Tagebuch Donnerstag, 26. September 2019 – Schlechte Laune
Gemeinsam aufgewacht, das war noch schön. Danach wurde ich langsam zu Grumpy Gröner. Okay, erst gab’s noch guten Kaffee und die kurze Radfahrt in die Stabi, das war auch noch schön. Aber dann!
Ich hatte mir mal wieder ein bisschen NS-Lektüre in einen der kleinen Lesesäle zurücklegen lassen. Das Buch Deutschlands Autobahnen, Adolf Hitlers Straßen von Otto Reismann kannte ich schon, das hatte ich vor ungefähr zwei Jahren schon einmal in der Hand, die beiden Bände vom Bauen im Neuen Reich von Gerdy Troost (Erstauflage 1938, Neuauflage bzw. 2. Band 1942 und 1943) kannte ich noch nicht. Auch die Bedeutung von Troost war mir noch nicht so klar, ich kannte bisher nur ihren Ehemann, weil ich sehr oft in einem seiner Gebäude sitze.
Für das Reismann-Buch musste ich wieder den üblichen Zettel ausfüllen, auf dem mein Name steht, meine Bibliotheksnummer und der Grund für die Verwendung dieses Buches sowie meine brave Versicherung, den Kram nicht abzufotografieren und auf Insta zu stellen und generell nichts Böses mit ihm zu machen. Die beiden Troost-Bände konnte ich einfach so aus meinem Abholfach nehmen. Mir ist immer noch nicht klar, welche Quellentexte anscheinend aus dem Giftschrank kommen und welche nicht, aber ich vergesse auch immer, einfach mal danach zu fragen.
Ich blätterte zunächst bei Frau Troost rum und fand sehr viele gute Abbildungen von diversen Bauwerken im ganzen Reich, darunter natürlich auch ein paar Autobahnen bzw. Brücken, Rasthäuser, Straßenmeistereien, Tankstellen oder Entwürfe zu diesen. Die verglich ich mit den Werken von Protzen, weil mich interessiert, welche seiner Motive vielleicht auch in offiziellen Veröffentlichungen zu sehen waren – also: Hat er einfach irgendwelche Baustellen gemalt oder die, von denen er wusste, dass die von den Machthabern als beispielhaft angesehen wurden? Außerdem interessierte mich einfach, wie dokumentarisch sein Blick gewesen ist bzw. wie sehr er Motive verkünstelt hatte.
Und dann liest man solche Sätze: „Über Weichsel, Warthe und Rhein greifen die Reichsautobahnen hinüber in alte deutsche Kulturlandschaften, die von den Kriegsentscheidungen ins Reich zurückgeführt wurden. Der Gedanke, Tore nach Osten und Westen, Tore in die große deutsche Heimat öffnen, hat in den Entwürfen für die großen Strombrücken sinnvoll Gestalt gewonnen. Mit symbolischer Macht sprechen diese Brücken von der glückhaften Vollendung Deutschlands, dessen Lebensadern sie hinüberleiten in das heimgekehrte Land.“ Reismann zieht den Weg auf „uralten Verkehrsadern“ noch weiter: „… bis Indien und in den fernen Osten. Immer hat ja der nordische Mensch in der Geschichte den Weg nach Indien beschritten. Alexander der Große hat ihn begangen, zahlreiche Kulturdenkmäler der nordischen Rasse finden wir auf diesem Wege.“ Spätestens dann möchte man alles anzünden.
(Erstes Zitat: Gerdy Troost (Hrsg.): Das Bauen im Neuen Reich, Bd. 2, Bayreuth 1943, S. 6; zweites Zitat: Otto Reismann: Deutschlands Autobahnen, Adolf Hitlers Straßen, Bayreuth 1937, S. 12.)
Bei Troost finden sich gleich in der Einleitung Gedanken zum nationalsozialistischen Bauen. Die kenne ich natürlich, genau wie ich schon oft genug in anderen Quellen Überlegungen zur angeblich neuen deutschen Kunst gelesen habe, aber gestern erwischte mich mal wieder alles auf dem falschen Fuß. Ich muss dauernd an Bemerkungen aus der AfD-Ecke denken, Begriffe wie „völkisch“ wieder salonfähig zu machen, und an normalen Tagen rolle ich knurrend mit den Augen und denke, Fresse, Penner, aber gestern wollte ich einfach nur schreien und mit Dingen werfen. Es ist mir ein Rätsel, wie man derartige Texte irgendwie okay finden kann bzw. warum einige Arschlöcher mit dem Wissen der Funktionsweise des „Dritten Reichs“ noch irgendwas aus dieser Richtung wieder salonfähig machen möchten. Ja, mir ist schon klar, dass derartige Texte bei diesen Pissern (und Pisserinnen) ganz anders ankommen als bei mir, aber HERRGOTTFUCKINGDRECKNOCHMAL.
Ich möchte anscheinend immer noch rumschreien, weil mir keine Argumente gegen diese Idiotie mehr einfallen außer WAS IST BEI EUCH SCHIEFGELAUFEN? Nee, ist auch kein Argument.
Heute morgen im Radio einen Buchtipp mitbekommen, macht auch nichts besser.
Sehr unkonzentriert am Schreibtisch gesessen, eigentlich nur schlechte Laune gehabt. Die nächste Diss mach ich über van Gogh.
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Damit ihr nicht auch schlechte Laune kriegt. Vielleicht kann uns Kunst retten? Vermutlich nicht, aber: Sie macht alles erträglicher. Michael Chabon tritt von einem Posten der MacDowell Colony zurück und gibt uns zum Abschied etwas mit auf den Weg. Fettungen von mir.
„These feel like such dire times, times of violence and dislocation, schism, paranoia, and the earth-scorching politics of fear. Babies have iPads, the ice caps are melting, and your smart refrigerator is eavesdropping on your lovemaking (and, frankly, it’s not impressed).
Fascists, bigots, and guys who plan to name their sons Adolf wake up every day with a hateful leer on their faces and the Horst Wessel Song in their hearts—if you’re an ignorant, misogynist, xenophobic, racist against science, I guess times have never felt better. But for the vast rest of us—and please know, please believe, you and I greatly outnumber them—for the rest of us, things can seem so much worse than they did back in 2010, when a decent, thoughtful, level-headed, rational, and humane black man was living in the White House.
It has all seemed to fall apart so quickly. Looking around, it’s hard not to wonder who or what is to blame. I think it might be me. No, hear me out. […]
I stepped into this position nine years ago so full of fire and fervor and belief in the power of art, and hence the MacDowell Colony, to change the world. I meant for the better. I even came up with a catchy slogan for us that reflected this belief. It went like this: MacDowell makes a place in the world for artists, because art makes the world a better place. It turned out to be one of those catchy slogans that’s so catchy no one can actually remember it, and it never really caught on, but I meant every strangely forgettable word of it. […]
And yet here we are, nine years into my tenure, and not only is the world not a better place—it has, in so many ways, gotten so much worse. I mean, really, what other conclusion is there? I’m sorry. Don’t hate me. I tried.
Or, I wonder if it’s possible that I was wrong, that I’ve always been wrong, that art has no power at all over the world and its brutalities, over the minds that conceive them and the systems that institutionalize them. Those folks I cited earlier, the ones who offer their grim reassurances that the world has always sucked as much as it does now, in particular for women, the poor, the disenfranchised, the enslaved, the downtrodden, and the exploited, these folks might point out that art and misery have coexisted for the whole span of human existence on earth, and suggest that perhaps the time to abandon hope for the redemptive power of art is long overdue.
Maybe the world in its violent turning is too strong for art. […]
Or maybe the purpose of art, the blessing of art, has nothing to do with improvement, with amelioration, with making this heartbreaking world, this savage and dopey nation, a better place.
Maybe art just makes the whole depressing thing more bearable.“