Nachtrag: Was schön war, 8./9. Oktober 2019 – Franzbrötchen und Staatsarchiv

Im Nachlass von Herrn Protzen befindet sich ein Brief, der mich darauf hinwies, dass zwei seiner Bilder 1935 an Bord der Aviso „Grille“ gelandet waren. Das Schiff wurde in Hamburg bei Blohm + Voss gebaut, deren alte Unterlagen inzwischen im Hamburger Staatsarchiv liegen. Ich besorgte mir eine Erlaubnis der Firma, ein bisschen in den 113 Regalmetern wühlen zu dürfen, suchte drei Stücke aus und bat das Staatsarchiv um Aushebung zum 8. Oktober.

Sorry, Greta, aber ich bin geflogen, die Zeit in Hamburg wäre sonst zu knapp geworden. (Aka ich wollte nicht um 4 Uhr morgens im Zug sitzen.) Ich landete pünktlich, stieg ausnahmsweise nicht aus der Flughafen-S-Bahn schon in Ohlsdorf um, sondern erst an der Wandsbeker Chaussee, um von dort ins Hotel zu kommen, und rollkofferte an die Rezeption. Mein Zimmer war natürlich noch nicht fertig, ich stellte das Köfferchen ab und nahm die U-Bahn wieder zurück in Richtung Staatsarchiv. Schon am U-Bahn-Bahnhof musste dringend das erste Franzbrötchen erworben werden, das ich im Rucksack, wo schon Rechner und Notizbuch lagen, zum Archiv transportierte. Natürlich hatte ich Profi einen Euro in der Hosentasche für zu erwartende Schließfächer, genau den brauchte ich auch, schloss alles ein, nahm ein paar Bissen Franzbrötchen OMG so gut und ging in den brav ausgeschilderten Lesesaal.

Am 7. Oktober hatte ich noch überlegt, rufste beim Archiv an und erinnerst nochmal an die Aushebung, dann dachte ich aber, nee, Quatsch, bis jetzt hatten alle Archive immer alles für dich da, wenn du vorher danach gefragt hast, lass es. Ich dann so am 8. Oktober im Lesesaal mein Sprüchlein aufgesagt, wer ich bin und dass hier was für mich liegt.

Archivmitarbeiter so: „Öhm.“
Ich so: *überschlägt im Geist Flug- und Hotelkosten, die eigentlich so gar nicht drin wären im Finanzplan* „Und nu?“
Archivmitarbeiter: „Ich hol mal ne Kollegin.“
Ich so: *klappt Rechner auf, sucht Bestätigungsmail vom Archiv, holt ausgedruckte, ich bin ja nicht doof, Erlaubnis von Blohm + Voss für die Akteneinsicht aus der Sichthülle, TEAM SICHTHÜLLE*
Archivmitarbeiterin: „Ich hab hier nichts im System … aber okay, Sie haben ja unsere Mail … hm … dann müssen die das halt jetzt ausheben.“

Ich sah mich schon eine längere Mittagspause mit Franzbrötchen und Frust in der Archivgarderobe zubringen, aber sie meinte, ich solle mir schon mal einen Platz suchen, sie würde mir die Akten dann bringen. Ich fand eine Steckdose, setzte mich an den ansprechend großen Tisch mit der Artemide Tolomeo drauf (Hamburg hat’s anscheinend), klappte den Rechner auf … und da war der Mitarbeiter mit den Akten. Yeah! So kann ich arbeiten. Die übliche Erklärung ausgefüllt und dann die Akten strategisch auf dem Tisch verteilt.

Das Goodie „Frauen im Flugzeugbau 1944“ legte ich nach ganz unten, das hatte ich mir aus purem Interesse ausheben lassen und nicht, weil ich es für die Diss brauche – es war halt da und klang spannend. Wozu sind Archive sonst da? Die „Regelung von Einzelfragen bei Marineaufträgen“ legte ich darauf, da wusste ich nicht, ob was für mich dabei war, das war ein Versuchsballon. Und direkt vor mir lagen nun zwei Stapel mit jeweils mindestens 500 Seiten Papier und Durchschlagpapier: „Bau der Aviso ‚Grille‘, 1934–1938, 2 Bände“.

Ich begann zu blättern und notierte quasi von Anfang an Zeug: Wie waren die Vertragsbestimmungen, wie groß war das Schiff überhaupt, wie ausgestattet, bis wann sollte was fertig werden und so weiter. Fand ich alles spannend, weil ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wie man wohl ein Schiff baut. Ich merkte allerdings recht schnell, dass die vielen, vielen Seiten nicht chronologisch geordnet waren, weswegen ich aufhörte, Dinge zu notieren, weil die manchmal drei Seiten später wieder hinfällig waren – obwohl es schon lustig war zu lesen, wie die Marineleitung den Preis drücken konnte: „Naja, Sie haben ja auch schon angefangen, bauen Sie doch einfach zu diesem neuen Preis zuende, Bussi!“ So blätterte ich einfach. Und blätterte. Und blätterte some more. Und nach 400 Seiten stieß ich auf eine dreiseitige Verfügung, die mit „Ausstattung mit Bildern“ überschrieben war, grinste von einem Ohr zum anderen und machte die Beckerfaust. Wirklich. Ich ahne, dass Archivmitarbeiter*innen mich ziemlich seltsam finden, weil ich die quasi in jedem Archiv mache.

Ich erspare euch die für mich sehr aufschlussreichen Dinge, die ich in den drei Seiten fand und auch die, die ich im Schreiben zur Verfügung las und auch die, die ich noch einem weiteren Schreiben fand, das ernsthaft die allerletzten beiden Seiten des ersten Papierstapels waren. Die könnt ihr aber in aller Ausführlichkeit in der Diss lesen. Zwischen den ganzen Beckerfäusten tippte ich nämlich noch und machte um halb sechs Feierabend; den zweiten Stapel und den Rest wollte ich am nächsten Tag durchsehen.

Ab ins Hotel, Zimmer war fertig, kurz frischgemacht, sehr hirntot mit dem Mütterchen telefoniert, dann abgewürgt, weil ich los musste, die beiden Hamburger Lieblingsdamen treffen. Ich überlegte mir mit meinen 15 Jahren Hamburgleben eine Fahrtstrecke mit den Öffis zum Lokal, wo wir eine kleine Apfelschorle einnehmen wollten, dachte mir dann aber, ach guckste doch mal, ob die HVV-App eine andere Strecke vorschlägt. Schlug sie, und auch hier erspare ich euch Einzelheiten, aber ich habe mich ernsthaft in einer Stadt verlaufen, in der ich doch einige Zeit zugebracht habe und ich möchte nicht mehr darüber reden. (Weinende Lachsmileys in der WhatsApp-Gruppe der Damen, denen ich meine Verspätung ankündigte.)

Dann saßen wir zu dritt in einem sehr netten Laden, hatten gutes Essen, die Damen bestellten unter meinen Blicken voller Verachtung, und ich meine VOLLER VERACHTUNG, zwei KLEINE Helle, ich ein großes, später gab’s noch Cocktails, dann landeten wir auf der Couch einer der Damen und es gab Whisky, zwei von uns mussten am nächsten Morgen arbeiten, aber egal, so jung kommen wir nie wieder zusammen, schenk nochmal nach, büdde.

Das war schön. Das war richtig schön, scheiß auf Flug- und Hotelkosten. (In diesem Satz versteckt sich eine Moral fürs ganze Leben.)

Den Wecker am nächsten Morgen konnte ich gar nicht richtig hassen, weil ich mich so aufs Archiv freute. Köfferchen gepackt und im Hotel gelassen, gegenüber vom Hotel kurz die Apotheke für Kopfschmerztabletten aufgesucht (hier wäre noch eine Moral fürs Leben), an einer anderen U-Bahn-Station Franzbrötchen gekauft WEIL SIE HALT DA SIND, HIER SIND ÃœBERALL FRANZBRÖTCHEN, DIE SCHMECKEN NIRGENDS SO GUT WIE HIER DON’T @ ME, Rucksack ins Schließfach, ab in den Lesesaal.

Ich blätterte den ganzen ersten Stapel nochmal durch und korrigierte ein paar flüchtige Formulierungen vom Vortag, dann blätterte ich den zweiten Stapel durch, aber in dem fand ich zu meinem Maler nichts mehr und auch nicht zu anderen. Dafür aber irre viele Rechnungen, die anscheinend noch auf den nicht eben günstigen Grundpreis des Schiffchens draufkamen. Der Grundpreis waren ungefähr sechs Autobahnkilometer, wie ich inzwischen durch ein anderes Kapitel in der Diss weiß. Die Rechnungen gingen um Spinde, Küchenausstattungen, Hoheitszeichen, die angebracht werden mussten, Hoheitszeichen, die noch vergoldet werden mussten, Abortpapier (500 Rollen zu 44 RM, Juli 1936) oder auch: „10 Stück Führerbilder in den Decks nach Angabe des Kommandos“, deren Anbringung mit 95,26 RM berechnet wurde. (Quelle: Staatsarchiv Hamburg, 621-1/72_884, Bau der Aviso Grille 1934–1938, 2 Bände, hier Bd. 2, Rechnung von Blohm & Voss an das Oberkommando der Kriegsmarine, 37 Seiten, hier S. 29, 31.5.1937. Auf meine Frage an den Lesesaaldienst, wie man das Staatsarchiv Hamburg denn abkürzen dürfe für die Quellenangaben, kam die sehr hanseatische Antwort: „Wir möchten eigentlich nicht, dass das Archiv abgekürzt wird.“)

Die anderen beiden Archivalien brachten mir nichts, auch nicht wirklich Unterhaltung, denn irgendwie machte es so gar keinen Spaß, über Frauenarbeit im November 1944 im ausgebombten Hamburg zu lesen. Um 16 Uhr war ich mit allem durch und vor allem sehr zufrieden über meine Ausbeute, klappte den Rechner zu und schaffte sogar noch ein Treffen mit Kai, dem Ex-Kerl, in Ohlsdorf. „Wir hätten auch das Café direkt über dem Krematorium nehmen können!“ (Nein, das ist nicht der Grund, warum er der Ex-Kerl ist. Eher der, warum er überhaupt der Kerl wurde.)

Ereignisloser, sehr leerer Flug zurück nach München – „Wir haben heute nur 50 Gäste an Bord, wir müssen Sie etwas umverteilen“ –, wie immer die nervige S-Bahn-Fahrt zurück, die fast genauso lang dauert wie der Flug von Hamburg aus, aber beides ist inzwischen dank der Noise-Cancelling-Kopfhörer deutlich besser erträglich.

Erst am Flughafen in Hamburg bekam ich den Terroranschlag in Halle mit und mir fiel nichts Sinnvolleres ein, als tröstende Musik zu twittern.