, denn demnächst geht’s nach Nürnberg ins Kunstarchiv. Mal wieder nicht rechtzeitig die FAZ von Papierlieferung auf digitale Ausgabe umgestellt bekommen; vielleicht freut sich der Blumengießdienst über das Exemplar.
Zu heiß für ernsthafte Diss-Arbeit, den Lost-Rewatch weiterbetrieben, neue Folgen von Younger und Jane the Virgin geguckt. Rumgelegen, geschwitzt und mich auf das kühlere Wochenende gefreut, an dem ich wieder denken kann.
Gegen 16 Uhr dann doch in die Scheißhitze gegangen, wenigstens im knallpinken Shirt. Macht überhaupt nicht schlank, aber dafür gute Laune.
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Der Doktorvater war mit dem vorherigen Termin noch nicht fertig, das ist er nie, das ist in Ordnung. Ich bekam den üblichen Kaffee angeboten, den ich wie üblich ablehnte, dann wurde kurz nach der Finanzierung meines Lebens gefragt; nein, ich will immer noch kein Stipendium, dann darf ich nämlich nicht mehr arbeiten, und das ist in meiner Branche dann doch etwas einträglicher als das geschenkte Geld. Wenn mich mal jemand wieder buchen würde, ähem. Letzteres lässt mich manchmal nachts nicht gut schlafen, aber in meinem Kopf reichen die Ersparnisse bis zur Abgabe, und danach sehen wir weiter. Und wenn mich niemand bucht, kann ich halt ungestört promovieren. Hat alles Vor- und Nachteile. (Will trotzdem besser schlafen.)
Meine vorab brav geschickte vierseitige Gliederung mit den bisherigen Erkenntnisgewinnen – bzw. einem winzigen Ausschnitten davon – hatte Papa natürlich noch nicht gelesen, also taten wir das jetzt gemeinsam. Hier eine Nachfrage, da eine Anmerkung – „Sie wühlen ja immer recht gründlich“ –, dann, auch wie immer, irrwitzige Hinweise auf Archivbestände, von denen ich noch nie gehört hatte, und Personen, die ich mal anmailen sollte. Tipps für den Umgang mit Archivar*innen: „Immer sagen, was Sie schon kennen, das macht einen guten Eindruck, dann sieht das nicht so aus, als sollte das Archiv die Arbeit für Sie machen.“ „Bei dem Herrn eine Mail schicken und erst frühestens nach drei Wochen nochmal nachfragen. Der hasst es, wenn er sich gedrängt fühlt, weiß aber alles.“ „Die Dame freut sich total, wenn man sie was fragt, in dem Archiv ist nie jemand.“ „Wenn Sie gut in Bibliotheken arbeiten können, nehmen Sie die vom Deutschen Museum. Da stehen Zeitschriften, von denen Sie nicht mal wissen, dass sie existieren, und der Lesesaal ist nie so voll wie in der Stabi.“ Gerade auf letzteres freue ich mich seit Wochen, denn ich beginne ja gerade das Autobahnkapitel, für das ich bergeweise technische Zeitschriften wälzen will.
Ich erwähnte es hier vermutlich schon mehrfach: Meine Diss besteht aus zwei Teilen, zuerst die Aufarbeitung von Protzen und anschließend seine Rezeptionsgeschichte nach 1945. Die wollte ich eigentlich an den drei großen Ausstellungen von systemkonformer Kunst des NS aufbereiten: Dokumente der Unterwerfung (Frankfurt 1974), Aufstieg und Fall der Moderne (Weimar 1999) und Artige Kunst (Bochum, Rostock, Regensburg 2017). Dafür wollte ich nachvollziehen, wie die endgültige Bildauswahl zustandegekommen ist, also: Warum hängt da eben Protzen als teilweise einziger Vertreter von Autobahnmalerei und niemand sonst? Um diese Ausstellungen herum wollte ich die kunsthistorischen Diskurse der Zeit aufarbeiten: Wie ging und geht unser Fach mit dieser Kunst um? Spoiler: Wir haben uns noch nicht festgelegt, ob das jetzt überhaupt Kunst ist, und wenn ja, ob man sie zeigen sollte, und wenn ja, wie genau.
Diesen Teil der Diss hatten wir bisher nur theoretisch durchgesprochen. Jetzt in der ausführlichen Gliederung, wo ich mein Vorhaben mal ordentlich niedergeschrieben hatte, meinte der Herr Doktorvater für mich etwas überraschend: „Von den Kapiteln Frankfurt, Weimar und Bochum ist im Prinzip jedes eine eigene Diss.“ Und in dem Moment, in dem er das sagte, war mir das auch klar. „Bei wie vielen Seiten sind Sie denn jetzt? 70? Das ist in Ordnung. Rechnen Sie das mal hoch mit den noch ausstehenden Protzen-Kapiteln … und dann die nach 45 dazu. Dann sind Sie bei 600 Seiten. Das können Sie natürlich machen. Es ist nur die Frage, ob Sie das machen müssen.“ Äh. Ja. Hmpf.
Die Kapitel, die ich bisher habe, sind eher die kürzeren zum Herrn, die anderen werden garantiert länger. Daher diskutierten wir schließlich, wie ich mich um die Ausführlichkeit der Rezeptionsgeschichte rumdrücken kann, ohne meinen Punkt zu verlieren, den ich machen will, nämlich den, dass es auch noch andere Kandidaten für die Ausstellungen gegeben hätte, wir uns in unserem Fach aber seit 1974 auf ein Konvolut an Bildern beschränkt haben, das jetzt als beispielhafte NS-Kunst gilt, fertig, da müssen wir nicht mehr drüber nachdenken. Aber genau das mache ich jetzt eben. Mein Lieblingsbeispiel ist die Kalenberger Bauernfamilie von Adolf Wissel, die ich als eher als noch latent neusachlich denn als fiese Blut-und-Boden-Ideologie wahrnehme, aber das ist eben auch eins der Bilder, das überhaupt nicht mehr hinterfragt wird. Einmal Nazischeiß, immer Nazischeiß.
Wir sind jetzt so verblieben, dass ich erstmal den Protzen-Teil fertigstelle, was ja eh mein Plan gewesen ist, und mir währenddessen vermutlich eh klar wird, wie ich mit seiner Rezeption umgehe. Denn die ergibt sich schließlich auch aus seiner Wahrnehmung während der NS-Zeit, und die muss ich erstmal anständig aufarbeiten. Aber es klingt so, als wäre meine Arbeit gerade um 200 Seiten kürzer geworden. Yay?
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Nach dem Heimweg nur noch ermattet rumgelegen, einen riesigen Obstsalat gegessen, ein Kilo Eiswürfel in Softdrinks geschmissen, vor dem Ventilator eingeschlafen.